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Sechzehn Grad Kälte in der Nacht auf den 8. Mai! Als wenn der Winter und nicht der Frühling im Anzug wäre. Schon vor einem Monat hatten wir in Bongba viel wärmeres Wetter gehabt. Nun aber zogen wir ja wieder nach den Höhen des Transhimalaja hinauf, es war kalt, rauh und windig, die Temperatur stieg selten über Null, und heute lag das ganze Land wieder unter einer Schneedecke.
Wir ritten nordwärts und gingen über eine kleine Schwelle nach dem Tschaktak-tsangpo hinunter, in dessen Nähe wir eine Weile haltmachen mußten, um uns am Feuer zu wärmen. Der Fluß macht einen Bogen nach Westsüdwesten, um den Kantschung-gangri zu durchbrechen. An seinem Ufer sahen wir ein Zelt, 8 Pferde und etwa 100 Schafe. Pantschor war heute seine eigenen Wege gegangen, um eine Herde von 90 wilden Yaks zu verfolgen; Nima Taschi aber, der Befehlshaber der Leibwache, war fest überzeugt, daß in dem Zelt eine Räuberbande hause, da es in dieser Gegend keine Nomaden gebe! Die Eskorte und Nima Taschi ganz besonders fürchteten sich entsetzlich vor Räubern; Pantschor hatte mir gesagt, er könne die Soldaten dadurch, daß er ihnen mit den Räubern Furcht einjage, dazu bringen, ihm überall hin zu folgen, wohin er wolle! Als Pantschor sich wieder einstellte, erzählte er, daß ganz richtig Räuber in dem Zelt hausten, und zwar die Bande, die die Morde im Rukjoktal auf ihrem Gewissen habe. Und er fügte hinzu, daß die Räuberbande gedroht habe, die Gegend wieder heimzusuchen, wenn die Leute in Rukjok sich nicht gütlich mit ihnen einigten. Ich fragte ihn, weshalb denn die Behörden den Hauptmann jetzt, da er ganz in ihrer Nähe sei, nicht fingen, worauf Pantschor kopfschüttelnd sagte, daß man, wenn er gefangen und hingerichtet würde, sich an seiner Bande dreißig andere Räuber auf den Hals lüde, die noch viel ärger seien! Das Räuberleben scheint in Tibet im allgemeinen recht gemütlich zu sein.
Am Flußufer aufwärts ziehend, gelangten wir an den ganz zugefrorenen kleinen See Laptschung-tso und schlugen an seinem östlichen Ufer das Lager 401 (5193 Meter) auf (Abb. 330). Er lag zwischen Hügeln eingeklemmt, überall von hohen Bergen umgeben. Im Süden tritt jetzt der Kantschung-gangri in all seinem Glanz hervor. Seine Nordseite ist viel schneereicher als die südliche; in den Tälern zwischen seinen Gipfeln zeigen sich drei größere und mehrere kleinere Gletscherzungen, die kurz und steil sind. Aus allen Tälern im Norden, Nordwesten und Nordosten strömen Bäche nach dem Laptschung-tso, aus dessen südlicher Spitze der Tschaktak-tsangpo heraustritt, um ein wenig weiter abwärts nach Südwesten hin den Kantschung-gangri zu durchbrechen.
330. Kantschung-gangri und Laptschung-tso von Lager 401 aus.
Nach einem Aquarell des Verfassers.
9. Mai. 18,3 Grad Kälte in dieser Jahreszeit! Längs des östlichen Ufers des Laptschung-tso ziehen wir nach Nordosten und folgen einem sehr ausgetretenen Weg, der aus wohl 50 parallellaufenden Fußpfaden besteht. Er bietet großes Interesse als ein Straßenzug auf der Karte Tibets, der bisher unbekannt war. Hier reisen die Kaufleute, die nach dem östlichen Bongba oder Tschoktschu wollen, ein großer Teil der von Tabie-tsaka kommenden Salztransporte und zahlreiche Pilger, die vom Kang-rinpotsche nach Hause zurückkehren; die letzteren folgen auf der Hinreise gewöhnlich der Tasam, schlagen aber bei der Heimreise meistens den nördlicheren Weg ein – damit die ganze Pilgerfahrt ein »Kore«, eine seligmachende Runde sei.
