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Mit funkelnden Sternen übersät, spannte der Winterhimmel sein dunkelblaues Zelt über unser einsames Lager, und 28 Grad Kälte prophezeiten einen klaren Tag. Am 4. Februar schwebte denn auch kein Wölkchen über dem Gebirge, und das von Menschen und Göttern verlassene Hochland, das eben noch unter der weißen Decke des Winters begraben lag, wurde endlich wieder von blendendem Sonnenlicht bestrahlt. Eine Trauerbotschaft wurde mir am Morgen gebracht; ein Pferd und ein Maulesel lagen tot vor dem Zelt. Mit den letzten 17 Tieren setzten wir unsern Weg nach Osten fort, an dem unregelmäßigen nördlichen Ufer des Schemen-tso hinziehend. Die Schneemenge nahm ab, und beim Lager 320 war der Kiesboden beinah schneefrei. Die Aussicht über den See war großartig. Hauptmann Rawlings Karte dieser Gegend ist mit großer Genauigkeit ausgeführt. Der See liegt 4958 Meter hoch.
Auch am 5. Februar lagerten wir am Ufer des großen Sees, dessen Buchten und Landspitzen wir getreulich folgten. Noch ein Maulesel starb auf dem Marsch. Obgleich wir alles irgendwie Entbehrliche schon verbrannt hatten, wurden die Lasten den überlebenden Tieren doch zu schwer. Ein großer, starker Maulesel marschiert stets an der Spitze und folgt treu Gulam, der den Zug führt; er trägt mindestens zwei gewöhnliche Lasten und ist dabei doch fett und kräftig. Von Menschen keine Spur. An einer Felswand lärmte eine Schar Dohlen. Im Lager wurde der Proviant erneut inspiziert, und ich beschloß, uns dreier schweren Reissäcke zu entledigen. Mit geröstetem Mehl und Wasser vermengt, sollte der Reis den Tieren während der nächstfolgenden Tage gegeben werden. Von meinem eigenen Proviant waren nur noch zwei Konservendosen da, nebst etwas Kompott und Zwieback. Fleisch hatten wir seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Den ganzen Tag über herrschte Sturm, und die Sonne war wieder verschwunden.
Am 6. Februar gingen wir an einer sehr wasserreichen Quelle vorbei, deren 7,9 Grad warmes Wasser sich in den See ergießt. Dort hatten kürzlich Schafherden getrunken, und vom Ufer aus zogen sich wieder Reihen von Steinhaufen mit Antilopenfallen landeinwärts. Jetzt zeigte sich kein anderes Wild als ein einsamer Kiang. Ein Maulesel starb; auch Abdul Kerims gelbes Pferd brach auf dem Marsch zusammen. Nur 14 Tiere erreichten heute noch das Lager, und von ihnen war mein kleiner Ladakischimmel am kraftlosesten; er stolperte und fiel, so daß ich einen Salto mortale über seinen Kopf weg machte.
Am Tag darauf legten wir nur eine kurze Strecke zurück, ließen den See und sein unfruchtbares Ufer hinter uns und schlugen die Zelte zwischen üppigem Gras auf. Das Wetter war herrlich, und als wir um ein Uhr 10 Grad Kälte hatten, war uns zumute, als sei der Frühling gekommen, Alle Tiere legten sich gleich nieder, um sich auszuruhen und sich im Sonnenschein zu wärmen. Nur mein kleiner Ladaki begann sofort zu grasen; er wollte nicht sterben, er wollte mich bis ans Ende begleiten. Wildesel und Antilopen weideten auf der Steppe, und Hasen kamen in Menge vor. Da wurde ich durch die Nachricht alarmiert, daß man im Norden in einiger Entfernung drei Männer gesehen habe, und der Karawan-baschi bat mich, herauszukommen und sie mit dem Fernglas zu beobachten. Sie waren auf dem Weg nach unserem Lager, aber ich hatte noch reichlich Zeit zum Anlegen meiner Verkleidung. Lange betrachtete ich sie, bis sie sich als drei wilde Yaks entpuppten, die durch die Luftspiegelung verlängert worden waren. Noch brauchten wir uns also vor Menschen nicht zu ängstigen, aber vielleicht waren diese Yaks ein gutes Omen!
