Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundvierzigstes Kapitel.
Eine Nacht auf dem Manasarovar.

Als Guffaru mit den Seinen verschwunden war, wurde die kleine Karawane, die mich begleiten sollte, in neue Ordnung gebracht. Ihr Führer wurde Tsering, die übrigen bei mir bleibenden Männer waren: Bolu, Tundup Sonam, Rabsang, Rehim Ali, Schukkur Ali, Namgjal, Adul, Lama, Ische, Galsang und Rub Das. Der Gova von Toktschen erhielt einen Kaschmirschal, einen Turban und einige Rupien für die Dienste, die er mir geleistet hatte; auch alle anderen Tibeter, die sich uns freundlich und hilfreich erwiesen hatten, wurden beschenkt. Die Teilung der Karawane hatte noch den Vorteil, daß man glaubte, wir zögen wie bisher, nur auf verschiedenen Wegen, nach demselben Ziel und ich würde mich von Gartok aus nach Ladak begeben, wie es der Paß vorschrieb!

Mit Robert, Rabsang und zwei Tibetern ritt ich das Toktschental hinunter und über die südwestlichen Hügel. Rechts breitet der heilige See seine türkisblaue Fläche aus; welch ein herrliches, fesselndes Schauspiel! Man glaubt, leichter und freier zu atmen, man wird wieder lebenslustig, man sehnt sich auf seine blaue Tiefe und seine heiligen Wellen hinaus. Denn der Manasarovar ist der heiligste und berühmteste aller Seen der Erde, ein Ziel der Wallfahrt und der Sehnsucht unzähliger Hindupilger, ein in uralten religiösen Hymnen und Liedern besungener See, in dessen klarer Flut die Asche des Hindu ein ebenso gesuchtes und geehrtes Grab findet wie in den trüben Fluten des Ganges! Während meines Aufenthaltes in Indien hatte ich Briefe von Hindus erhalten, die mich baten, den ehrenreichen See und den heiligen Berg Kailas zu erforschen, den Berg, auf dessen Scheitel hier oben im Norden ein ewiger Schneedom ruhe und auf dessen Gipfel einer der Götter der indischen Dreieinigkeit, Schiwa, in seinem Paradiese inmitten eines Geisterheeres weile; und sie sagten mir, daß sie, wenn ich ihnen eine genaue Beschreibung des Sees und des Berges geben könne, meiner in ihren Gebeten gedenken wollten und daß ihre Götter mich segnen würden! Aber nicht deshalb hatte ich mich schon so lange hierhin gesehnt. Die Tiefe des Sees war noch nie durch Lotungen festgestellt worden – ich wollte mein Lot auf seinen Grund hinablassen und eine Karte seines Bettes aufnehmen; ich wollte seiner Kontur folgen und erforschen, wieviel Wasser sich an einem Sommertag in seinen Schoß ergießt; ich wollte sein hydrographisches Verhältnis zu seinem Nachbarsee im Westen, dem Rakas-tal, untersuchen, ein Problem, das die verschiedenen Reisenden, die diese Gegend durchzogen haben, von Moorcroft und Strachey an bis zu Ryder und Rawling, auf verschiedene Weise erklären; ich wollte etwas von den Klöstern sehen und das Leben der Hindu- und tibetischen Pilger kennen lernen; denn auch den Lamaisten ist der See heilig, und sie nennen ihn Tso-mavang oder Tso-rinpotsche, »den heiligen See«. Wie würden wohl zwei so verschiedene Religionen, wie der Hinduismus und der Lamaismus, dem Manasarovar und dem Kailas göttliche Anbetung zuteil werden lassen, wenn diese nicht durch ihre machtvolle Schönheit das menschliche Gemüt angesprochen und einen tiefen Eindruck hinterlassen hätten, wenn diese nicht wirklich eher dem Himmel als der Erde anzugehören schienen? Schon die erste Aussicht, die ich jetzt von den Uferhügeln hatte, ließ mich vor Freude über die wunderbare, großartige Landschaft und ihre überwältigende Schönheit in Tränen ausbrechen. Der eirunde See, der im Süden ein wenig schmäler ist als im Norden, liegt wie ein ungeheurer Türkis in der Einfassung zweier der herrlichsten, berühmtesten Bergriesen der Erde, des Kailas im Norden und des Gurla Mandatta im Süden, zwischen den gewaltigen Ketten, über denen die beiden Berge ihre Scheitel von blendend weißem, ewigem Schnee erheben. Ja, schon jetzt empfand ich den starken Zauberbann, der mich an die Ufer des Manasarovar fesselte, und wußte, daß ich sie nicht eher gutwillig verlassen würde, als bis ich mich an dem Rauschen der Wellen müde gelauscht hätte!

