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Schwere Wolken und durchkältender Wind erschwerten am 14. Dezember den Marsch, der langsam durch das Tal hinauf weiterging. Zwei in Sackleinwand eingenähte und mit dem Stempel einer turkestanischen Firma versehene Warenballen sahen wir an der Erde liegen, als ob sie von dem sterbenden Pferd, an dessen Kadaver wir eben vorübergekommen waren, heruntergeglitten seien. Höher oben noch zwei. Sie enthielten seidene Stoffe aus Chotan! Mit schwindenden Kräften kommen die Karawanen noch so weit, nachdem sie sich auf dem Paß über alle Gebühr haben anstrengen müssen. Sie gleichen Schiffen, die ihre Last über Bord werfen müssen, wenn sie zu sinken beginnen. Auch bei Köteklik fanden wir leidliches Gras und Brennholz. Gulam ist ein vortrefflicher Koch; er bereitet mir die feinsten Kotelettes und Frikandellen, und zur Abwechslung gibt es noch Hühner und Eier.
Am 15. ist wenig Wasser im Tal; aber es rinnt unter Schutt, und höher aufwärts fließt der Fluß wieder frisch und klar. Oft ziehen wir an Resten verunglückter Karawanen vorüber, toten Pferden, Warenballen und Packsätteln, aus denen das Heu herausgenommen worden ist, um damit ein sterbendes Pferd zu retten. Wir ziehen nach Westnordwesten und entfernen uns daher immer mehr von unserem Ziel. Endlich aber gelangen wir an einen Talknoten, der uns nach der richtigen Seite führen wird. Links lassen wir das Sassertal und gehen in ein Taltor hinein, das voll tückischen, manchmal nur hautdünnen Eises ist. Wir warteten, bis unsere Kundschafter das Eis untersucht hatten, das sie aber für unpassierbar erklärten. Tubges machte dagegen einen anderen, weiteren Weg über steile Hügel ausfindig, und an deren Basis schlugen wir das Lager auf.
Am folgenden Morgen gingen wir über einen steilen Porphyrvorsprung, um an eine bessere Stelle des gefrorenen Flusses zu gelangen, der uns als östlicherer Richtweg nach Murgu hinauf dienen sollte. Unaufhörlich überschritten wir seine Eisstraße, die erst mit Sand bestreut werden muß, damit die Tiere sich nicht die Beine brechen. Wie gewöhnlich gingen zwei Kundschafter voraus. Der eine kam zurück und rief uns schon von weitem zu, daß abgestürzte Felsblöcke das Tal versperrten. Ich begab mich hin und fand, daß kürzlich ein Bergrutsch stattgefunden hatte. Die Porphyrblöcke, die die Talrinne verrammelten, waren so groß wie Häuser, und zwischen ihnen hatte der Bach tiefe Tümpel gebildet, die nur mit einer dünnen Eishaut bedeckt waren. Wir mußten daher umkehren und den ganzen Weg nach dem vorigen Lager Nr. 279 zurückgehen, wieder über den greulichen Vorsprung hinüber, der auf dieser Seite so steil war, daß jedes Tier einzeln hinaufgeschoben werden mußte und man sich unten in acht zu nehmen hatte, wenn eine abgeglittene Last den Abhang hinunterrollte. Dann zogen wir noch eine Strecke im Sassertal weiter. Ein heftiger, eisiger Wind kam uns entgegen. Längs einer Felswand jagten die Hunde einen Hasen auf, der sich in ein Loch flüchtete, aus dem Kuntschuk ihn aber herauszog; das arme Tier wurde zum Verspeistwerden verurteilt. Unser Lager befand sich diesmal in einer beinahe vegetationslosen Gegend, und nach all den Flußübergängen des Tages klapperten jetzt Eiszapfen an den Seiten unserer müden Tiere.
Es ist wieder Abend. Die Ausläufer des Gebirges springen schroff und schwarz in das Tal vor wie gewaltige Sarkophage, auf denen die vom Mond beschienenen Schneefelder als Leichentücher ruhen. Die Ladakis singen nicht mehr, die Lieder sind ihnen auf den Lippen erfroren. Es ist entsetzlich still. Das Küchenfeuer flackert noch gelbrot im weißen Mondschein. Man glaubt den Frost draußen klingen zu hören.