Meinen kleinen Schimmel hatte ich zum letztenmal geritten! Als wir am 8. Februar, nach wieder 28,3 Grad Kälte, nach Ostsüdosten weiterzogen, mußte er frei mit der Karawane gehen, stürzte aber auch ohne Reiter. Statt seiner ritt ich einen Grauschimmel aus Tikse. Wir konnten kaum 8 Kilometer zurücklegen, aber der Tag war trotzdem reich an Ereignissen. Jenseits eines flachen Hügels stand eine Pantholopsantilope, die nicht entfloh, obgleich wir ihr ganz nahe waren. Wir merkten bald, daß sie am Boden festsaß und sich abmühte, loszukommen. Die Hunde stürmten auf sie los, aber zwei Männer eilten ihnen nach und hielten sie zurück. Die Antilope hatte sich in einer Schlinge gefangen, die auf dem Antilopenpfad ausgelegt war, und auf diesem zeigten sich auch die frischen Fußspuren zweier Männer. Wir befanden uns augenscheinlich in der Nähe einiger Winterjäger, die uns vielleicht schon beobachtet hatten! Vielleicht hatten sie auch mich, den einzigen Reiter und den einzigen in europäischer Kleidung, schon erblickt! Vielleicht war es zum Anlegen der Verkleidung schon zu spät? Dann wäre mein ganzer Plan gescheitert und der ganze Winter unnütz vergeudet gewesen!
Doch wir hatten wenigstens frisches Fleisch. Untersuchen wir die schlau konstruierte Falle, während das Tier noch darin sitzt. In einem Ring von fest zusammengedrehten Pflanzenfasern sind Knochenblättchen von Antilopenrippen so gleichmäßig eingefügt, daß sie einen Trichter bilden, dessen Spitze sich unten in der Grube befindet. Vor einer Reihe kleiner Steinhaufen scheuend, nähert sich die Antilope der Falle und tritt, wenn sie Pech hat, mitten in den Trichter, wobei die Blättchen nach geben, aber unerbittlichen Widerstand leisten, sobald das Tier den Fuß aus dem Trichter herauszuziehen versucht. Denn um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, ist die Falle verankert. Zu diesem Zweck ist am Boden der Grube ein fingerdicker Strick befestigt, die Grube aber selber mit Wasser gefüllt, so daß man nach dem Gefrieren einen steinharten Ankergrund hat, aus dem der Strick sich nicht losreißen läßt. Das obere Ende des Strickes bildet oberhalb des Fasernringes eine Schlinge, die sich beim ersten Versuch des Tieres, den Fuß zu heben, zuzieht und den Trichter, worin der Fuß steckt, nicht durchläßt. Je länger das geängstete Tier umherhüpft, desto fester umschließt die gedrehte Schlinge seinen Fuß.
Das gefangene Tier wurde zerlegt, die Hunde durften sich an den Eingeweiden satt fressen, und das erhaltene Fleisch machte vier regelrechte Manneslasten aus. Dann zogen wir weiter. In einer Talmündung im Süden sahen wir eine Schafhürde und zwei schwarze Punkte, die wir für Steine hielten. Hinter einem mit Gras bewachsenen Hügel fanden wir einen Süßwassertümpel, eine viel zu willkommene Entdeckung, um nicht sofort das Lager in seiner Nähe aufzuschlagen. Es dauerte denn auch nicht lange, bis die Ladakis um die Feuer saßen und sich Stücke des guten, lange ersehnten Fleisches brieten.