Der heilige See Manasarovar mit dem Kailas im Hintergrund, von Tugu-gumpa aus.
Aquarell des Verfassers.

Ich saß dort oben wohl eine Stunde und freute mich an der unvergleichlichen Schönheit der Landschaft. Schwacher Wellengang kräuselte die Wasserfläche, deren Mitte so blank war, als hätte man Öl auf den See gegossen. Die Tibeter sagten, daß er, wenn es nicht stürme, stets in der Mitte glänzend sei. Im Südsüdwesten und im Südwesten erblickte man beide Gipfel des Gurla Mandatta, von denen der westliche sehr flach ist und an den Mus-tag-ata im östlichen Pamir erinnert. Die Tibeter nannten den Berg bald Namo, bald Memo-nani. In S 60° W steigt hinter dem Purangtal eine Reihe schneebedeckter Berge auf. Im Westnordwesten zeigte man mir den kleinen, pyramidenförmigen Hügel, wo sich Tschiu-gumpa am Ufer des Wasserarmes, der einst nach dem Rakas-tal hinströmte, erhebt. Im Nordwesten liegen zwei flache Lagunen am Ufer des Manasarovar, und hinter ihnen erheben sich die Ketten und Verzweigungen, die zum Transhimalaja gehören und unter denen der Kailas oder Kang-rinpotsche, »der heilige Berg«, auch Gangri oder »der Eisberg« genannt, den Horizont beherrscht, wenn nicht Wolken seinen Gipfel verhüllen. Und schließlich sehen wir in N 20° W die Doppelspitze Pundi unweit des Ufers und im Norden die beiden Täler Patschen und Patschung mit Straßen, die über die Wasserscheide des Transhimalaja nach Tschang-tang hinaufführen.

Als ich unsere Führer fragte, was sie zu einer Bootfahrt quer über den See meinten, erwiderten sie, ohne sich zu bedenken, daß eine solche Fahrt unmöglich sei; Menschen, die sich auf einen See hinauswagten, der das Heim der Götter sei, müßten dabei umkommen! Und in der Mitte des Tso-mavang sei das Wasser nicht so eben wie an den Ufern, sondern es bilde dort eine durchsichtige Glocke, auf deren runde Wölbung kein Boot hinauffahren könne; und selbst wenn es uns gelinge, das Boot hinaufzubringen, werde es auf der anderen Seite in solcher Fahrt hinunterrutschen, daß es kentern müsse, und wir würden, da wir den Zorn des Seegottes erweckt hätten, in den Wellen umkommen.

Wir ritten nach Südsüdwesten über die Hügel nach Serolung, dem goldenen Tal, in dessen Schlucht das Kloster Serolung-gumpa versteckt liegt. Dort blieb ich vier Stunden, um Skizzen zu zeichnen und Notizen zu machen. Serolung, das 30 Mönche hat, von denen die meisten gerade in der Umgegend umherstreiften, ist eines der acht Klöster, die wie Edelsteine in die Kette eingefaßt sind, welche die Pilger bei der Umwanderung des Sees spannen – um Verdienste in einer künftigen Daseinsform zu erlangen, von der Schuld der Sünden und den Qualen des Fegefeuers befreit zu werden, ja vielleicht einst zu Füßen der Götter sitzen und aus goldenen Schalen Tsamba essen zu dürfen!

Am Eingang des Serolungtales hatten wir dicht am Strand das Lager Nr. 212 aufgeschlagen. Der Uferstreifen ist hier ziemlich schmal, an den Hügeln, die sich auf seiner Ostseite erheben, sind sechs horizontale Strandlinien sichtbar, deren höchste 49½ Meter über dem jetzigen Spiegel des Sees liegt, der sich 4602 Meter über dem Meere ausdehnt!

