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Gleich bei meiner Ankunft in Chaleb sagte ich dem alten Gova, der den hoffnungslos undankbaren Auftrag hatte, meine Schritte zu überwachen, daß ich jetzt über Singi-kabab, über die Indusquelle ziehen würde.
»Wenn ihr euch dorthin begebt, Bombo,« antwortete er, »so schicke ich augenblicklich einen Kurier an die Garpuns, die beiden Häuptlinge in Gartok.«
»Ich glaube nicht, daß die Garpuns etwas dagegen haben, daß ich einen nördlicheren Weg einschlage.«
»O doch, vor fünf Tagen haben die Garpuns den Befehl aus Lhasa erhalten, genau aufzupassen, daß ihr keinen anderen Weg zieht als die große Heerstraße nach Gartok! Die Garpuns schickten sofort Kuriere nach zwölf verschiedenen Orten, Parka, Misser, Purang, Singtod und anderen, und meldeten, daß euch nicht erlaubt sei, Seitenwege zu benutzen. Wenn dieser Brief nicht gekommen wäre, hättet ihr gern nordwärts ziehen können; jetzt aber kann ich es meines Kopfes wegen nicht erlauben.«
»Was gedenkt ihr zu tun, wenn ich eines Nachts einfach verschwinde? Ich kann in Tartschen Yaks kaufen und bin dann nicht mehr auf die von euch gemieteten angewiesen.«
»Ja freilich, in Tartschen lebt ein Mann, der 60 Yaks hat, und sobald der Silbergeld sieht, verkauft er sie. Aber ich benachrichtige sofort die Garpuns, und sie werden euch Leute nachschicken und euch zwingen, wieder umzukehren. Der Yakkauf wäre daher unnötiges Geldwegwerfen. Wenn ihr aber die Hauptmasse eurer Karawane der großen Straße folgen laßt und selbst einen Abstecher ein paar Tage nordwärts nach Singi-kabab macht und euch dann wieder mit der Karawane vereinigt, werde ich euch keine Hindernisse in den Weg legen. Aber ihr tut es auf eure eigene Gefahr, und werdet ganz gewiß angehalten, ehe ihr nach der Indusquelle kommt!«
Ebenso erstaunt wie erfreut über diesen plötzlichen Umschlag im Verhalten des Govas, verabredete ich mit Robert, daß er die Hauptkarawane in ganz kurzen Tagemärschen nach Gartok führen solle, während ich mich so schnell als möglich nach der Indusquelle begeben würde. Ich nahm nur mit, was in einem kleinen ledernen Handkoffer Platz hatte, und ließ mich nur von fünf Leuten, darunter Rabsang als Dolmetscher und Adul als Koch, unseren sechs eigenen Tieren und drei Hunden, von denen einer, ein neuangeschaffter, uns aber am ersten Tag schon fortlief, begleiten. Ich hatte Roberts kleines Zelt; unser Arsenal bestand aus zwei Flinten und einem Revolver, weil Räuber die Gegend sehr unsicher machen sollten. Einen Führer konnte ich nicht auftreiben. Aber auf dem Weg nach Diri-pu, wo ich wieder lagerte, stieß ich auf einen älteren Mann aus Tok-dschalung, der den Kailas dreizehnmal umwandern wollte und der mir mancherlei wertvolle Auskunft erteilte. Er ließ sich aber um keinen Preis bewegen, uns weiter zu begleiten.
Am 8. setzten wir unseren Weg durch das Tal fort, das von Diri-pu nach Nordnordost geht und nach dem Tseti-la hinaufführt. Der in viele Arme gespaltene Fluß war über Nacht mit einer dünnen Eishaut überfroren, die, wo das Wasser sich verlaufen hatte, wie Glas aussah. Sie verschwand jedoch bald in der neuen Tagesflut. Das Tal ist breit, und der Weg trägt Spuren lebhaften Verkehrs, obgleich uns kein Mensch begegnete. Die Murmeltiere pfiffen vor ihren Höhlen, für sie ist der Sommer auch bald zu Ende. Von vielen Punkten aus sieht man den Kang-rinpotsche emporragen; an solchen Stellen haben die von Norden kommenden Pilger stets Steinmale angehäuft. Überall herrscht Granit vor, gelegentlich kommt aber auch kristallinischer Schiefer vor. Wir folgen den frischen Spuren dreier Reiter. Die Steigung nimmt zu, und die Landschaft wird immer hochalpiner. Zwischen gewaltigen Geröllkegeln mit rieselnden Schmelzbächen steigen wir auf abschüssigem Pfade nach dem Paß hinauf, dessen Höhe 5628 Meter beträgt. Sein Plateau ist außerordentlich flach. Auf seiner Nordseite wurde das Lager Nr. 234 aufgeschlagen.