Nun, da wir sichtlich Menschen in unmittelbarer Nähe hatten, schien es mir an der Zeit, meinen Leuten Verhaltungsbefehle zu erteilen. Alle wurden nach meinem Zelt gerufen. Ich erklärte ihnen, daß es uns nur durch List und Vorsicht gelingen würde, das verbotene Land zu bereisen, und daß ich mir die großen Entbehrungen, deren Zeugen sie bereits gewesen, nur auferlegt hätte, um Gegenden sehen zu können, in denen noch nie ein Sahib gewesen sei. Solle der Plan glücken, so müsse jeder seine Pflicht tun und seine Rolle gut spielen. Jedesmal, wenn die Tibeter die gewöhnlichen Fragen »Woher« und »Wohin« stellten, müsse ihnen geantwortet werden, daß wir alle ohne Ausnahme Ladakis seien und im Dienst eines Kaufmanns Gulam Rasul ständen, der uns nach Tschang-tang geschickt habe, um Erkundigungen einzuziehen, wieviel Schafwolle sich im nächsten Sommer bei den Nomaden aufkaufen lasse. Abdul Kerim sei der Führer und Befehlshaber und habe alle unsere geschäftlichen Angelegenheiten zu ordnen. Er erhielt daher 100 Rupien zu Auslagen und mußte abends, wenn niemand spionieren konnte, mit mir abrechnen. Ich selber sei einer seiner Diener, ein Mohammedaner namens – – – Adurrahman, schlug der Karawan-baschi vor – nein, Hadschi Baba klang, meinem Geschmack nach, besser. Also, wenn wir uns unter Tibetern befänden, dürften sie sich nie vergessen und mich Sahib nennen, immer nur Hadschi Baba! Alle begriffen die Lage und versprachen, ihr Bestes zu tun.
Eine Weile darauf kam Lobsang gelaufen, um mir zu melden, die beiden schwarzen Steine seien bestimmt Zelte. Ich begab mich ins Freie und beobachtete sie durch das Fernglas; richtig, aus dem einen stieg Rauch auf, Menschen und Tiere aber waren nicht sichtbar. Sofort befahl ich Abdul Kerim, Abdul Rasak und Kutus hinzugehen, die Antilope zu bezahlen, alles, was man uns ablassen könne, zu kaufen und Erkundigungen einzuziehen. Nach einer Weile kamen sie aber wieder zurück, um zu fragen, ob es nicht klüger sei, die Zelte zu vermeiden und auf dem Weg nach Osten weilerzuziehen, um so mehr als die Bewohner ja Räuber sein könnten. Nein, diese Männer hatten uns gesehen, sie konnten darüber nach Rudok berichten, und dann saßen wir fest. Daher war es doch besser, mit ihnen in freundschaftlichen Verkehr zu treten und sie in Sicherheit einzuwiegen. » Bismillah«, riefen die drei und zogen ab, während die andern in lebhafter Unterhaltung am Feuer saßen und ihre Ansichten über die Tagesereignisse und die Zukunftsaussichten austauschten. Seit wir das letzte Dorf in Ladak verlassen hatten, waren gerade 64 Tage vergangen! Bei der vorigen Durchquerung hatte die Zeit der Einsamkeit 81 Tage betragen.
Nach drei Stunden kamen meine Leute wieder. Die beiden Zelte enthielten neun Bewohner, zwei Männer, zwei Frauen, drei Mädchen und zwei Buben. Der älteste Mann hieß Purung Kungga und besaß außer 150 Schafen noch vier Hunde, weiter aber keine Tiere. Wenn sie von Jildan hierherzögen, würden ihre Sachen und ihre Zelte von den Schafen getragen. Vor zwei Monaten seien sie angelangt und gedächten, noch anderthalb Monate hier zu bleiben. Gerade gestern hätten sie ihre Schlingen auf dem Antilopenpfad untersucht, als sie unsere Karawane erblickt hätten und aus Furcht fortgelaufen seien. Sie hätten es für selbstverständlich gehalten, daß nur Räuber in diesen Gegenden, die jenseits der Grenzen von Sitte und Redlichkeit lägen, umherziehen könnten! Die Antilope habe also höchstens eine Stunde in der Schlinge gesessen. Abdul Kerim hatte sie mit drei Rupien bezahlt, ein Schaf mit drei Rupien und Milch und Butter mit einer Rupie. Wir könnten morgen früh mehr Milch erhalten, müßten sie aber selbst holen, denn nach unsern Zelten getrauten sie sich nicht hin. Die Antilope hätten wir gern ohne Vergütung behalten können; wir seien ja Reisende und als solche berechtigt zu nehmen, was wir fänden. Auf ihre Frage, was für Leute wir seien, habe Abdul Kerim die Geschichte hergesagt, die er eben von mir gelernt. Die Gegend um das Lager 324 herum heiße Riotschung. In dem einen Zelt lägen Felle und Fleisch von neun Antilopen. Die Leute lebten ausschließlich von dem in den Schlingen gefangenen Wild.