Vornehmer Lama von Tschoktschu.
Aquarell des Verfassers.
Unsere Richtung wird jetzt nördlicher, und wir ziehen das Sangmobertik-Tal hinauf, dessen Boden glashelles Eis bedeckt und dessen Abhänge mit gutem Gras bewachsen sind. Zwischen dem Kantschung-gangri und dem Hauptkamm des Transhimalaja ist das Land ziemlich flach. In dem Längstal zwischen den beiden Ketten sehen wir in N 60° W die relativ niedrige Schwelle Ditscha-la, die jedoch ein wasserscheidender Paß ersten Ranges ist, weil sie das Wasser, das dem Ozean zuströmt, von dem scheidet, das nach dem abflußlosen Plateau geht. Über den Ditscha-la führt der eben erwähnte Weg nach dem Buptsang-tsangpo und Tabie-tsaka. Im Norden, Nordwesten und Nordosten zeigen sich mehrere Gangris mit Firnfeldern und Schnee, die alle zum Hauptkamm des Transhimalaja gehören. Im Osten gibt es einen Paß Nakbo-kongdo-la mit dem Nakbo-gongrong-gangri. Über diesen Paß, der auch auf der Hauptwasserscheide zu liegen scheint, führt ein Weg nach dem Targo-gangri und dem Dangra-jum-tso. Zwischen Raga-tasam und Ombo führt eine Straße, die hauptsächlich von Salzkarawanen benutzt wird, über den Tsalam-nakta-la. Noch vom Lager 402 aus konnten wir das Tschomo-utschong-Massiv in S 13° O sehen.
Ein Mitglied der gestern passierten Räuberbande besuchte uns, sichtlich ein guter alter Freund Pantschors! Er gab mir allerlei interessante Aufschlüsse über den Teri-nam-tso und das Kloster Mendong-gumpa, die sich später als durchaus richtig erwiesen. Aus Pantschor konnte ich nicht klug werden. Entweder war er mit dem Teufel selber im Bunde, oder er war auf eigenes Risiko und für eigene Rechnung ein vollendeter Spitzbube. Jetzt versicherte er, daß es für ihn die einfachste Sache auf der Welt sei, mich nach dem Teri-nam-tso, ja vielleicht sogar nach dem Dangra-jum-tso zu bringen! O, ihr Götter Naktsangs, schlummert ihr in diesem kalten Frühling und wollt ihr eure irdischen Vasallen erst warnen, wenn es zu spät ist? Ja, könnte ich mir nur noch zwei Transhimalaja-Übergänge erkämpfen, so würde ich nachher seine gewaltigen Ketten gern ihrer wilden tausendjährigen Ruhe unter den eilenden Wolken und den glänzenden Schneefeldern überlassen! Seltsam, daß dies ausgedehnte, der indischen Grenze so nahe liegende Land bis in unsere späte Zeit völlig unbekannt geblieben ist! Es ist ein stolzes, ein herrliches Gefühl, sich als ersten Weißen auf seinen öden Pfaden zu wissen. –
Nonnen von Mendong.
Aquarell des Verfassers.
Kloster Mendong westlich vom Teri-nam-tso.
Aquarell des Verfassers.
Pantschor riet uns, einen Tag im Tale zu bleiben, denn so gute Weide wie hier würden wir sobald nicht wiederfinden. Ich fragte mich, woher er dies wissen könne, da er mir eben noch gesagt hatte, daß er niemals im Norden des Sangmo-bertik-la gewesen sei!
Die Kälte sank in der Nacht zum 11. Mai auf 16,1 Grad. Wir befanden uns auf einer mächtigen Anschwellung des Transhimalaja, die Lap heißt und wegen ihres rauhen Klimas bekannt ist. Sogar mitten im Sommer, wenn es sonst überall warm ist, bleibt es in Lap kalt. Erst Anfang Juni, wenn alle anderen Seen schon wieder offen sind, bricht das Eis des Laptschung-tso auf. Aus der Karte ergibt sich auch, daß mehrere bedeutende Flüsse, die nach Norden und nach Süden strömen, auf dieser hohen Anschwellung entspringen.