Am Abend meldete Rabsang, daß unsere Brennstoffsammler Pfiffe und Signale, die von anderer Seite beantwortet wurden, gehört hätten; die Leute glaubten fest, daß hier Räuber seien, und wagten nicht draußen am Feuer zu sitzen, um nicht gute Zielscheiben für Schüsse aus dem Hinterhalt abzugeben. Ich beruhigte sie mit der Versicherung, daß kein Räuber es wagen werde, einen Europäer zu überfallen, gab aber doch dem Nachtwächter Befehl, auf unsere Tiere gut achtzugeben.
Die Nacht verlief ruhig: die Minimumtemperatur ging auf 8,8 Grad Kälte hinunter; der Herbst war schon wieder in das öde Tibet eingezogen! Ich hatte angenommen, daß der Tseti-la der entscheidende Paß sei, aber wir waren noch nicht weit gelangt, als wir seinen nach Norden strömenden Bach eine Biegung nach Westen machen und durch ein scharf ausgeprägtes Tal nach dem Dunglung hinunterfließen sahen. Er gehört also zum Flußgebiet des Satledsch und nicht zu dem des Indus; der Tseti-la ist also nur ein Paß zweiter Ordnung. Aber den wirklichen Paß, eine außerordentlich flache Talschwelle, erreichten wir bald. Hier liegt ein kleiner, trüber See, aus dessen östlichem Teil der Bach, an dem wir nun den ganzen Tag entlangziehen, austritt. Dieser Paß ist der Tseti-latschen-la, er bildet die Wasserscheide zwischen dem Satledsch und dem Indus. Seine Höhe bleibt hinter der des Tseti-la zurück, da sie nur 5466 Meter beträgt; er liegt im Hauptkamm des Transhimalaja. Der Kailas liegt also eine starke Tagereise südwärts der Wasserscheide der beiden Ströme und gehört ganz zum Flußgebiet des Satledsch.
Von dem See an folgten wir diesem kleinen Nebenfluß des Indus nach Norden. Der Talboden war sumpfig und höckerig. Hier und dort sah man drei Kochsteine. In dem vorzüglichen Gras lag ein totes Pferd. Seltsam, daß sich hier keine Nomaden aufhielten! Endlich erblickten wir in weiter Ferne ganz unten im Tal bergabziehende Männer mit großen Schafherden. Tundup Sonam und Ische müssen ihnen nachlaufen, allmählich holen auch wir anderen die Gesellschaft ein. Es sind Nomaden aus Gertse, die Salz nach Gyanima gebracht haben und nun auf ihren 500 Schafen Gerste befördern. Das ganze Tal sieht weißgetüpfelt aus von den Schafen, die flott trippeln und im Gehen Gras abrupfen. Vor uns im Norden erhebt sich eine violette, schroffe Bergkette, auf deren uns zugekehrter Seite der Indus fließen soll. Wir einigten uns mit den Leuten der Schafkarawane dahin, am selben Ort zu lagern. Sie waren ihrer fünf, alle mit Flinten bewaffnet, und sagten, daß die Gegend oft von Räubern heimgesucht werde; manchmal seien diese freilich auch wie fortgeweht, dann aber wieder führen sie herab wie ein Wirbelwind, von dem man nicht wisse, woher er komme.
