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Am 19. Februar hatten wir günstiges Terrain, das allmählich nach dem Ufer des in der Ferne sichtbaren Lemtschung-tso abfiel. Ich ging meistens zu Fuß, was mir leicht wurde, weil der Sturm nachschob, aber man wurde, wie gewöhnlich, vom Winde durcheist, obgleich die Temperatur um ein Uhr bis auf -2,2 Grad stieg. Am Fuß einiger Hügel im Süden zeigten sich ganze Reihen schwarzer Punkte, die wir für zahme Yaks hielten. Sie lösten sich jedoch bald in Heerscharen leichtfüßiger Antilopen auf, die in leichten Wellenbewegungen nordwärts über die Ebene hineilten. Jetzt sah man schon oft Anzeichen von Sommerbesuchen der Gertsenomaden. Deasys und Rawlings Routen hatte ich seit zwei Tagen hinter mir zurückgelassen und befand mich jetzt am Westrand eines der größten weißen Flecke auf der Karte Tibets.
Nachdem ein Grauschimmel in der Nacht das Zeitliche gesegnet hatte, besaßen wir nur noch zehn Tiere, ein Viertel der ursprünglichen Karawane! Sie wurden morgens mit Mehl und in Wasser gekochten Teeblättern bewirtet, die sie begierig hinunterschlürften. Unser Proviantvorrat reichte nur noch knapp einen Monat.
Zehn Kilometer trennten uns noch vom Seeufer, als wir in der Nähe einer Höhle, in der noch vom Sommer her ein Mühlstein und zwei Yakfelle lagen, unser Lager aufschlugen. Längs des Ufers zog sich ein von Menschen ausgetretener Pfad hin. Wir blieben einen Tag liegen und nahmen nun noch eine Gepäckaussonderung vor! Alle Reserveinstrumente, wie Thermometer, Metermaße, Brillen usw. samt noch einigen europäischen Kleidungsstücken, zwei Mützen, Verbandartikeln und Brieftaschen wurden mit einigen Steinen in einen Sack eingenäht und durch eine Wake in den See geworfen, dessen Eisdecke beinahe meterdick war. Jetzt hatte ich nur noch so viel Unterzeug, daß ich dreimal wechseln konnte, auch davon konnte also bei der nächsten Aussonderung noch ein Drittel geopfert werden – wir glichen einem Ballon, der Ballast auswirft, um sich schwebend zu erhalten, bis er über ein Meer hinübergeflogen ist und wieder festen Boden unter sich hat.
Am Abend war wieder ein ganzes Orchester tobender Winde im Gang. Die Luftmassen wälzten sich wie Kaskaden von den Bergen oberhalb des Lagers herab und wußten selbst nicht, wie schnell sie über das klare Eis des Sees hinjagen sollten, in dessen Spiegel der Mond silberglänzende Streifen hervorzauberte, während das Gebirge im Norden sich wie eine dunkle Silhouette abzeichnete. Gras und Brennstoff waren gut gewesen, daher herrschte im Lager fröhliche Stimmung. Der Gesang der Leute war bald weich wie ein schaukelndes Wiegenlied oder wie runde Wellen in einer Bucht, bald asiatisch wild und leidenschaftlich, und die Sänger tanzten dabei um ihr Feuer. Wenn aber besonders heftige Sturmkaskaden herabsausten, verstummten sie und stellten sich auf, um die Zelte zu halten, damit diese nicht ins Feuer stürzten. Ein Wechselgesang zwischen ihnen und dem Sturm; aber er bereitete mir Vergnügen, denn er verscheuchte den Gedanken an die langen Stunden der Einsamkeit und weckte hellere Träume, lichtere Hoffnungen und Sehnsucht nach dem Frühling, wärmeren Winden, Entdeckungen und Abenteuern in Tibet. Täglich fragte ich mich, wie diese Reise enden möge, aber jeder Tag brachte mich der Antwort ja einen Schritt näher.