Nachdem Gulam mir das letzte Kohlenbecken gebracht hat, entkleide ich mich, ziehe den großen, wollenen Schlafrock an, setze mich eine Weile buchstäblich über die Glut, um ein wenig Wärme in den Leib zu bekommen, ehe ich in meine Pelzhöhle krieche, und lächle über den gelben Hund, der draußen liegen muß und die zunehmende Kälte in den zornigsten und komischsten Tonarten ankläfft und anknurrt. Es nimmt mich nicht wunder, daß er wütend ist, denn die Kälte sank diese Nacht auf 24,6 Grad! Da hörte ich seltsame quiekende Töne aus Gulams Zelt. Wir hatten schon das nahe Bevorstehen eines freudigen Ereignisses geahnt, und ich erkundigte mich, ob die Puppyfamilie sich etwa vergrößert habe. Vier kleine Hündchen waren wieder zur Welt gekommen! Sie hatten gerade die kälteste Nacht, die wir bisher gehabt hatten, abgewartet. Gulam hatte von Filzdecken einen richtigen Vogelbauer hergestellt, in dem Puppy lag und ihre Jungen leckte. Zwei der Kleinen waren weiblichen, zwei männlichen Geschlechts; die ersteren wurden ersäuft, weil wir uns sagten, daß die letzteren größer und kräftiger werden würden, wenn sie alle Milch und Wärme, die eigentlich auf vier verteilt werden sollte, allein erhalten dürften. Ich saß am Vogelbauer und studierte die interessante Gruppe, bis ich so steifgefroren war, daß ich kaum wieder nach meinem Zelt gehen konnte. Am nächsten Morgen ging es den kleinen Kötern ganz vorzüglich; der eine jaulte ganz regelrecht und fand wohl nur, daß ihn das Schicksal in ein grimmig kaltes Land gebracht habe. Wir nahmen uns vor, sie gut zu behüten, sie würden mir angenehme Gesellschafter werden. Hier oben würden sie wenigstens von der Krankheit verschont bleiben, die ihre älteren Geschwister hingerafft hatte. Kuntschuk mußte sie auf dem bloßen Leibe tragen, um sie warm zu halten. Auf halbem Weg aber ließen wir Mama Puppy sich eine Weile mit ihren Kleinen beschäftigen, obgleich diese sich über das Milchgeschäft noch nicht ganz klar zu sein schienen.
Es wurde ein böser Marsch an diesem 17. Dezember! Man hört keine anfeuernden Rufe, die Karawane bewegt sich in schneidender Kälte und bei scharfem Wind apathisch und langsam vorwärts. Innerhalb einer halben Stunde schlafen die Füße ein und werden vollständig gefühllos. Wie ein Helmvisier habe ich mir die Enden des Baschliks bis unter die Augen mehrmals ums Gesicht gewunden, aber der Atem verwandelt sie in eine schwere Eiskruste, die an meinem Schnurrbart und dem Vollbart festfriert; letzteren habe ich seit Gartok wachsen lassen, damit er zu meiner bevorstehenden mohammedanischen Verkleidung passe. Alle Leute haben ihre Pelze angezogen. Staub und Erde fliegen umher, und unsere Gesichter sehen merkwürdig aus.
An einem Punkt, wo eine Karawane aus Jarkent lagerte, bogen wir rechts ab und zogen ein sehr enges Nebental hinauf, dessen Boden mit glashartem, glänzendem milchweißem Eis bedeckt war und wie Marmorfußboden zwischen den Felswänden aussah. Glücklicherweise hatten die Jarkenter das Eis schon mit Sand bestreut, was jedoch mehrere unserer Tiere nicht vor dem Fallen bewahrte, so daß sie neu beladen werden mußten.