Soweit war alles gut abgelaufen. Anstatt für 75 Tage hatten wir nur für 21 Proviant gehabt; anstatt einen Richtweg nach Osten zu finden, hatten wir auf den Kara-korum-Paß hinaufgemußt; auf dem ganzen Weg hatten uns heulende Stürme, schneidende Kälte und furchtbare Schneemassen verfolgt, und dennoch war es uns geglückt, wieder zu Menschen zu gelangen! Diese ersten Menschen waren wie eine Klippe im Weltmeer; jetzt aber mußten wir wieder hinaus auf die trügerischen Wellen. Jämmerliche 10 Kilometer legten wir heute in einem langsam ansteigenden, vereisten Tale zurück. Klein-Puppy wurde heute losgelassen und mußte eine Strecke allein laufen. Aber er wurde dessen bald überdrüssig, legte sich ruhig hin und wartete, bis Kuntschuk ihn wieder holte.
10. Februar. Der Talgrund ist voller Eis, das oft überschritten werden muß, nachdem es erst mit Sand bestreut worden ist; die Eisflächen breiten sich in einem Labyrinth von Lehmhügeln aus. In einer Erweiterung auf der linken Seite zeigen sich drei Steinhütten und einige Manihaufen; hier ist die Goldfundstelle, die Rawling Rungma-tok nennt und die, nach Aussage der gestrigen Jäger, Gätsa-rung heißt. Nur im Sommer kommen Goldgräber hierher. Das heutige Lager, Nr. 326, war angenehm: sandiger Boden, reichlich Brennmaterial und ein offener Quellbach. Es war schön, wieder rieselndes Wasser rauschen zu hören – ein Zeichen des herannahenden Frühlings. Im Osten und Südosten erhebt sich ein Kranz mächtiger Gebirge. Wir müssen über sie hinüber! Solange das Terrain flach ist und wir Gras finden, halten sich unsere Tiere, aber hohe Pässe können sie nicht mehr bestehen. Mein weißer Ladaki erholt sich wieder; die Leute sind angewiesen, ihn mit größter Sorgfalt zu behandeln.
11. Februar. Wir stiegen im Tal aufwärts. Die Schneemenge nahm wieder zu. An einer Stelle sahen wir die frischen Fußspuren dreier Männer. Um vor dem Wind geschützt zu sein, lagerten wir hinter einem vorspringenden Felsen, mußten aber erst über das Eisband der Talrinne hinüber, auf dem ganz kürzlich ein Sandweg gestreut worden war. Es war klar, daß wir jeden Augenblick auf Leute stoßen konnten, ja vielleicht gerade auf dem Marsch von einem Lager zum andern. Daher zog ich nun mein neues Ladakigewand mit der Leibbinde an. Den weißen Turban wollte ich stets bei mir haben, um ihn aufzusetzen, wenn wir Tibeter träfen. Der Tschapan sah freilich verdächtig rein aus, aber Gulam verpflichtete sich, ihn mit Ruß und Fett einzuschmutzen. Meine weiche Lederjoppe wurde geopfert und zu Stiefelsohlen zerschnitten. Von diesem Lager an mußten mir Lobsang und Kutus allabendlich eine Lektion im Tibetischen geben, und ich trug alle neuen Worte in ein Wörterbuch ein, das nach und nach einen bedeutenden Umfang annahm. Damit wurden jetzt, nachdem mir alle Lektüre ausgegangen war, täglich zwei Stunden verbracht. Ich übte mich besonders in den Antworten, die ich geben mußte, wenn man mit Hadschi Baba ein Kreuzverhör anstellen sollte!