Am 22. Februar ließen wir den kleinen Süßwassersee zur Linken, während der eigentliche Lemtschung-tso seinen nur teilweise zugefrorenen Spiegel auf der rechten Seite unseres Weges ausbreitete (Abb. 317, 318). In der Mitte war das Wasser offen und dunkelgrün und wurde vom Sturm so aufgepeitscht, daß die Wellen Schaumköpfe trugen. Nach Ostsüdosten hin sah das Land günstig aus, eine offene Ebene, die uns keine Hindernisse in den Weg legte. Etwas vor uns zeigten sich zwei weidende Tiere – Yaks oder Wildesel? Gulam, der voraus ging, war im Besitz des Fernglases und meldete, es seien Pferde. Also wieder Nomaden ganz in der Nähe! Wir spähten nach allen Seiten, erblickten aber keine Zelte. Hatten die Pferde sich verlaufen? Scheu waren sie nicht, im Gegenteil, sie wurden ganz lebendig, als sie uns heranziehen sahen, liefen der Karawane entgegen und begrüßten sich mit jedem unserer Pferde und jedem Maulesel besonders. Nachdem diese Pflicht der Höflichkeit erfüllt war, begleiteten sie uns mit muntern Sprüngen und fröhlichem Gewieher auf unserem ganzen Marsch. Es waren dreijährige Füllen, die noch nie einen Sattel, geschweige denn eine Last getragen hatten, feiste, kräftige und schnellfüßige Tiere, ganz anders als unsere drei letzten Pferde. Als wir unser Lager aufschlugen, verschwanden sie aber spurlos nach Süden. Der Sturm wurde noch heftiger, es klang unheimlich, als wenn der Wasserstrahl einer Feuerspritze in die Flammen hineinführe. Unser letzter eiserner Spaten und ein Kessel wurden vom Sturm fortgerissen, aber noch rechtzeitig wieder eingefangen.
317, 318. Der Lemtschung-tso nach Osten.
Nach Aquarellen des Verfassers.
23. Februar. Die Kälte ging auf 28,8 Grad herunter. Unsere letzten Tiere überstanden den kurzen Tagesmarsch, der uns weiter durch das bequeme Tal führte, in dessen Verlängerung ich aber keine Spur von der »Snowy Range« der englischen Karte erblicken konnte. Zwei Zelte am Eingang eines Tales der Nordseite wurden nicht durch einen Besuch belästigt, da wir noch keine Not litten. Ich lebte ausschließlich von Tee, Brot und Obstmarmelade, von der noch zwei Büchsen vorhanden waren.
Der Sturm hielt auch den nächsten Tag an. Selten konnten wir mehr als 10 Kilometer marschieren. Wir hatten im letzten Monat nur 350 Kilometer zurückgelegt, 50 Kilometer mehr als im vorletzten. Am Abend und in der Nacht trommelte stürmisches Schneetreiben auf unsere Zelte. Noch hatte ich mein bequemes, warmes Bett behalten, aber wenn es sein mußte, wanderte auch dieses wohl stückweise ins Feuer. Alles Ausrangierte wurde vergraben oder verbrannt, da es Verdacht erregen konnte, wenn es liegen blieb.
Noch eine Tagereise weit konnten wir dieses herrliche Längstal benutzen; es stieg unmerklich nach einer flachen Schwelle an, auf deren Ostseite wir wieder eine Goldfundstelle passierten. Die Gruben, aus denen der goldhaltige Sand herausgeholt wird, haben 1–5 Meter Durchmesser und sind wenig mehr als einen Meter tief. Man sah deutlich, daß einige erst im Sommer aufgegraben worden waren. Ring- und Schutzmauern für auf der Lauer liegende Jäger und Steinmale gab es an mehreren Stellen.
Weiter talabwärts kamen wir am folgenden Tag an eine dritte Goldfundstelle, da, wo unser Tal sich zu einem Hohlweg verengte. Hier fanden wir große Schafhürden und zahlreiche Menschenfährten. In einer 100 Meter langen Rinne schien der Goldstaub aus flachen Steinen ausgewaschen zu werden. Das Tal schrumpfte dann so zusammen, daß es nur noch 5 Meter breit war; der Boden war mit Eis bedeckt, das hier und dort Terrassen bildete. Diese mußten erst mit der Axt bearbeitet und mit Sand bestreut werden und die Männer mußten jedes Tier einzeln stützen und führen; wir durften auch nicht eines von ihnen durch einen Beinbruch verlieren! Da, wo das Eis aufhörte und das Tal in eine gewaltige Ebene überging, wurde das Lager aufgeschlagen. Nach Osten hin sah das Gelände noch immer günstig aus, und keine »Snowy Range« versperrte uns den Weg. Man konnte 40 Kilometer weit vor sich sehen. Tubges erlegte fünf Hasen, die wir zum Mittag verspeisten. Während der Nacht ertönte um unser Lager herum wieder einmal das jämmerliche Heulen eines Rudels Wölfe.