Der heutige Marsch führte uns in immer höher werdende Regionen hinauf; der Weg war infam, eigentlich kein Weg, sondern ein Balancieren zwischen Granitblöcken und Yakmoos. Und noch schlechter war das Terrain am nächsten Tag. In rauhem, winterlichem Wetter bei oft 17,1 Grad Kälte zogen wir im Zickzack außerordentlich langsam in einem Talgrund bergauf, wo alles feine und lockere Material so gründlich fortgeschwemmt war, daß man jeden Augenblick befürchten mußte, die Tiere brächen sich in den Löchern zwischen den Blöcken die Beine. Hier kam weiter keine Vegetation mehr vor als eine eidottergelbe und eine rötlich schillernde Moosart. Links blieben drei kleine Gletscherzungen, deren abgebrochenes Vorderende bläulich glänzte. An einem dieser Gletscher gingen einige wilde Yaks in philosophischer Ruhe spazieren. Das Wetter war so frostig, daß wir bisweilen haltmachten, um die Hände über einem kleinen Dungfeuer zu wärmen. Pantschor bestand nachdrücklich auf diesen Ruhepausen, »damit der Bombo nicht müde werde«; aber ich hatte ihn im Verdacht, daß es hauptsächlich geschah, weil er sich nach ein paar Zügen aus seiner chinesischen »Gansa« sehnte.
Wenn unsere Pferde sich auch sehr abmühen mußten, schließlich brachten sie uns doch auf die 5820 Meter betragende, schwindelerregende Höhe des Sangmo-bertik-la hinauf, und dort stand ich zum siebentenmal auf dem Hauptkamm des Transhimalaja und der Wasserscheide der großen indischen Flüsse! Die Aussicht war sehr beschränkt und von naheliegenden Höhen versperrt. Auf einem scharfen Grat im Nordwesten stampften sieben wilde Yaks durch den Schnee; Pantschor und einer der Soldaten gingen zu Fuß hinauf, um ihnen nachzusetzen – diese steilen Wände hinauf und dabei noch schwere, klobige Flinten tragen, das hieß Courage! Wir andern ritten zwischen den Granitblöcken bergab. Weiter abwärts bestand das Gestein aus grünem Porphyr. Die Neigung der Abhänge wurde immer geringer; wo wir lagerten, sah man kaum, nach welcher Richtung hin das Tal sich senkte.
Der Tag war stürmisch gewesen, und der Sturm hielt auch am 13. Mai an. Der kleine Puppy, der sich hinausgewagt hatte, um sich den Morgen anzusehen, kam schnell zurück und legte sich wieder auf seine Matte. Takkar hat sich mit seinen tibetischen Landsleuten noch immer nicht ausgesöhnt und sich bei der ganzen Eskorte und Pantschor dadurch in den größten Respekt gesetzt. An zahlreichen Sommerlagern vorbei reiten wir in dem Tal nach Norden weiter und ich erkenne das charakteristische, flache Relief von Tschang-tang wieder, das zu den tiefer eingeschnittenen Tälern auf der Südseite des Transhimalaja in scharfem Gegensatz steht.
In der Mündung eines von Westen kommenden Nebentales hatte die Eskorte haltgemacht, und Nima Taschi teilte mir jetzt mit, daß unser Weg nach Buptö, wo wir verabredetermaßen mit Abdul Kerims Gesellschaft zusammentreffen sollten, durch dieses Tal führe und daß sie nicht weiter nach Norden zu ziehen gedächten. Sie zeigten uns jetzt zum erstenmal die Zähne und waren durchaus nicht so fügsam, als ich geglaubt hatte. Sie bedienten sich des Vorwandes, ihre Yaks seien erschöpft, sie hätten keinen Proviant mehr und es sei ihnen nicht befohlen worden, mich länger als 14 Tage zu begleiten. Pantschor, der Schuft, stellte sich auf ihre Seite und ängstigte uns mit dem Häuptling von Bongba-tschuschar, der von allen Räubern der Gegend Abgaben erhebe und uns ganz gewiß ausplündern werde, wenn wir durch sein Gebiet zögen. Nach langer Beratung beschloß ich, da, wo wir uns befanden, zu lagern, um die Sachlage weiter zu besprechen. Ehe die Sonne unterging, hatte ich die Leutchen da, wo ich sie haben wollte; es war hauptsächlich der Klang von Silberrupien, der sie alle anderen Bedenken vergessen ließ. Es wurde also vereinbart, daß sie allabendlich 20 Silberrupien ausbezahlt erhalten sollten; außerdem schenkte ich ihnen noch eine Ziege, da ihr Fleischvorrat verzehrt war.