Am 27. Juli schlief ich gründlich aus und benutzte dann den Tag zu Vorbereitungen zu der ersten Lotungslinie, die diagonal über den See S 59° W gehen sollte, wo sich im Rahmen der Seehügel eine Einsenkung zeigte. Ich wartete auf gutes Wetter, aber der Wind wehte heftig, und die Brandung schlug schäumend gegen das Ufer. Ich beschloß daher bis zur Nacht zu warten, die in letzter Zeit windstiller gewesen war als der Tag. Bei einer Probefahrt hatten wir nicht weit vom Ufer schon über 40 Meter Tiefe gefunden und machten daher eine 150 Meter lange Lotleine zurecht. Vielleicht würde auch sie nicht lang genug sein, denn ein See, der zwischen so hohen Bergen liegt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach tief. Schukkur Ali sollte mich begleiten; er nahm sein Schicksal mit dem gewöhnlichen Gleichmut hin, aber Rehim Ali, das andere Opfer, ängstigte sich; bei Tage gehe es wohl an, meinte er, aber in der finsteren, unheimlichen Nacht auf einem so großen See! Das wird gewiß dieselbe Geschichte wie auf dem Lake Lighten, dachte er.

Als die Sonne unterging, wurde der Wind stärker, und im Südwesten zogen schwere Wolken herauf. Um sieben Uhr war die ganze Gegend pechfinster, kein Stern funkelte am Himmel, von den Uferkonturen und den Schneebergen sah man keine Spur, und der See verschwand in der schwarzen Nacht. Eine Stunde später legte sich der Wind aber, die Luft wurde vollkommen ruhig, nur die Wellen schlugen noch in eintönigem, rhythmischem Takt ans Ufer. Der Rauch der Lagerfeuer stieg senkrecht in die Luft.

Nun gab ich Befehl zum Aufbrechen. Das Gepäck wurde zurechtgelegt, der Mast eingesetzt, um vorhanden zu sein, wenn wir günstigen Segelwind erhalten sollten. Proviant auf zwei Tage wurde im Boote verstaut. Ich trug eine Lederjacke, Kaschmirstiefel und einen indischen Strohhelm und saß auf einem Kissen und einem zusammengelegten Pelz an der Backbordseite des Steuerruders, auf dessen anderer Seite die Lotleine mit ihren Knoten wurfbereit über der Reling hing. Das Log, Lyths Strommesser, war am Boot befestigt, um die ganze Länge des zurückgelegten Weges zu registrieren, Kompaß, Uhr, Notizbuch und Kartenblätter, alles lag dicht bei mir und wurde durch eine chinesische Papierlaterne erhellt, die, wenn ich ihres Lichtes nicht bedurfte, mit einem Handtuch verdunkelt wurde. Das Handtuch benutzte ich nach jeder Lotung auch zum Abtrocknen meiner Hände. Rehim Ali nahm in der vorderen Bootshälfte Platz, Schukkur Ali in der Achterhälfte, wo wir es recht eng hatten und aufpassen mußten, uns nicht in die Lotleine zu verwickeln.

Tsering betrachtete das ganze Abenteuer recht skeptisch. Er sagte, der ganze See sei voller Wunder und im besten Fall würden wir von geheimnisvollen Mächten wieder zurückgetrieben werden, wenn wir eine Strecke weit hinausgefahren seien. Und darin gab ihm ein Tibeter recht, der erklärte, daß wir das westliche Ufer nie erreichen würden, wenn wir auch ruderten, was das Zeug halte, denn der Seegott werde unser Boot festhalten; wir würden zwar glauben, daß es sich vorwärtsbewege, aber in Wirklichkeit werde es sich nicht von der Stelle rühren und schließlich werde der zürnende Gott es in die Tiefe hinabziehen!