Als wir endlich in der Gegend Long lagerten, war es schon um drei Uhr 18 Grad kalt. Eine zweite große Jarkentkarawane, die sich auf dem Heimweg befand, hielt hier Rast. Ihre Führer meinten, ob wir nicht zusammen über den Kara-korum-Paß ziehen wollten, aber ich sagte nein, unter dem Vorwand, daß wir nur ganz kurze Tagemärsche machen könnten. Kontrolleure, die den Chinesen in Jarkent erzählen konnten, daß ich wieder nach Tibet hineingezogen sei, waren gerade das, was ich vor allem vermeiden mußte!
Hier lag ein armer Mann, dem auf dem Kara-korum-Paß beide Füße erfroren waren, so daß das Fleisch und die Zehen buchstäblich abfielen. Er kroch an unser Lager heran und weinte über sein unglückliches Schicksal. Er war bei der Jarkentkarawane, der wir zuerst begegnet waren, angestellt gewesen; als er aber infolge seiner Frostwunden arbeitsunfähig geworden, hatte der grausame Kaufmann ihm mitten in der Wildnis den Laufpaß gegeben und ihn einfach zurückgelassen. In solchem Fall ist es recht schwer, zu entscheiden, was man zu tun hat. Kurieren kann man ihn nicht, ihn mitnehmen und seinetwegen einen Teil der Karawane opfern, kann man auch nicht. Er selber sagte, daß er nach Schejok kriechen wolle – aber wie sollte er über den Fluß kommen? Ich ließ ihn sich an unserem Feuer wärmen, Tee trinken und essen, und gab ihm, als wir am 18. nach einer nächtlichen Kälte von 31,4 Grad weiterzogen, Tsamba auf mehrere Tage, Zündhölzer und eine Geldsumme, die ihn instand setzte, bei einer nach Schejok ziehenden Karawane ein Pferd zu mieten. –
Der heutige Marsch führte östlich nach einem Orte Bulak (die Quelle); er hätte eigentlich Guristan, der Friedhof, heißen müssen, denn hier lagen mindestens zwanzig tote Pferde. Während eines zweistündigen Rittes hatte ich 63 Pferdeleichen gezählt; es ist seltsam, daß der Handel auf diesem Karawanenwege, der der höchste auf Erden ist, doch noch gewinnbringend sein kann!
Von da aus führte der Weg in dem engen, zerklüfteten Murgutal aufwärts. Erst bergauf und bergab über Hügel, auf denen Massen toter Pferde, die einst stark und fett gewesen sind, uns den Weg zeigen. Dann auf halsbrechend steilem Pfad in das tiefe Tal hinab, auf dessen Boden das Quellwasser geborstene Eisglocken gebildet hat. An den Abhängen der linken Talseite klettert man auf einem abschüssigen Zickzackweg wieder in die Höhe; die Schneemenge nimmt zu, und der Schnee hat sich besonders auf dem Pfade angehäuft; er ist glatt; ein Fehltritt des Pferdes, und man ist rettungslos verloren. Die Landschaft ist großartig, aber man hat keinen rechten Genuß davon, wenn es mittags um ein Uhr schon 17,6 Grad kalt ist! Und dann geht es wieder Hals über Kopf nach dem Talgrund hinunter, wo wir eine natürliche Blockbrücke passieren, bei der Menschenhände nachgeholfen haben. Unsere Richtung war östlich gewesen, wird aber jetzt immer nördlicher und nordwestlicher.
Die Schneemenge nimmt zu; die Sonne sinkt, die Schatten klettern an den rotgelben Bergen hinauf, der Wind wird stärker und man denkt: dauert dies noch eine Weile, so erfriere ich. Endlich machen wir am Terrassenfuß der rechten Talseite halt, wo die Schafe in eine Höhle getrieben werden, um sich über Nacht warm zu halten. Ohne Gefühl in den Gliedern lasse ich mich vom Sattel gleiten und sehne mich nur nach dem Feuer. Keine Spur organischen Lebens zeigt sich beim Lager 283. Die Pferde und Maulesel werden daher so gekoppelt, daß sie in einem dichten Haufen stehen.