Unser Lager am Ufer des Indus (5079 Meter) nannten sie Singi-buk. Nach Osten erscheint das Flußtal breit und offen, aber der Indus selbst ist hier ein sehr unbedeutender Fluß. Es setzte mich daher nicht in Erstaunen, als ich hörte, daß es nur eine kurze Tagereise nach der Quelle sei, von der mir gesagt wurde, daß sie weder von Schnee noch von einem Gletscher herrühre, sondern direkt aus der Erde entspringe. Den Fluß nannten sie Singi-tsangpo und Singi-kamba und die Quelle selbst Singi-kabab, obgleich wir das Wort später oft mehr Sängä als Singi aussprechen hörten.
Es stellte sich heraus, daß einer der fünf Männer ganz genau über uns unterrichtet war. Er war nämlich ein Bruder des Lobsang Tsering am Dungtse-tso, der uns im vorigen Winter drei Yaks verkauft hatte (s. Kapitel 15). Es war ein eigentümlicher Glückszufall, daß ich gerade auf ihn stieß! Er sagte, daß er gehört habe, wie nett wir gegen seinen Bruder gewesen, und bot uns auch seine Dienste an – gegen gute Bezahlung natürlich. Da er diese, Europäern völlig unbekannten Gegenden viele Male durchreist hatte und über alle Pässe, Wege und Täler genau orientiert war, erschien er mir hohen Preises wert, und ich bewilligte ihm täglich 7 Rupien – also täglich etwa den halben Monatslohn meiner Ladakis! Er trat natürlich sofort in meinen Dienst und wurde bald unser ganz besonderer Freund.
Damit aber waren unsere geschäftlichen Abmachungen noch nicht zu Ende. Der Mann hatte ja auch eine Masse Schafe und Gerste! Er ließ sich darauf ein, mir acht Schafe (Abb. 273) zu vermieten und deren Lasten, die für unsere Tiere eine Woche ausreichen mußten, zu verkaufen. Für jedes Schaf sollte ich eine Rupie Miete zahlen, was viel war, da ein Schaf nur 2 bis 3 Rupien wert ist. Der Alte wollte also, solange er bei mir war, allabendlich 18 Rupien erhalten – es war aber immer noch wohlfeil, da es sich ja um die Entdeckung der Indusquelle handelte!
273. Meine Transportschafe.
Die große Schafkarawane war schon aufgebrochen, als wir am 10. September mit unserem neuen Führer, der sein eigenes Tsamba auf einem neunten Schafe transportierte, ihrer Spur folgten. Nach einstündigem Marsch überschritten wir den Nebenfluß Lungdep-tschu, der von Südosten aus einem Tal kommt, in dessen Hintergrund sich flache Berge erhoben.
Ein wenig weiter aufwärts hatte sich der Singi-kamba zu einem Bassin erweitert, in dem es viel mittelgroße Fische gab. Als wir heranzogen, schossen die Fische in dichten Schwärmen flußaufwärts, wobei sie eine sehr seichte, schwach wirbelnde Stelle passierten. Hier wurden sie von Rabsang bombardiert, aber seine ganze Beute bestand nur aus einem kleinen jämmerlichen Fisch. Nun machten wir am Ufer durch einen aufgeworfenen Damm einen an einer Seite offenen Teich, und in diesen trieben die Männer die Fische hinein, indem sie ins Wasser gingen, schrien und plätscherten. Und dann wurde auch die Öffnung verbaut. Nachdem wir diesen Scherz dreimal wiederholt hatten, waren wir im Besitz von 37 herrlichen Fischen, und ich sehnte mich förmlich nach dem Mittagessen, dem ich sonst mit einem gewissen Grauen entgegenzusehen pflegte, da mir das harte, trockne Schaffleisch nachgerade gründlich zuwider geworden war. Unser Alter, der uns sitzend zuschaute, glaubte, daß wir total verrückt geworden seien. Weiter oben standen in einem ruhigen Bassin die Fische so dicht, daß das Wasser von ihren dunkeln Rücken beinahe schwarz erschien.