Am 14. Mai ritten wir in einem alle Aussicht verhüllenden Schneetreiben nach Norden weiter und passierten zahlreiche Manis, von denen neun in einer Reihe standen. Das Tal erweitert sich immer mehr und wird 2 Kilometer breit. Beim Lager gab es kein Wasser, aber zwei unserer Yaks wurden mit Eisblöcken beladen. Jeden Abend sitze ich stundenlang plaudernd mit Pantschor zusammen, und seine Angaben sind leicht zu kontrollieren. Ich habe ihm ein für allemal gesagt, daß er keine Extragratifikation erhalte, wenn er nicht die Wahrheit sage! Heute abend erzählte er, daß es um Muhamed Isas Grab greulich spuke und man nachts aus der Tiefe des Grabes unheimliche Schreie und Seufzer hören könne! Er war überzeugt, daß sich Dämonen und Geister bei dem Grab aufhielten, und sagte, kein Tibeter wage sich der Stelle zu nähern – ein Umstand, der ja immerhin den Vorteil hatte, daß das Grab in Ruhe gelassen wurde.
Er gab mir auch viel wertvolle Aufschlüsse über die Umgegend des Nam-tso oder Tengri-nor, in der er geboren war und seine Kindheit verlebt hatte. Den Nam-tso hatte er zweimal umwandert, den Tso-mavang dreimal, und zwölfmal den Kang-rinpotsche, den er bald wieder zu besuchen beabsichtigte, um die dreizehnte, die seligmachende Runde zu vollenden! Um den Dangra-jum-tso und den Targo-gangri zu gehen, hielt er für überflüssig, weil er schon soviel getrabt sei, daß ihm alle seine Sünden vergeben sein müßten und er bei der nächsten Wiedergeburt einer Beförderung sicher sein könne. Pantschor zweifelte keinen Augenblick, daß Menschen oder Pferde, die von dem Wasser des Tso-mavang oder dem des Nam-tso getrunken, auf ewig vor Krankheit, Räubern und Wölfen sicher seien – »es geht Feuer von dem Punkt des Körpers aus, in den der Wolf hineinbeißen will«, versicherte er. Aber er modifizierte seine Behauptung bedeutend, nachdem ich ihm erzählt hatte, daß ich einen Maulesel gehabt hätte, der einen ganzen Monat lang aus dem Tso-mavang getrunken habe und dennoch in Gartok von Wölfen zerrissen worden sei. »Ja,« erwiderte er, »der Schutz kommt nur Tibetern und ihren Tieren zugute, aber nicht Europäern und Tieren, die ihnen gehören. Und wenn der Wolf selber von dem heiligen Wasser getrunken hat, dann nützt sowieso alles nichts, dann holt er sich seine Beute doch!«
Am 15. Mai brachen wir wieder in Schneetreiben auf. Sowohl unter den Tibetern wie bei den Ladakis erregte es stürmische Heiterkeit, als ein Mann der Eskorte, der nicht wußte, wie Kuntschuk hieß, ihn »das Kalb da« nannte. Wir waren schon ein ganzes Ende geritten, bis sie aufhörten, über den neuerfundenen Titel, den Kuntschuk von nun an behielt, zu lachen. Das Tal geht in eine Ebene über, die reich an Goaantilopen, Kiangs und Pantholopsantilopen ist. Von einem wellenförmigen Landrücken aus sehen wir im Osten eine zweite, noch größere Ebene, über deren Horizont der Targo-gangri sichtbar gewesen wäre, wenn nicht Schneenebel und Wolken das Gebirge verhüllt hätten. Der Butschu-tso ist ein Tümpel, der im Sommer austrocknet. Dort standen endlich drei schwarze Zelte und hinter einem neuen Hügel, im Gebiet von Kangmar, sogar sieben. Als wir zwischen ihnen lagerten, waren 60 Männer, Frauen und Kinder im Freien und gafften uns an (Abb. 342, 344, 345, 346, 348, 349). Sie hatten sich hier versammeln müssen, um ihre Abgaben