Robert hatte Befehl, im Lager Nr. 212 liegen zu bleiben, bis wir wieder zurückkämen; aber als wir um neun Uhr vom Ufer abstießen, riefen uns alle mit so warmem, weichem Ton einen Abschiedsgruß nach, als ob sie glaubten, daß sie uns zum letztenmal gesehen hätten! Die Stimmung wurde durch die Blitze nicht gehoben, die im Süden zuckten und Sturmwarnungen sein konnten. Die Dunkelheit war jedoch schon weniger dicht, denn der Mond war bereits im Anzug, obwohl ihn die Hügel, die sich hinter dem Lager erhoben, noch verdeckten. Aber sein Licht warf magischen Glanz über den See, und im Süden erhob sich der Gurla Mandatta wie ein in ein weißes Laken von Mondenglanz, Schneefeldern und Gletschern gehülltes Gespenst.

Auf meinen Befehl griffen die Ruderer fest in die Ruder, und fort glitt das Boot vom Ufer, auf dem die unseren in einer schweigenden, nachdenklichen Gruppe standen. Eine Weile sahen wir noch unsere Lagerfeuer, aber sie verschwanden bald, da sie beinahe in gleicher Höhe mit der Wasserfläche brannten. Robert erzählte mir später, daß es eigentümlich ausgesehen habe, als das kleine Boot in die Dunkelheit hinausgefahren sei; infolge der brennenden Laterne und ihrer Reflexe auf dem Mast sei es anfangs sichtbar gewesen, aber als es auf den vom Mond erhellten Teil des Sees hinausgekommen sei, habe es nur wie ein kleiner schwarzer Punkt ausgesehen, der bald verschwunden sei.

Dunkel und geheimnisvoll gähnte der große See vor uns in der Nacht, und unter uns lauerten unbekannte Tiefen. Noch ist die Kontur der Uferhügel hinter uns sichtbar, aber wir sind noch nicht weit gelangt, als auch sie von höheren, ferner liegenden Bergen, die nach und nach auftauchen, verschlungen wird. Als wir 20 Minuten gerudert sind, halten wir und lassen das Lot hinunter – 41 Meter. Das Rauschen der Uferbrandung ist der einzige Laut, der die nächtliche Stille unterbricht, außer dem Plätschern der Ruder und dem Lied der Ruderer, die im Takte der Ruderschläge singen. Beim nächsten Lotungspunkt betrug die Tiefe 43 Meter. Wenn der Seegrund nicht schneller abfällt, reicht unsere Lotleine. Jede volle Stunde messe ich die Temperatur der Luft und des Wassers. Schon jetzt stellt sich der Gott des Schlafes ein; Schukkur Ali gähnt bei jedem neunten Ruderschlag, aber jedes Gähnen ist so lang, daß es sich über drei Ruderschläge erstreckt!

Die Luft ist vollkommen ruhig. Eine langgezogene, blanke Dünung versetzt das Boot in eine leicht schaukelnde Bewegung. Alles ist still und seltsam stumm, und unwillkürlich frage ich mich, ob wohl noch andere Wesen als wir dem Plätschern der Ruder lauschen. Es ist warm bei 8,3 Grad um elf Uhr nachts. Die beiden folgenden Tiefen betrugen 43,5 und 50 Meter. Meine Ruderer verfolgen die Lotungen mit gespanntem Interesse und sehnen sich nach dem Punkt, hinter dem die Tiefen abnehmen. Sie finden es unheimlich und graulich, in dunkler Nacht über so große Tiefen hinzugleiten. Wieder zucken blaue Blitze hinter dem Gurla Mandatta, der dann wie eine rabenschwarze Silhouette hervortritt, nachdem er eben noch in seinem Gewande mondbeglänzter Schneefelder weiß dagestanden hat. Eine Weile später flammte es am ganzen Südhimmel wie ein Feuermeer; die Blitze folgten einander Schlag auf Schlag, ihr Schein reichte bis an den Zenit hinauf, sie schienen eine Weile zitternd hinter den Bergen zu stehen, es wurde taghell, aber wenn sie erloschen waren, erschien das Dunkel noch undurchdringlicher als vorher, sie erhöhten den erhaben hochpoetischen, düstern Ernst der Nacht. In ihrem Schein sah ich die Gesichter der beiden Männer, sie waren bestürzt und unruhig und wagten die unheimliche Stille nicht mehr durch ihr Ruderlied zu unterbrechen.