In diesem Unglückslager machte ich die erste Entdeckung auf dieser neuen Reise durch Tibet! Abdul Kerim trat nämlich zu mir ans Feuer und sagte:
»Sahib, wir haben noch für acht bis zehn Tage Gerste für die Tiere, aber in dieser Zeit erreichen wir Schahidullah, wo man alles erhalten kann.«
»Acht bis zehn Tage?! Bist du toll? Gehorchst du meinen Befehlen nicht? Habe ich dir nicht ausdrücklich gesagt, Gerste auf 2½ Monate mitzunehmen?«
»Ich nahm einen Vorrat mit, der für die Reise nach Chotan genügte.«
»Sagte ich dir nicht, daß ich nicht auf der gewöhnlichen Straße nach Chotan ginge, sondern auf Umwegen, die wenigstens zwei Monate in Anspruch nehmen würden?«
»Ja, Sahib, ich habe unrecht gehandelt«, antwortete der alte Mann, und begann zu schluchzen. Abdul Kerim war ein Ehrenmann, aber er war dumm; ihm fehlte Muhamed Isas große Erfahrung.
»Du bist Karawan-baschi. Die Pflicht des Karawanenführers ist, für das Vorhandensein des auf der Reise nötigen Proviants zu sorgen. Wenn die zehn Tage vergangen sind, sterben unsere Tiere. Was gedenkst du dann zu tun?«
»Sahib, schickt mich mit einigen Tieren zum Gerstekaufen nach Schahidullah, ich kann in zwei Wochen wieder hier sein.«
»Du weißt, daß alles, was in Schahidullah passiert, dem Amban von Chotan berichtet wird. Die Chinesen dürfen aber von meinem Vorhaben nichts ahnen!«
Mein erster Gedanke war, Abdul Kerim sofort zu entlassen und an Hadschi Naser Schah wegen neuer Vorräte zu schreiben, die uns auf gemieteten Tieren heraufgebracht werden könnten. Aber was würde man in Westtibet und Ladak denken, wenn man sah, daß ich mir neuen Proviant aus Leh kommen ließ, während ich kaum acht Tagereisen von Schahidullah entfernt war, das auf dem geraden Wege nach Chotan liegt! Mein ganzer Plan wäre verraten gewesen und hätte mißlingen müssen! Ich wäre von den ersten Nomaden angehalten worden, vielleicht schon von den Engländern, denen ich bisher so gut entgangen war! Sie brauchten den Eingeborenen nur zu verbieten, mich mit Proviant und Lasttieren zu versorgen. Verschaffte ich mir aber alles, was wir bedurften, aus Schahidullah, so mußte der Chotaner Amban darüber nach Kaschgar berichten, von wo aus eine Telegraphenlinie durch ganz Asien nach Peking geht, und wo Exzellenz Na Tang sich ganz unerbittlich gezeigt hatte, als der Gesandte Wallenberg sich sehr bemüht hatte, mir die Erlaubnis zu einer neuen Reise durch Tibet zu erwirken. Hier oben in dem öden Tal war meine Stellung stark. Still und vorsichtig hatten wir uns über das britische Gebiet geschlichen, ohne Argwohn zu erregen. Sowie wir aber mit der Außenwelt in Berührung kamen, saß ich fest!
Den ganzen Abend saß ich in meinem Zelt, überlegte nach allen Seiten und maß mit dem Zirkel die Entfernungen auf meinen Karten. Wir waren von meinem Lager Nr. 8 im vorigen Jahr, wo das Weidegras so vorzüglich gewesen war, ungefähr 160 Kilometer entfernt. Soweit würden wir ohne die geringste Schwierigkeit kommen können. Aber von dort hatten wir dann bis nach der Gegend am Tong-tso noch 650 Kilometer! Indessen mußten wir, ehe wir dort ankamen, unterwegs Nomaden und Weideland antreffen. Die Pferde würden ja jedenfalls verloren sein, aber die tibetischen Maulesel waren nach Gulam Rasuls Aussage gewöhnt, für sich selber zu sorgen, und bekamen nie Gerste. Es kam aber zunächst darauf an, auf das freie, offene Tschang-tang hinaufzugelangen und diese scheußliche Mausefalle zu verlassen, das Schejoktal, das uns immer weiter nach Nordnordwesten geführt hatte. Auch wenn wir alles opfern müßten und auf allen Vieren nach dem ersten Zelt würden kriechen müssen, konnte ich nicht kapitulieren; von dem einmal gefaßten Plan durfte nicht um Haaresbreite abgegangen werden.