Am 12. Februar schritten wir durch die Schneewehen das Tal hinauf, wo sich an zwei Stellen kleine elegante Goaantilopen zeigten. Der Lagerplatz hatte aber so magere Weide, daß alle unsere Tiere während der Nacht nach dem vorigen Lager zurückliefen! Dadurch ging uns ein Tag verloren. Beim Warten aber wird die Zeit unerträglich lang. Ich steche in meinem grauen Tschapan noch viel zu sehr gegen meine zerlumpten Genossen ab, aber sowie sich mir Gelegenheit bietet, reibe ich Ruß und Fett in das Zeug und schneide auch hier und dort ein Loch hinein. Wenn er lange so behandelt wird, wird er wohl schließlich ebenso schmutzig aussehen wie die der anderen! Jetzt übe ich mich auch im Unterlassen des Hände- und Gesichtwaschens, aber es gelingt mir nicht, ebenso schmutzig zu werden wie meine Diener! Bei ihnen scheint der Schmutz zur Haut zu gehören und überhaupt nicht zu verschwinden; unter den Nägeln haben sie ganze Kartoffeläcker. Mein Ziel war es ja, ihnen so schnell wie möglich ähnlich zu werden – dann würde ich der Aufmerksamkeit der Tibeter schon entgehen.
Am 14. Februar 30,5 Grad Kälte! Wieder näherten wir uns unserem Ziel um nur 10 Kilometer und dem Frühling um nur einen Tag. Langsam geht es, aber man muß froh sein, solange es überhaupt noch geht. Das Lager 329 liegt endlich in dem Tal, das zum Grenzpaß hinaufführt, nach dessen Höhen wir seit mehreren Tagen hinaufsteigen. Ein Maulesel versagte und wurde von seiner Last befreit. Noch gab es ein wenig Gras, zu dem alle Tiere hinliefen, nur nicht mein kleiner Ladaki, der mit hängendem Kopf und zwei Eiszapfen unter den Augen vor meinem Zelt stand (Abb. 316). Ich saß mehrere Stunden bei ihm, liebkoste und streichelte ihn und versuchte es, ihn mit Reis- und Mehlklößen vollzustopfen. Da wurde er wieder munter und ging mit langsamen Schritten zu seinen Kameraden.
316. Mein sterbender kleiner Ladaki.
Skizze des Verfassers.
15. Februar. 30,3 Grad kalt. Ein böser, anstrengender Tag. Durch scharfkantigen Schutt, Eis und Schnee ging es talaufwärts. Mein Schimmel führte aus eigenem Antrieb den Zug an; ich ritt als letzter. Lange blieben wir beisammen und stiegen Schritt für Schritt nach diesem mühsam zu erklimmenden Paß hinauf. Dann aber blieb eines, darauf ein zweites und schließlich blieben mehrere Tiere zurück. Unter ihnen mein Schimmel. Ich machte bei ihm halt und flüsterte ihm in unverfälschtem Schwedisch ins Ohr: »Verliere den Mut nicht, spanne deine Kraft aufs äußerste an, steig langsam nach dem Paß hinauf, nachher geht es mehrere Tage wieder abwärts nach schönen, üppigen Weiden hinunter!« Er hob nur den Kopf, spitzte die Ohren und sah mir und Kutus nach, als wir paßaufwärts weiter schritten. Nur zwei Maulesel folgten meinem Pferd und blieben stehen, wenn es haltmachte, was alle 20 Schritt geschah.