Als ich das Lot auf dem fünften Punkt hinabsenkte, baten die beiden Männer um Erlaubnis, ihre Wasserpfeife anzünden zu dürfen. Die Tiefe war 55,1 Meter. Eine schwache Südwestbrise kräuselt die Dünung. Der Schrei eines Seevogels durchschneidet schrill die nächtliche Stille; er klingt uns so gesellschaftlich. Noch hört man schwaches Sausen vom Rauschen der Brandung am südöstlichen Ufer. Im Süden ballen sich die Wolken um das Haupt des Gurla Mandatta, die Brise hat aufgehört. Wir gleiten langsam auf dem pechschwarzen Wasser hin, zwischen dessen flachen Wellenbergen sich die Mondstraße in blanken Serpentinen ringelt; die Tiefen nehmen langsam zu: 55,9 Meter, 57,7, 58,5 und 64,8 Meter. Noch ist es 7,7 Grad warm, und ich brauche nicht an meinen Pelz zu denken.

Mit Diamanten in ihren dunkeln Haaren herrscht die Königin der Nacht über den heiligen See. Aber die Mitternachtsstunde schlägt, und die frühen Morgenstunden schreiten gar langsam dahin. An die Reling gelehnt genieße ich die Fahrt in vollen Zügen, denn nichts von allem, dessen ich mich aus meinen jahrelangen Wanderungen durch Asien erinnern kann, läßt sich an überwältigender Schönheit mit dieser nächtlichen Fahrt vergleichen. Man glaubt das große Herz der Natur seine leisen und doch mächtigen Schläge tun zu hören und ihre Pulse in den Armen der Nacht schwächer werden und in der Glut des Morgenrotes wieder erwachen zu fühlen. Es war, als ob diese Landschaft, die sich während des langsamen Verstreichens der Stunden verwandelte, nicht der Erde angehöre, sondern den äußersten Grenzen des unerreichbaren Weltenraumes; als liege sie dem Himmel, dem dunkeln Märchenland der Träume und der Phantasie, der Hoffnung und der Sehnsucht viel näher als der Erde mit all ihren Menschen, ihren Sorgen, ihren Sünden und ihrer Eitelkeit. Der Mond beschrieb seinen Bogen, sein unruhiges Spiegelbild zitterte auf der Flut und wurde von den Bootswellen zerstört.

Die Königin der Nacht und ihr Gewand wurden bleicher. Das dunkle Himmelsfeld geht mehr ins Hellblaue über, der Morgen nähert sich von Osten her. Es dämmert schwach über den östlichen Gebirgen, und bald stehen ihre Silhouetten scharf da, als seien sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten. Die Wolken, die eben noch weiß und flüchtig über dem See schwebten, nehmen eine schwache Rosafärbung an, die nach und nach kräftiger wird und sich in dem blanken Wasser spiegelt, auf dessen Fläche eine ganze Welt frischer Rosen hervorzaubernd; wir rudern zwischen schwimmenden Rosenbeeten, es duftet nach Morgen und reinem Wasser, es wird heller, die Landschaft erhält wieder Farbe, der neue Tag, der 28. Juli, beginnt seinen Siegeszug über die Erde. Nur ein verzauberter Pinsel und behexte Farben könnten das Bild malen, das sich meinen Blicken nun darbot, als das ganze Land noch im Schatten lag und nur der höchste Gipfel des Gurla Mandatta die erste Glut der aufgehenden Sonne auffing! Im siegreichen Lichte des Morgenrots hatte der Berg mit seinen Schneefeldern und Eiszungen noch silberweiß und kalt gestanden; aber jetzt! In einem Augenblick begann die äußerste Spitze des Gipfels purpurn wie flüssiges Gold zu glühen. Und die brillante Beleuchtung glitt allmählich wie ein Mantel an den Seiten des Berges herab, und die dünnen, weißen Morgenwölkchen, die tiefer unten die Halden umschwebten und auf einer scharf begrenzten Höhenschicht einen Gürtel bildeten, der ebenso freischwebte wie der Ring des Saturn und auch wie dieser einen Schatten auf die ewigen Schneefelder warf, auch sie wurden vergoldet und röteten sich in Purpurglanz, wie es kein Sterblicher beschreiben kann. Zauberisch breitet sich das Licht über dem See aus; ein Berggipfel nach dem anderen wird von der Sonne beleuchtet; die Einzelheiten der Landschaft treten immer deutlicher hervor; die Farben, die eben noch so leicht und flüchtig wie die eines jungen Mädchens im Ballkleid gewesen, werden schärfer, konzentriertes Licht häuft sich über den Gebirgen im Osten, und über ihre scharfe Kontur schießt ein Bündel blendender Strahlen vom oberen Rand der Sonne über den See. Und nun ist der Tag Sieger geblieben, und wie in einem Traumrausch versuche ich, mir klar zu werden, welcher Anblick auf mich den tiefsten Eindruck gemacht hat, die stille Mondnacht oder der Sonnenaufgang mit seinem warmen Rosenschimmer auf dem ewigen Schnee.