an einen Steuereinnehmer aus Saka zu bezahlen. Der Distrikt heißt Bongba-tschuschar; sein greiser Gova machte mir eine Visite. Er war ein gutmütiger alter Herr und stellte keine unbequemen Fragen – Pantschor, der es verstand, allen Leuten blauen Dunst vorzumachen, hatte ihm wohl schon vorher Auskunft gegeben. Er soll entsetzliche Furcht gehabt haben, denn er hatte noch nie in seinem Leben einen Europäer gesehen! Er gab mir indessen viele wertvolle Aufschlüsse über das Land und teilte mir unter anderm mit, daß das kleine Seenpaar Mun-tso nördlich vom Barong-la und östlich vom Teri-nam-tso liege, nicht im Süden des Dangra-jum-tso, wie auf Nain Sings Karte, die ich in jener Gegend unrichtig gefunden habe. Auf dem Weg nach dem Teri-nam-tso sollten wir an zwei Stellen Gänseeier finden können; den Tibetern war es drei Jahre lang untersagt, die Vögel ihrer Eier zu berauben, aber ein Europäer konnte sich ja alles erlauben, ohne von ihren irdischen und himmlischen Göttern zur Verantwortung gezogen zu werden.
342. Eingeborene von Kangmar.
344. Hirtenknabe in Bongba.
Skizze des Verfassers.
345. Ringkampf zwischen Tibetern.
Skizze des Verfassers.
346. Junge mit Flinte am Teri-namtso.
Skizze des Verfassers.
348. Pilger der Pembo-Sekte.
Skizze des Verfassers.
349. Junger Hirt in Bongba.
Skizze des Verfassers.
Nach einem Ruhetag zogen wir gen Nordnordosten nach dem breiten Längstal des Soma-tsangpo (Abb. 343). Der Fluß kommt von Ostsüdosten und scheint seine Quellen auf der Westseite des gewaltigen Gebirgssystems zu haben, das ich vom Schuru-tso aus gesehen hatte. Hier strömt er nach Westnordwesten, wendet sich aber weiter unten nach Norden und Nordosten und macht also einen scharfen Bogen, ehe er sich in den Teri-nam-tso ergießt. Sein Bett ist flach und seicht und führte jetzt etwa 8 Kubikmeter Wasser in der Sekunde, ist aber im Sommer so wasserreich, daß es sich nicht durchwaten läßt. An der Quelle eines Tales auf der andern Seite lagerten wir, und am 18. Mai erklommen wir den naheliegenden Dongtschen-la, auf dessen südlichen Hügeln 24 Ammonschafe uns ein herrliches Schauspiel bereiteten.
343. Tibetische Soldaten am Ufer des Soma-tsangpo.
In der Nacht auf den 19. blieb das Minimum auf -1,4 Grad, und jetzt fühlte man sich endlich wie im Frühling, ja wie im Sommer. Der Weg führte nach Nordwesten durch ein steiles Tal, in dem an zwei Stellen Granit und schwarzer Schiefer anstehen, nach dem kleinen Paß Teta-la (4958 Meter) hinauf, von dessen Höhe aus wir endlich freie Aussicht über den ersehnten See Teri-nam-tso hatten, den »Tede-nam-tso« Nain Sings, den er zwar nie besucht und nie gesehen, sondern nur vom Hörensagen gekannt und dennoch mit einem punktierten Ring vollkommen korrekt in seine Karte eingezeichnet hat. Sein einziger Fehler bestand darin, daß er den See von Norden nach Süden länglich sein ließ, anstatt von Osten nach Westen. –