Die Nacht kam mit klarem Himmel, funkelnden Sternen und scharfem Frost; schon um neun Uhr hatten wir -29,1 Grad. Die Tiere standen still in einem dichten Haufen, um sich aneinander zu wärmen. Wenn ich gelegentlich aufwachte, hörte ich sie nicht; ich konnte glauben, sie seien verschwunden. Das Minimum sank auf -35,1 Grad! Als ich geweckt wurde, hatte Kuntschuk sich schon als Kundschafter in einem breiten Tal, das gerade hier von Osten mündete, umgesehen und, soweit er hatte sehen können, einen vortrefflichen Weg gefunden. Vom Lager Nr. 283 hatten wir noch zwei Tagereisen nach dem gefürchteten Kara-korum-Paß, den ich umgehen wollte. Zogen wir durch das Nebental östlich aufwärts, so mußten wir bald an den Hauptkamm des Kara-korum-Systems gelangen und ersparten zwei Tagereisen. Ich beschloß, es zu versuchen.
So zogen wir denn am 20. Dezember in laut knarrendem Schnee nach Ostnordosten hinauf. Das Tal sah vielversprechend aus, um so mehr als wir an einigen Stellen alte Pferdespuren erblickten. Mitten im Tal zog sich ein mit glattem, tückischem Eis bedecktes Bachbett hin, sonst war alles Schutt. Nachdem wir einen Hügel passiert hatten, der dicht mit Burtsestauden bestanden war, hörte die Vegetation ganz auf. Um ein Uhr hatten wir 21 Grad Kälte. Der Bart ist weißbereift, mein Gesichtstuch hat sich in einen Eisklumpen verwandelt, und die Tiere sind alle weißhaarig geworden. Stundenlang schreitet der Zug langsam bergauf. An einigen Stellen verengt sich das Tal so, daß es nur noch 2 Meter breit ist. Die beste Zeit des Tages war schon vorüber, als die Karawane plötzlich haltmachte. Vorn an der Spitze war alles still, und ich wartete mit Kutus der Dinge, die da kommen sollten.
Nach einer Weile erschien Abdul Kerim sehr niedergeschlagen mit der Meldung, daß das Tal an zwei Stellen unpassierbar sei. Ich begab mich dahin. Die erste Blocksperre ließ sich forcieren, aber die zweite war schlimmer. Wir hätten allerdings das Gepäck auf dem Eis zwischen und unter den Blöcken vorwärtsziehen können, aber für die Tiere war kein Weg vorhanden. Sollten wir es versuchen, einen Weg anzulegen, auf dem wir den Tieren mit vereinten Kräften einzeln über die Blöcke hinweghelfen könnten?! Ja, aber erst mußten Leute talaufwärts geschickt werden, um nachzusehen, ob vielleicht noch mehr solche Sperren zu überschreiten waren. Als sie mit der Nachricht wiederkehrten, daß der Weg droben noch schlechter sei, befahl ich das Lager aufzuschlagen, da die Abendschatten zu fallen begannen.
Du liebe Zeit, welch ein Lager! Kein Grashalm, kein Wasser! Wieder saßen wir in einer Mausefalle zwischen steilen Bergwänden, von deren Seiten der Frost jeden Augenblick vernichtende Blöcke absprengen konnte. Die Tiere scharrten grassuchend im Schnee. Während der Nacht gingen sie umher und stolperten über die Zeltstricke. Die Kälte ging auf 34,8 Grad hinunter! Der eine kleine Hund geriet auf Abwege, trieb sich im Freien herum und kam auf eigene Hand in mein Zelt; zu seinem Glück erwachte ich von dem Winseln und beherbergte ihn bei mir im Bett, wo er es warm und gut hatte.