Erscheinungen wie diese sind auf Erden flüchtige Gäste, sie kommen und gehen in früher Morgenstunde, sie lassen sich im Leben nur einmal schauen, sie sind wie ein Gruß aus einer besseren Welt, wie ein Widerschein der Insel des Vogels Phönix. Tausend und abertausend Pilger sind im Lauf der Jahrhunderte um den See gewandert, und haben das Morgenrot und den Sonnenuntergang geschaut, aber nie haben sie die Bilder gesehen, die wir in dieser erinnerungsreichen Nacht von der Mitte des heiligen Sees aus erblickten! Bald aber verschwinden die zauberischen Licht- und Farbenwirkungen, die einander schnell abgelöst und mich gefesselt haben. Das Land wird alltäglich und von dichten Wolken beschattet. Der Kailas und der Gurla Mandatta verschwinden ganz und gar, nur ein Schneejoch fern im Nordwesten glänzt intensiv karminrot – nur dorthin dringt noch durch einen Wolkentunnel ein Bündel der Sonnenstrahlen. In derselben Richtung schillert der Seespiegel blau, nach Süden zu aber grün. Die Wildgänse sind aufgewacht, man hört sie auf ihren luftigen Fahrten miteinander schnattern, dann und wann schreit eine Möwe oder eine Seeschwalbe. Büschel von Seegras schwimmen umher. Der Himmel sieht drohend aus, aber die Luft ist still, und nur schwache Dünungen, glatt wie poliertes Metall, schaukeln auf einem Wasser, das wie der klarste Curaçao aussieht. Das Boot gleitet seinem Ziel trostlos langsam entgegen, denn jetzt, sechs Uhr morgens, sind meine Ruderer vor Müdigkeit und Schlaflust ganz am Ende ihrer Kräfte. Sie schlafen abwechselnd beim Rudern ein. » Hem-mala-hém«, ruft Schukkur Ali, die letzte Silbe betonend, wenn er das Ruder energisch eintaucht, aber er schläft inzwischen ein und das Ruder schwebt in der Luft, seine eigene Stimme weckt ihn, er taucht wieder ein und entschlummert von neuem!

Die Stunden vergehen, nichts aber zeigt, daß wir uns unserem Ziele nähern. Wir können nicht entscheiden, welches Ufer uns das nähere ist, wir scheinen selbst der Mittelpunkt dieses grenzenlosen Sees zu sein. Mitten im Gurla-Mandatta-Massiv zeigt sich eine gewaltige, tief eingeschnittene Talschlucht, deren Eingang unter dem dichten Wolkenmantel malerisch hervortritt; einen Moment lang, als das übrige Land im Schatten lag, erhellte die Sonne ihr Inneres, es sah phantastisch aus, als ob sie uns das Portal eines riesenhaften Domes öffne, dessen Halle unzählige Kerzen erleuchteten. Die Täler und Erosionsrinnen zwischen den verschiedenen Vorsprüngen des Gebirgsstockes treten scharf hervor und schlängeln sich nach dem See hinunter, zwischen flachen Schuttkegeln hindurch, deren äußerster Rand auf dem Seegrund die wechselnden Tiefen verursacht. Diese nahmen jetzt wieder zu und betrugen 61, 62, 65 und 73 Meter. Vom vierzehnten Punkt an, diesen selbst mitgerechnet, wurde auch die auf dem Seegrund herrschende Temperatur untersucht. Die Lotungen nahmen aber Zeit in Anspruch. Erst mußte die Leine mit ihren 70 Metern ablaufen und dann still gehalten werden, bis das Thermometer die Grundtemperatur annahm; dann mußte sie wieder eingeholt, die Tiefe aufgezeichnet und das Thermometer abgelesen, dann die Temperatur des Oberflächenwassers und der Luft bestimmt und das Log abgelesen werden.