Um freie Aussicht zu erhalten, erkletterte ich eine 5173 Meter hohe Anhöhe auf der Nordseite des Passes. Der Anblick, der sich von hier aus nach allen Seiten hin aufrollt, war eines der großartigsten, unvergeßlichsten Bilder, die ich in Tibet gesehen habe (s. buntes Panorama S. 354). Einem gewaltigen, flachgeschliffenen Türkis vergleichbar, liegt der »himmlische See« zwischen den ihn einfassenden Bergen und Hügeln und spielt in rosigen, roten, gelben und violetten Nuancen, die nach dem Horizont hin immer mehr in den hellblauen Schleiern der wachsenden Entfernung verschwimmen. Nur im südwestlichen Viertel wird die Aussicht durch ganz naheliegende Höhen verdeckt, die zu der Kette gehören, auf der wir uns befinden und die sich am Südufer des Sees entlang zieht; im übrigen aber ist die Aussicht frei, schwindelerregend hoch und unendlich weit, und der Blick schweift ebenso ungehindert nach dem majestätischen Gipfel des Scha-kangscham, wie er die vielspitzige Kette des Targo-gangri und den von mir siebenfach besiegten Hauptkamm des Transhimalaja bestreichen kann, dessen schneebedeckte Kuppen im Süden ihre blendendweißen Scheitel in einer langen Reihe erheben. Mehrere andere Gipfel und Dome mit ewigem Schnee steigen über diesem Meer verschiedenfarbiger Wellen auf, aber das allerschönste ist doch der See selbst, der den Beschauer durch seine intensiv marineblaue Farbe, die um einige Nuancen dunkler und kräftiger ist als die des Türkises, bezaubert und fesselt. Wenn man zuerst den Sattel des Passes betritt und die Netzhaut auf diesen Reichtum an kräftigen Farben reagiert, kann man kaum einen Ausruf des Staunens und der Verwunderung unterdrücken. Ich sehe den See sehr von oben und habe sein Südufer unmittelbar unter mir. Nach Westen hin zieht er sich zwei Tagereisen weit in das Land hinein und ist mächtig angeschwollen, nach Osten hin wird er schmäler und scheint dort noch eine gute Tagereise lang zu sein. Gerade im Nordosten wird seine blaue Fläche durch eine kleine steile Felseninsel unterbrochen, die nur im Osten einen flachen Strand hat, und nach Osten hin glaubt man die Mulde zu ahnen, wo der Dangra-jum-tso am Nordfuß des Götterberges Targo-gangri sein Becken füllt. Die grüne Wasserfläche im Vordergrund ist eine Süßwasserlagune mit Algenvegetation. Die bunten konzentrischen Linien sind Austrocknungslinien.
Herrliches Wetter, auch nicht ein Wölkchen am blauen Himmelsgewölbe, ruhig und windstill, kaum ein Hauch flüstert über den Hügeln, in den Ohren klingt es wie Schellengeläute und Saitenspiel, man fühlt sich überwältigt von dieser großartigen Schönheit, die das Herz mächtiger ergreift, als die Predigt eines Bischofs. Ich blieb mehrere Stunden hier oben und machte einen aussichtslosen Versuch, ein Bild der Landschaft zu zeichnen; es ist in diesem Buche enthalten, ist aber nur eine schwache Nachahmung der Wirklichkeit. Vom Teta-la aus beherrscht man ein sehr ansehnliches Areal des innersten Tibet. Wie weit erstreckt sich der Horizont des Scha-kangscham! An wie vielen Punkten habe ich auf verschiedenen Reisen diesen wunderbaren Berg schon gesehen! Wie ein gewaltiger Leuchtturm, eine ungeheuere Landmarke, thront seine schneegekrönte Kuppe über dem öden Tibet. Und wenn er wie ein Traumbild von Schnee und Rosen zuletzt unter dem Horizont versinkt, ist man fern von seinen rinnenden Gletschern.
Endlich mußte ich mich doch losreißen und auf der Spur der anderen nach einem kleinen elenden Tal hinabsteigen, wo man in der Nähe zweier Zelte das Lager aufgeschlagen hatte. Auch hier hatten wir eine wundervolle Aussicht. Wie vermißte ich jetzt mein altes erprobtes Boot, wie gern wäre ich wochenlang unter Segel und Spritzwasser auf dem himmlischen See umhergefahren!