Ein frostiger Morgen! Man mußte sich hüten, Metall zu berühren, es brannte wie Feuer! Ein Esel drang in mein Zelt und untersuchte meine Waschschüssel nach etwas Eßbarem. Zu seiner großen Verwunderung blieb sie ihm an der Nase hängen, und er nahm sie eine Strecke weit mit. Die hungrigen Tiere hatten während der Nacht zwei leere Säcke und sechs Stricke ausgezehrt und gegenseitig ihren Schwänzen übel mitgespielt. Im Winter ist das Leben hier oben eigentlich nur ein verzweifelter Kampf mit dem Erfrieren.
Der Tagesbefehl erging nun dahin, an einer Stelle, wo Japtschan- (Japkak) und Burtsestauden standen, zu lagern und den ganzen nächsten Tag dort zu bleiben. Bei 31 Grad Kälte brach ich auf und fand das Lager schon auf der rechten Talseite bereit. Die Tiere wurden sofort auf die bewachsenen Hügelabhänge geschickt, und dort weideten sie mit gutem Appetit die hartgefrorenen, dürren Stauden ab. Während des Ruhetages wurden Eisstücke aus dem Bache losgehauen und in den beiden großen Leutekesseln aufgetaut. Pferde und Maulesel durften sich dann der Reihe nach satt saufen.
In der Nacht trat dann ein hochwillkommener Witterungsumschlag ein, der ganze Himmel war bedeckt, und das Minimum sank auf nur -17,2 Grad; es kam uns am Morgen ordentlich warm vor. Einige Maulesel waren durchgebrannt, Lobsang fand sie aber nach eifrigem Suchen wieder. Bald nach der Karawane brach ich mit Kutus auf. Wir waren aber noch nicht weit gelangt, als wir Muhamed Isas Schimmel aus Schigatse mager und steifgefroren im Schnee liegen sahen! Er war schon einige Tage kümmerlich gewesen, und die letzten Strapazen hatten ihm nun den Rest gegeben. Erschöpft und abgezehrt bedurfte er wirklich einer langen, langen Ruhe.
Nach einer Weile passierten wir den Talknoten und das Unglückslager Nr. 283 und waren nun wieder auf dem großen Karawanenweg, der Straße der toten Pferde! In einer Schlucht lagen vier ganz dicht nebeneinander, als hätten sie noch im Tode Gesellschaft haben wollen; ein großer Apfelschimmel hatte sich noch nicht verändert, aber ein zweites Pferd sah schon aus, als ob es ausgestopft worden sei, ein drittes glich mit den von sich gestreckten steifen Beinen einem umgefallenen Turnbock. Einige guckten nur teilweise aus dem Schnee hervor; andere waren in seltsam rückwärts zusammengekrümmter Stellung zusammengebrochen; die meisten aber lagen so, als habe der Tod sie überrascht, als sie sich gerade nach einer großen Anstrengung ausruhen wollten. Die Haut spannte sich direkt über Rückgrat und Rippen, und sie sahen von der Rückseite intakt aus, aber von der anderen Seite sah man, daß sie nur noch aus einem leeren, trocknen und holzharten Gerippe bestanden, das rasselte, wenn der gelbe Hund, der unterwegs nichts weiter zu fressen hatte, daran herumzerrte. Die Hunde bellten die ersten Kadaver noch an, jetzt aber war ihnen dieser Anblick schon längst nichts Neues mehr. Welche Leiden und welch verzweifelten Kampf ums Leben haben diese öden Gebirge im Lauf der Zeiten mit ansehen müssen! Wenn man des Nachts wach liegt, glaubt man die Seufzer der entkräfteten Lasttiere und ihr mühsames Atmen auf dem geduldigen Gang zum Tode zu hören, einen endlosen Reigen zum Tode verurteilter Veteranen zu sehen, die im Dienst grausamer Menschen nicht weiter können. Wenn die Hunde in den stillen Winternächten draußen bellen, scheinen sie Gespenster und Erscheinungen anzubellen, die sich mit stolpernden Schritten herauszuarbeiten suchen aus den sie festhaltenden Schneefeldern, die noch zwischen ihnen und Ladaks saftigen Weiden liegen. Wenn irgendein Weg in der Welt den Namen » Via dolorosa« verdient, so ist es der Karawanenweg über den Kara-korum-Paß, der Ostturkestan mit Indien verbindet! Wie eine ungeheure Seufzerbrücke überspannt er mit seinem luftigen Bogen das höchste Bergland Asiens und der ganzen Erde.