Einen Kilometer nach Norden hin haben die blanken Wellen der Dünung einen seltsam brandgelben Ton, und ich kann mir gar nicht erklären, woher dieser eigentümliche Reflex kommt. Im Südwesten verdichtet sich das Gewölk, und eine Brise fährt über den See hin, ein Wellensystem hervorrufend, das die Fahrt des Bootes noch mehr hemmt. Rehim Ali kann sich nicht länger wach halten, und Schukkur Ali ist in seiner unwiderstehlichen Schlaflust gar zu komisch. Der alte Mann sieht wie ein seebefahrener, verwitterter Lotse im Südwester aus, in seiner Ladakimütze mit den ausgebreiteten Zipfeln. Er schlummert unschuldig mit hochgehobenen Rudern und rudert im Schlaf ein über das andere Mal in der Luft, wobei er immerfort sein unermüdliches »Schu-ba-la-la« ruft. Er redet im Schlaf. Rehim Ali erwacht davon und fragt ihn, was er denn wolle, und dann weiß keiner, um was es sich eigentlich handelt. Gegen sieben Uhr machte der Sandmann auch mir einen Besuch, wurde aber nicht angenommen. Nur einen Augenblick sah ich rote Wildesel auf dem Wasser laufen, hörte entzückendes Harfenspiel in der Luft und sah den großen schwarzen Kopf der Seeschlange aus den Wellen auftauchen, sinken und wieder in der Tiefe verschwinden. Grüne Delphine und kleine Walfische krümmten ihre Rücken zwischen den Wogen – doch nein, es gilt wach zu bleiben, wir können jeden Augenblick Sturm erwarten; ich gebe meinen Ruderern mit der hohlen Hand eine gründliche Dusche, wasche mir selbst Gesicht und Hände, bestelle das Frühstück – ein hartgekochtes Gänseei, ein Stück Brot und eine Schale Milch, zünde dann meine Pfeife an und bin wieder so munter wie ein Kiebitz. Bei der 20. Lotungsstelle, 79 Meter Tiefe, folgen die beiden anderen meinem Beispiel.

Um neun Uhr, als wir genau zwölf Stunden auf dem Wasser waren, loteten wir eine Tiefe von 81,8 Meter, aber das Südwestufer schien noch ebenso fern wie bisher! Rehim Ali meinte, daß es doch unheimlich sei, soviel Wasser unter dem Kiel zu haben. Die Wolkenmassen des Gurla heben sich ein wenig, und wir sehen immer tiefer in die Schlupfwinkel des mächtigen Tales hinein, je mehr wir mitten vor seinen Eingang kommen. Die unteren Zipfel der Schneefelder zeigen sich unter den Wolken. Westlich davon zieht sich eine breite Erosionsrinne hin, die grau von Schutt und schwarzpunktiert durch Buschwerk ist. Das Wasser liegt wie ein Spiegel da und wirft die Bilder der Berge zurück; es wird blau, wenn der Himmel sich aufhellt, aber wieder grün, sobald die Wolken sich anhäufen. Ein Schwarm Fische spielt im Wasser und plätschert an der Oberfläche.

Und wieder rinnen die Stunden des Tages dahin. Wir gleiten langsam vorwärts, bald über ruhige hügelartige Dünungen, die leise wie Geisterstimmen flüstern, bald über kleine Pyramidenwellen, die dadurch entstanden sind, daß die Wellensysteme zweier verschiedenen Windrichtungen einander begegneten. Vier kleine Sturmjungen wollten uns von verschiedenen Seiten her etwas anhaben, aber wir erhielten nur sozusagen den Nachklapp, und sie waren nicht imstande, die Wellen zu gefährlicher Höhe emporzutreiben. Der letzte, aus Südosten, war der kräftigste, und nun wurde das Segel gehißt. Aber noch immer schien das Ufer unendlich fern; vielleicht hatte Tsering mit seiner lamaistischen Weisheit doch recht gehabt?