Wir ritten talaufwärts weiter und ließen eine rote, semmelförmige Bergpartie, die Lungdep-ningri hieß, rechts liegen. Gegenüber sahen wir an der nördlichen Talseite zwei stattliche Ammonschafe auf einer kegelförmigen Anhöhe äsen. Sie trugen prachtvolles Gehörn und hatten eine königliche Kopfhaltung. Sie bemerkten uns aber bald und wechselten langsam die Abhänge hinauf. Aber sie interessierten sich zu sehr für unsere Bewegungen und merkten nicht, daß Tundup Sonam, die Flinte auf dem Rücken, einen Umweg machte, um sie von der anderen Seite des Berges aus zu beschleichen. Nach einer Weile hörten wir einen Schuß krachen, und eine gute Stunde, nachdem wir das Lager aufgeschlagen hatten, erschien Tundup beladen mit so vielem Fleisch seines Opfers, als er nur hatte tragen können. Wir erhielten also neuen Zuschuß zu unserem ziemlich knappen Proviant, und Tundups Heldentat erhöhte den Glanz dieses unvergeßlichen Tages. Am Abend ging er wieder aus, um mehr Fleisch zu holen, und brachte mir auch den Kopf des Wildschafes mit, den ich als ein Andenken an den Tag an der Indusquelle aufheben wollte.
Das Gelände hebt sich außerordentlich langsam. Singi-jyra ist eine rauhe Felspartie im Norden, durch deren Kamm ein großes Loch geht; Singi-tschava heißt eine dominierendere Partie im Süden. Dann durchwaten wir den von Südosten kommenden Abfluß des Mundschamtals. Nun ist vom Indus nur noch ein unbedeutender Bach übrig, und ein Teil seiner Wassermenge stammt obendrein aus einem südöstlichen Tal, dem Bokar. Nach einer kleinen Weile lagern wir am Auge der Quelle, das so gut verdeckt ist, daß man es leicht übersehen könnte, wenn man keinen Führer hätte.
Vom Gebirge der nördlichen Seite fällt ein flacher Schuttkegel oder richtiger ein mit Schutt bestreuter Abhang nach dem ebenen, offenen Talboden ab. An seinem Fuß tritt eine Felsplatte von einer weißen, beinahe horizontal geschichteten Gesteinsart hervor, unter der eine Reihe kleiner Quellen aus der Erde tritt, um algenreiche Tümpel und den Quellbach zu bilden, an dem entlang wir aufwärts gezogen sind und der das Alleroberste und Erste des nachher so gewaltigen Indus ist. Die vier größten Quellen hatten an der Stelle, wo sie aus der Erde traten, eine Temperatur von 9,2, 9,5, 9,8 und 10,2 Grad. Sie sollen im Winter und im Sommer gleich viel Wasser geben, nach Regenzeiten aber ein wenig anschwellen. Im Winter gefriert ihr Wasser ein wenig unterhalb des Quellauges und bildet dann Eisschollen. Oben auf der Felsplatte sind drei hohe Steinmale und ein kleiner würfelförmiger »Lhato«, der tönerne Opferpyramiden enthält. Und unterhalb des »Lhato« steht ein viereckiges Mani mit zierlicher Schrift auf Hunderten roter Sandsteinplatten, die teils mit feiner, dichter Schrift bedeckt waren, teils nur eine 50 Zentimeter hohe Silbe enthielten. Auf zweien war das Lebensrad ausgemeißelt und auf einer anderen ein Götterbild, das ich mir als Andenken an die Indusquelle mitnahm!
Unser Führer sagte, daß der Quelle Singi-kabab ihres göttlichen Ursprunges wegen gehuldigt werde. Wenn Wanderer an diese Stelle oder einen anderen Teil des oberen Induslaufes gelangten, schöpften sie mit den Händen Wasser, tränken davon und benetzten sich damit das Gesicht und den Scheitel.
Durch die Rekognoszierungen, die Montgomeries Punditen im Jahre 1867 ausführten, wurde bekannt, daß der östliche Arm des Indus der eigentliche Quellfluß ist, und ich hatte später Gelegenheit durch genaue Messungen nachzuweisen, daß der westliche, der Gartokfluß, sogar bedeutend kleiner ist (Abb. 271). Bis an die Quelle gelang es aber keinem der Punditen vorzudringen, und derjenige, der am nächsten an sie herankam, nämlich bis an einen 50 Kilometer entfernten Punkt, wurde dort von Räubern überfallen, die ihn zur Umkehr zwangen. Infolgedessen hat bis zu unserer Zeit die irrtümliche Ansicht allgemein bestanden, daß der Indus seine Quelle auf der Nordseite des Kailas habe. Und Dank jenen vortrefflichen Räubern blieb die Entdeckung der Indusquelle mir und meinen fünf Ladakis vorbehalten!