Immer höher schreitet unser langsamer Zug das zerklüftete Tal hinauf, zwischen dessen steilen Felsen hier und dort kleine Gletscherzungen hervorschimmern. Oft sieht man alte Lagerplätze mit aufgetrennten Packsätteln. Orkane aus Süden herrschen hier; feiner, roter Staub von verwittertem Sandstein weht wie blutige Wolken durch das Tal und färbt die Schneefelder rot. Das Tal schrumpft in einen Hohlweg zusammen, wo ein etwas geschützterer Platz den Namen » Dovlet Bek ölldi« (die Stelle, wo Dovlet Bek starb) trägt. Wer war das? Niemand weiß es mehr, aber der Name hat sich erhalten. Vielleicht ein gewöhnlicher Kaufmann aus Chotan oder Jarkent oder ein Pilger, der auf der Wallfahrt starb und daher die Türen des Paradieses weit offen gefunden hat? Denn über den Kara-korum-Paß geht auch der Hauptwallfahrtsweg von Ostturkestan nach Mekka.
Immer schmaler wird das Tal, ein Korridor zwischen roten Konglomeratwänden. Dies ist das Kisil-unkur oder »das rote Loch«, ein passender Name. Hier hat die Karawane ihr Lager aufgeschlagen. Keine Spur organischen Lebens. Die Tiere stehen auf einem Haufen, die Maulesel knabbern an dem gefrorenen Dung früherer Gäste. Von diesem Loch aus steigt der Weg nach dem Hochplateau des Dapsang hinauf, wo jetzt der Schneesturm tobt, und auch hier im Tal tanzen die Schneeflocken wirbelnd in der Luft. In der Dämmerung war Kuntschuk (Abb. 301) mit nur noch zwölf Schafen angekommen; die übrigen waren ihm unterwegs erfroren! Die Nacht senkt sich unheimlich und drohend über den ewigen Schnee herab. Alles ist hier oben so düster und so kalt; nichts Lebendes gibt es weit und breit, und dennoch erfüllt der gelbe Hund die Schlucht mit seinem einsamen Bellen. Wir sind hier in 5128 Meter Höhe.
301. Kuntschuk.
Die Männer hatten ihre Zelte so aufgeschlagen, daß sie einander nahe gegenüber lagen und in dem Zwischenraum brannte nur ein recht spärliches Feuer – wir mußten mit dem Brennholz aus Köteklik sparsam umgehen. Die Mohammedaner stimmten ein weiches, wohllautendes Lied an, in dessen rhythmischem Aufundniederwogen eine starke Stimme dann und wann ein dumpfes » Allahu ekbär« intonierte. Als Gulam mit dem Kohlenbecken kam, fragte ich ihn nach der Bedeutung und erhielt die Antwort, daß sie eine »Namas« oder Gebethymne zu Allah emporsendeten, damit der Höchste uns morgen vor Schneesturm bewahre. Denn wenn eine Karawane auf den Höhen des Dapsang vom Schneesturm überfallen wird, ist sie verloren.
An schweren Tagen hörte ich später noch oft diese melodische Hymne. Sie berührte mich stets schmerzlich. Nicht so wie der vorwurfsvolle, mahnende Klang der Kirchenglocken, die eben zum Gottesdienst läuten, wenn ich an einer Kirchentür vorübergehe ohne einzutreten, sondern weil die Leute diese Hymne nur dann sangen, wenn sie mutlos waren und unsere Lage als verzweifelt ansahen. Es war, als hätten sie mich daran erinnern wollen, daß meiner eine Niederlage warte und daß ich diesmal den Bogen zu stark gespannt habe!