Und doch treten alle Einzelzüge immer schärfer und klarer hervor. Der Gurla kehrt dem See drei mächtige Giebelvorsprünge zu, und zwischen ihnen treten gewaltige Schuttkegel und Erosionsrinnen heraus. Die Kegel werden nach dem Ufer hin flacher und tauchen dann unter das Wasser bis in die größte Tiefe des Sees; am Nordufer, wo eine weite Ebene sich ausdehnt, konnte man einen allmählicher abfallenden Seegrund erwarten. Der Gurla ist eine herrliche Hintergrunddekoration für den heiligen See; keine Meisterhand der Welt könnte etwas Großartigeres und Imposanteres ersinnen.

Jetzt loten wir 77, 74, 77, 68, 58, 54 und 25 Meter und merken nun endlich, daß das Ufer doch nahe ist, denn auf den Hügeln werden Yak- und Schafherden sichtbar (Abb. 243). Der Seegang war jetzt ziemlich hoch, und zweimal mußten wir das Boot, auf dessen Boden mein Pelz naß geworden war, ausschöpfen. Müde und schläfrig arbeiten die beiden Männer mühsam mit den Rudern. Wir reden schon davon, wie herrlich es sein wird, zu landen, Feuer anzuzünden und Tee und Speise zu erhalten, aber das Ufer weicht noch immer vor uns zurück und die Nachmittagsstunden verrinnen. Der Gurla scheint sich im Süden direkt aus dem Wasser zu erheben; man sieht sein ebenes Vorland und seine flachen Halden in viel zu starker Verkürzung. Die Mönche der dortigen Klöster sind nicht auf die Bäche des Gebirges angewiesen, sie trinken das heilige Seewasser, das wirklich einen Geschmack wie das reinste, gesundeste Quellwasser hat. Seine kristallklare Reinheit und dunkelgrünblaue Farbe verdirbt den Geschmack nicht; den aus der Ferne kommenden Pilgern ist das Wasser des Manasarovar lieber als schäumender Champagner.

243. Weidende Yaks am Südufer des Manasarovar. Im Hintergrund der Gurla Mandatta.

Endlich wurden wir aus unserem Bootgefängnis befreit! Wir erblicken den Seeboden durch das klare Wasser, noch einige Ruderschläge und das Boot hält an einem Wall von Ton und faulenden Algen, die das Wintereis auf die Tonbank geschoben hat. Auf der Innenseite des Walles zieht sich eine längliche Lagune hin, in deren Schlamm man bis an die Knie einsinkt. Die Uhr war ½2, wir waren also 16½ Stunden auf dem See gewesen! Als wir endlich das Ufer erreicht hatten, war es aber dort unmöglich, an Land zu gelangen. Nachdem ich mir die Sache eine Weile überlegt hatte, während die Männer stehend Umschau hielten, ruderten wir nordwärts und fanden endlich nach anderthalb Stunden eine Stelle, wo sich das Boot aufs Land ziehen ließ. Jetzt waren wir 18 Stunden auf dem Wasser gewesen!

Ein Hirt zeigte sich, nahm aber Reißaus, ohne eine Spur zu hinterlassen. Feuerungsmaterial wurde gesammelt, ein Feuer angezündet, Tee gekocht und Schaffleisch gebraten, und nachdem wir drei unser Mittagessen verzehrt hatten, wurde aus den Rudern, dem Mast und dem Segel ein provisorisches Zelt errichtet, in dem ich mich, in den Pelz gewickelt und mit den Rettungsringen als Kopfkissen, schon gegen sieben Uhr schlafen legte. Ich hatte 31 Stunden ununterbrochen gearbeitet, schlief sofort ein und ahnte nichts von dem Sturm, der die ganze Nacht hindurch tobte und ebensowenig von den 25 Pilgern, die auf ihrer Wanderung um den heiligen See im Morgengrauen an uns vorbeizogen!


 << zurück weiter >>