Ganze vier Tage blieben wir still in diesem erbärmlichen Lager mit der sterilen Umgebung und der brillanten Aussicht (4769 Meter). Denn der Dangra-jum-tso begann jetzt zum viertenmal in meinen Träumen zu spuken. Von hier aus kann man in nur vier Tagemärschen in östlicher Richtung nach dem heiligen See gelangen. Ich wollte versuchen, mich nach seinem Ufer hinzuschmuggeln! Nima Taschi und Pantschor erfanden freilich alle möglichen Gegengründe; ihre Yaks seien erschöpft, dort gebe es keine Weide, und es sei unmöglich, Yaks zu mieten, weil alles kürzlich fortgezogen sei, um Salz vom Tabie-tsaka zu holen. Ich machte dann den Vorschlag, mit meinen eigenen Pferden hinreiten und nach dem Ausflug mit ihnen in Mendong-gumpa wieder zusammenzutreffen. Hiergegen hatten sie anfänglich nichts einzuwenden. Wäre ich um diese Zeit Tibets nicht schließlich herzlich überdrüssig gewesen, so hätte ich ihnen noch einen schönen Streich spielen können! Ich wäre nämlich nicht nur nach dem Dangra-jum-tso gezogen, sondern immer weiter nach Osten, bis man mir wieder Halt geboten hätte! Aber ich hatte jetzt alles satt, was Geographie, Entdeckungen und Abenteuer heißt; ich sehnte mich heim. Und überdies erschien mir das im Osten des Teri-nam-tso liegende Land im Vergleich mit dem auf seiner Westseite unvergleichlich weniger wertvoll. Das erstere hatte ich auf drei Linien durchzogen, und zwei andere Reisende waren schon dort gewesen; aber im Westen war noch niemand gewesen, und man kannte nichts weiter davon, als die unklaren Nachrichten, die die Jesuiten sich vor 200 Jahren von Eingeborenen verschafft hatten. Tatsächlich war dieses Land der am wenigsten bekannte Teil Tibets, und der Weg nach dem Nganglaring-tso durchschnitt den weißen Fleck in seiner Längsrichtung. Wenn die Behörden mich gefragt hätten, welchen Weg ich wählen wolle, hätte ich ohne Zögern geantwortet: den Weg nach dem Nganglaring-tso. Es wäre am klügsten gewesen, sofort auf Nima Taschis Vorschlag, direkt nach Mendong-gumpa zu ziehen, einzugehen. Aber der Widerstand stachelte mich dazu an, noch eine letzte Lanze für den Dangra-jum-tso zu brechen. Ich hätte an das alte Sprichwort: »Wer nach einem zu großen Stück schnappt, geht leer aus« denken sollen, denn um ein Haar hätte ich obendrein noch Mendong-gumpa verloren!
Denn als Nima Taschi sah, daß er mit mir nichts anfangen konnte, schickte er heimlich zu Tagla Tsering, dem Häuptling des Distrikts Sangge-ngamo-buk, in dem wir uns jetzt befanden und der zur Provinz Naktsang gehört. Und Tagla Tsering kam. Er hatte sich im vorigen Jahr unter dem Gefolge Lundups befunden, als dieser mir am Fuß des Targo-gangri Halt geboten und mich verhindert hatte, bis an das Ufer des heiligen Sees zu gehen. Jetzt sah er prächtig und imponierend aus (Abb. 334). Über einem Pantherfellmantel trug er einen aus sechs Gaos von glänzendem Silber bestehenden Gürtel; im Gürtel steckte der Säbel in einer silbernen, mit Türkisen und Korallen verzierten Scheide, und an seiner Seite klapperte ein Gehänge von Messern und anderen Dingen. Über all dem trug er einen langen, ärmellosen, rotlila Mantel und auf dem Kopf eine chinesische Seidenmütze. Ihn begleiteten sechs Reiter, und am Tag darauf kamen noch etwa zwanzig, alle mit Flinten, Säbeln und Spießen bis an die Zähne bewaffnet und in malerischen, bunten Gewändern, einige mit hohen Krempenhüten auf dem Kopf, andere mit Binden, die sie sich um die Stirn gewunden hatten (Abb. 340, 341, 350). Tagla Tsering faßte die Lage sichtlich ernst auf und wollte mir mit seiner aufgebotenen Miliz imponieren.
334. Häuptling Tagla Tsering, der meine Reise zum Dangra-jum-tso verhinderte. S
kizze des Verfassers.
340, 341. Soldaten aus Tagla Tserings Gefolge.
Skizzen des Verfassers.