Endlich machten wir die letzten Schritte nach dem flachen Paß hinauf, dessen Höhe die kolossale Ziffer von 5655 Meter erreichte! Hier warteten wir lange. Der große schwarze Maulesel steigt über die schneeweiße Paßlinie empor, ein zweiter und ein dritter tauchen über ihr auf, neun Lasttiere ziehen an mir vorbei, die also gerettet sind, und mein grauer Tikse war Nr. 10. Abdul Kerim meldet, daß vier Tiere vor Erschöpfung zu Ende seien. Ich befahl, sie Schritt für Schritt heraufzuführen, wenn es darüber auch Nacht werden sollte, und er stieg wieder zu ihnen hinunter. Eine Weile darauf erschienen Tubges und Abdullah, die zwei Lasten heraufschleppten. Eines der vier Tiere war also bereits verendet.
Nach Westnordwest hin, also in der Richtung, aus der wir kamen, war die Aussicht prachtvoll, ein Meer wilder, roter Riesenwellen, die in zügelloser Wut schäumten – der Schaum war der Schnee, der ihre Kämme krönte und sich in Streifen an ihren Seiten herunterzog. In den letzten Tagen waren wir Schiefer, Porphyr, rotem und grauem Granit begegnet. Die Gegend ist absolut unfruchtbar; wir müssen versuchen, das erste Gras in dem abwärtsführenden Tal zu erreichen, aber das Tal liegt voller Schnee, und der Zug schreitet langsam und mühsam durch die Schneewehen. Ich gehe, wie alle andern, zu Fuß; jeder ist mit einer Bürde beladen, um den Tieren die Last zu erleichtern; man spricht nicht, man stampft und balanciert in dem Weg, den der Führer ausgesucht hat. Das Tal schrumpft zu einem Hohlweg zusammen; an der Stelle, wo das erste Yakmoos steht, werfen wir unsere Bürden hin. Ein trauriges Lager in dem engen, finstern Tal! Die letzten Tiere mußten gekoppelt stehenbleiben und mit einer Mischung von pulverisiertem Yakdung, Moos, gedörrtem Mehl und Reis gefüttert werden.
In der Dunkelheit kamen die anderen, einen Maulesel führend, im Lager an; drei Tiere hatte der Paß uns also genommen, und eines von ihnen war mein kleiner Ladakischimmel! Er hatte sich bis auf die höchste Schwelle des Passes, wo ich vergeblich auf ihn gewartet hatte, hinaufgearbeitet, dort aber sich zum Sterben niedergelegt. Er hatte mich auf den Tag anderthalb Jahre treu und gut getragen, von Anfang an nie auf einem Lagerplatz gefehlt, und nun erst, da er, der letzte der Veteranen, fort war, fühlte ich mich recht einsam. Während der ganzen Reise hatte er sich fast nie auf so großer Höhe befunden, wie auf der Stelle, wo er starb; auf dem Sattel des Passes konnten Winterstürme und Sommersonne seine Gebeine bleichen. Öde und leer war es diesen Abend in der Karawane; mir war ein treuer Freund gestorben. Jetzt war die braune Puppy mein einziger Trost; sie war schon von Srinagar an bei mir, und ihr Söhnlein war das jüngste, sorgloseste Mitglied unserer mit der Vernichtung kämpfenden Gesellschaft.