271. Vereinigung der beiden Indusarme; die Einsenkung rechts ist das Tal des östlichen Indusarmes.
Skizze des Verfassers.
Einen unvergeßlichen Abend und eine unvergeßliche Nacht brachten wir an diesem geographisch so wichtigen Punkt zu, der sich 5165 Meter über dem Meere befindet. Hier stand ich und sah den Indus aus dem Schoß der Felswand hervorquellen. Hier stand ich und sah diesen unansehnlichen Bach sich das Tal hinabschlängeln und dachte an alle die Schicksale, die ihm bevorstehen, ehe er zwischen Felswänden bis ans Meer hinunter in tönendem Creszendo sein rauschendes Lied ausgesungen hat, in Karatschi, wo die Dampfer ihre Waren einnehmen oder löschen. Ich dachte seines rastlosen Zugs durch Westtibet, durch Ladak und Baltistan, an Skardu vorbei, wo die Aprikosenbäume am Ufer über seinen Fluten nicken, durch Dardistan und Kuhistan, an Peschawar vorüber und durch die Ebenen des westlichen Pandschab, bis sie schließlich in den warmen Wellen des salzigen Meeres, dem Nirwana und dem Hafen ewiger Ruhe aller müden Flüsse ertrinken. Hier stand ich und fragte mich, ob wohl der mazedonische Alexander, als er vor 2200 Jahren über den Indus gegangen, geahnt hat, wo die Quelle liegt, und ich freute mich in dem Bewußtsein, daß außer den Tibetern kein anderer als ich bis an diesen Punkt vorgedrungen war. Große Hindernisse waren mir in den Weg gelegt worden, aber höhere Mächte hatten mir den Triumph beschert, an die wirklichen Quellen sowohl des Brahmaputra wie des Indus zu gelangen und den Ursprung dieser beiden weltgeschichtlichen Ströme feststellen zu können, die wie die Doppelschere eines Taschenkrebses das höchste aller Gebirgssysteme der Erde, den Himalaja, umklammern. Aus Himmelsfässern wird ihr erstes Wasser geboren, und sie wälzen ihre Wassermassen nach dem Tiefland hinunter, um 50 Millionen Menschen Leben und Nahrung zu geben. Hier oben stehen Klöster still und weiß an ihren Ufern, in Indien spiegeln sich Pagoden und Moscheen in ihren Fluten; hier oben schweifen Wölfe, wilde Yaks und Wildschafe in ihren Tälern umher, dort unten im Hinduland funkeln aus den Dschungeln, die ihre Ufer umsäumen, Tiger- und Leopardenaugen wie glühende Kohlen, und giftige Schlangen ringeln sich durch das dichte Gebüsch der Uferbänke. Hier im öden Tibet peitschen eisige Stürme und kalter Treibschnee ihre Wellen, dort unten im Flachland flüstern laue Winde in den Kronen der Palmen und der Mangobäume. Mir war zumute, als lauschte ich hier dem Klopfen der Lebenspulse dieser beiden berühmten Flüsse, als sähe ich den Fleiß und den Wetteifer, der seit unzähligen Generationen unzählige Menschenleben erfüllte, die so flüchtig und kurz gewesen sind wie das Leben der Mücke und des Grases; all jene Wanderer auf Erden und Gäste der Zeit, die an dem dahinflutenden Lauf dieser Flüsse geboren wurden, von ihrem Wasser getrunken, ihren Feldern damit Leben und Kraft gegeben, an den Ufern gelebt haben und gestorben sind und aus dem schattigen Frieden der Täler dieser Flüsse sich nach den geahnten Regionen ewiger Hoffnung emporgeschwungen haben. Nicht ohne Stolz, aber auch mit dem Gefühl demütiger Dankbarkeit stand ich da oben in dem Bewußtsein, daß ich der erste weiße Mann war, der je bis an die Quellen des Indus und des Brahmaputra vorgedrungen ist.