350. Tagla Tserings Gefolge.
Gemütlich, vergnügt und ganz wie ein guter alter Freund trat der gebieterische Häuptling aber in mein Zelt (Abb. 351), hieß mich herzlich in seinem Distrikt willkommen und sprach seine große Verwunderung aus, daß ich schon wieder hier sei, obwohl man mich doch im vorigen Jahr zur Umkehr gezwungen habe! Hätte ich nicht schon Hladsche Tserings Sturz verursacht? Wollte ich nun auch den neuen Statthalter von Naktsang auf dieselbe Weise stürzen? Oder was beabsichtigte ich denn eigentlich?
351. Tagla Tsering mit seinen Leuten auf Besuch in meinem Zelt.
Über dem Zelteingang eine Filzdecke als Sonnenschutz.
»Nein, Hedin Sahib, nach Naktsang dürft ihr nicht reisen. Kehren Sie um nach Westen! Nima Taschi hatte durchaus keine Befugnis, Sie nach dem Teri-nam-tso zu führen; am Buptsang-tsangpo sollten Sie ja Ihre Karawane treffen. Sie reden von Mendong-gumpa! Sie sind nicht berechtigt, dorthin zu gehen. Es gibt einen näheren Weg nach dem Treffplatz. Mendong-gumpa liegt zwar nicht in meinem Distrikt, aber ich habe für alle Fälle sämtliche Govas der Gegend schriftlich angewiesen, Sie festzunehmen, wenn Sie nach dem Kloster gehen sollten!«
Der arme Nima Taschi war halbtot vor Schreck. Er hatte geglaubt, mich mit einem schwarzen Mann erschrecken zu können, und jetzt sah er uns wie alte Bekannte zusammensitzen, miteinander Tee trinken und Zigaretten rauchen. Ihm aber wurden Vorwürfe gemacht, daß er mich schon zu weit geführt habe! Ich sagte ihm nachher, daß er ein Esel gewesen sei und selber die Schuld trage, wenn er jetzt in Saka-dsong Unannehmlichkeiten habe. Tagla Tserings ohnehin schon gute Laune wurde noch besser, als ich ihm versprach, umkehren und mich nach den Dispositionen der Häuptlinge auf dem Wege richten zu wollen, wenn ich zufällig verhindert werden sollte, das Kloster zu berühren.
Am 24. Mai verabschiedeten wir uns und zogen am Südufer des Sees entlang in westlicher Richtung weiter. Sein Wasser ist salzig und von außerordentlich widerlichem Geschmack; es läßt sich überhaupt nicht trinken. Der Lamlung-la (5145 Meter) ist ein dominierender Paß, den man überschreitet, um eine Halbinsel abzuschneiden. Das Gestein besteht aus Granit und grünem Schiefer. Hasen und Wildgänse sehen wir viel. Hier und dort gibt es am Ufer, dessen Gürtel unterhalb des Bergfußes sehr schmal ist, auch Süßwasserlagunen. Der nördliche Ufergürtel sieht viel breiter aus. Noch einen Tag zogen wir am Südufer hin nach der Quelle Tertsi am Westende des Sees, das eine ausgedehnte, regelmäßige Anschwellung bildet.
Von verschiedenen Nomaden hörte ich den Namen des schonen Sees verschieden aussprechen. Nam Sings »Tede-nam-tso« ist unrichtig. Der Gova von Kangmar behauptete, daß Tsari-nam-tso die richtige Aussprache sei; der Name sei dem See gegeben, weil » ri di tsa-la iso jore« auf deutsch »der See, der dicht am Fuß der Berge liege« heiße. Die Nomaden am Ufer sagten jedoch Tiri- oder Teri-nam-tso. Beim Lager 411 liegen nämlich zwei kleine Berge am Ufer, die Tetschen und Tetschung, also der Große Te und der Kleine Te oder richtiger Ti heißen. Ti ist der Thronsessel eines Lamas im Tempelsaal, ri bedeutet Berg, nam Himmel und tso See. Der ganze Name hat also die poetische Bedeutung: Der himmlische See der Thronberge.
Seine Höhe über dem Meere beträgt 4684 Meter, ist also 126 Meter geringer als die des Montblanc, der, wenn er seinen Scheitel aus den Türkiswogen des Sees erhöbe, ungefähr wie eine kleine Felseninsel in der Osthälfte des Sees erscheinen würde.