Zwei der Maulesel waren zwar noch über den Paß hinübergekommen, starben aber im Tal. Wenn uns noch ein solcher Paß den Weg versperrte, so mußte unsere Karawane umkommen! Die Lasten waren jetzt viel zu schwer für die noch lebenden Tiere. Wiederum war eine gründliche Aussonderung notwendig! Mein Ulster und die meisten meiner europäischen Kleidungsstücke wurden verbrannt. Filzmatten, Werkzeuge, Küchengeschirr und Reservehufeisen für die Pferde wurden kassiert. Auch meine kleine Stockholmer Reisetasche verzehrten nun die Flammen, die ganze Apotheke, außer der Chininbüchse, wurde ihnen geopfert; mein europäisches Toilettenetui und sogar die Rasiermesser wanderten denselben Weg; nur ein kleines Stück Seife wurde noch behalten! Alle europäischen Sachen, die sich irgendwie entbehren ließen, mußten ins Feuer. Aus Frödings Gedichten riß ich die Blätter heraus, deren Inhalt ich noch nicht auswendig wußte; der Rest strandete in den Flammen. Die noch vorhandenen Zündhölzer wurden unter die Leute verteilt; ich selber behielt 24 Schachteln, die wohl bis zu der Zeit reichen würden, in der wir, um unser Inkognito zu schützen, nichts anderes als ein Stahlfeuerzeug benutzen durften.
Unheimlich kalt breitete die Nacht ihre Schwingen über das stille Tal, wo unser einsames Lager, ein Bild der Verödung, zwischen schwarzen Felswänden und weißen Schneewehen verschwand, und über ihm funkelten die ewigen Sterne wie brennende Kerzen um einen offenen Sarg.
Während den Tieren die bedeutend erleichterten Lasten aufgeladen wurden, brach ich in Begleitung zweier Männer zu Fuß auf. Der eine, Kutus, ging neben mir, und ich stützte mich beim Durchwaten der Schneewehen auf seine Schulter. Es wehte rasend, der Treibschnee tanzte in spiralförmigen Wirbeln und flog von allen Kämmen und Vorsprüngen in dichten Massen herunter, wie weiße, im Winde flatternde Tücher. Nachdem wir nur 5 Kilometer weit gewandert waren, lagerten wir schon da, wo wir das erste Gras fanden. Schnee wurde aufgetaut, denn die Tiere hatten lange nicht getrunken. Jetzt war es schon leichter, ihnen auf diese Weise Wasser zu verschaffen, da ihrer ja nur noch elf waren.
Mit unsicheren Schritten setzten wir am 17. und 18. Februar unsern Weg nach Ostsüdosten fort, bald durch Täler, bald über offenes Gelände und überall durch tiefen, mühsam zu durchwatenden Schnee. Aber das Lager 333 war kaum aufgeschlagen (Abb. 312, 313), als uns auch schon ein arger Sturm überfiel. Der Himmel war eben noch klar gewesen, aber im Nu verwischten brandgelbe Staubwolken, die aus Südwesten heransausten, seine reine blaue Farbe. Ich saß gerade zeichnend im Schutz meines Zeltes, als mir auf einmal der ganze Inhalt meines Kohlenbeckens weggeweht wurde. Die Männer hatten auch einen Haufen Dung von Wildeseln gesammelt, der ebenso schnell verschwand; wir sahen die runden kleinen Äpfel so lustig den Abhang hinaustanzen, als wollten sie ein Wettklettern anstellen. Eine Antilopenherde eilte an unserm Lager vorüber; das glatte Fell der Tiere glänzte je nach der Lage und Beleuchtung der Haare wie Samt und Seide. Wieder dröhnen uns die Ohren von diesen ewigen Stürmen. Ich eile unter Dach und höre nur dann und wann einen Aufschrei, wenn eins der Leutezelte umzufallen droht, oder den hellen Klang aufeinanderschlagenden Eisens, wenn die Zeltpflöcke wieder in die Erde gehämmert werden, oder einen klappernden, schnell verhallenden Ton, wenn der Wind mit meiner Waschschüssel abfährt und sie an den Fuß des Gebirges hinaufträgt. Man glaubt an Bord eines zerbrechlichen Schiffleins zu sein, dessen Segel in den knallenden Peitschenschlägen des Windes flattert und klatscht; die Bergvorsprünge, die noch schwach erkennbar aus dem Nebel hervortreten, sind gefährliche, drohende Klippen, an denen wir im nächsten Augenblick scheitern werden. Aber groß und majestätisch ist ein solcher Sturm, wenn er in ungezügelter Wut über die Erde hinfährt!