27. Februar. Auf der Ebene, die sich allmählich nach Ostsüdosten senkt, spazierten heute wohl tausend Kiangs umher. Sie bildeten dunkle Linien, bald breite, bald schmale und dann wieder punktierte wie Rosenkränze. Einige Herden liefen in spitzem Winkel nach einem Punkt, wohl 200 Meter von der Karawane, machten dort halt, beobachteten uns und zerstreuten sich dann wieder, um hastigen Trabes in eleganten Bogen und Kurven einzeln davonzulaufen. Vielleicht hatten sie sich hier zu einem großen Frühlingskongreß versammelt, auf dem über ihre Territorial- und Weidefragen entschieden werden sollte? Daß sie gleich den Nomaden regelmäßige Jahreszeitwanderungen unternehmen, ist sicher, denn auch sie sind vom Auftreten des Grases und seiner auf den einzelnen Höhen während der verschiedenen Jahreszeiten wechselnden Üppigkeit abhängig.
Weiter unten auf der Ebene hinter einem kleinen Felsvorsprung grasten noch fünf Kiangherden, von denen die uns zunächst weidende aus 133 Tieren bestand. Sie kamen ganz dicht an uns heran. Lobsang eilte ihnen mit lautem Hallo entgegen. Da liefen sie, im Gänsemarsch, so eilig davon, daß der Boden von ihren Hufschlägen dröhnte, beschrieben hinter uns eine hübsche Kurve und verschwanden in einer undurchdringlichen Staubwolke, aus deren Innern noch immer der schmetternde Trab der Hufe ertönte. Ein heftiger Windstoß zerteilte dann die Staubwolke, sie wurden wieder sichtbar, blieben auf ängstlich zitternden Beinen stehen, betrachteten uns, spitzten die Ohren, blähten die Nüstern auf und witterten im Winde.
Im Süden unserer Route zeigten sich zwischen kleineren, einzeln liegenden Bergen wieder zwei Zelte. Abdul Kerim ging mit zwei Leuten hin, während wir das Lager Nr. 341 aufschlugen. Bei der Rückkehr erzählten sie, daß der Besitzer der Zelte, Tsering Ngorpel aus Gertse, vor zwei Monaten hier mit fünf Familiengliedern angekommen sei und nach einem Monat wieder nach Hause zurückkehren wolle. Es seien arme Leute, die nur 70 Schafe und Ziegen, 6 Yaks und einen Hund besäßen. Die Gegend unseres Lagers hätten sie Senes-jung-ringmo genannt und auch gesagt, daß wir, falls wir nach Südosten weiterzögen, beinahe täglich auf Nomaden aus Gertse und Senkor – Gebiete im Süden, die ich im Jahre 1901 durchzogen hatte – stoßen würden. Sie hatten vor den Unseren Angst gehabt und hatten sie nicht in ihre Zelte gelassen. Aber zwei prächtige Schafe und einen Kloß Butter verkauften sie und fristeten uns so vorläufig das Leben. Der Rest des Hasenfleisches wurde vom Küchenzettel gestrichen und den Hunden gegeben.
Nach dem Lager 342 mußten die beiden Schafe unseren neuen Fleischvorrat noch selber tragen; wir hatten für Extralasten keine sonstige Transportgelegenheit. Langsam stiegen wir nach einem flachen Paß hinauf. In einem Nebental sahen wir wieder drei Zelte, aus denen einige Männer herauskamen und uns angafften; aber wir zogen ohne Austausch von Frage und Antwort an ihnen vorüber. Den ganzen Tag und auch den ganzen 29. Februar tobte rasender Wind. Die Wolken fegten dicht am Erdboden hin. Um ein Uhr hatten wir -5,5 Grad; völlig ausreichend, um einen Reiter bis in das Mark der Knochen hinein vor Kälte erstarren zu lassen.
Vor uns in Südosten hatten wir eine gewaltige, flache Talmulde, in deren Mitte die Eisdecke zweier kleinen Seen weiß erglänzte. Langsam nähern wir uns der zwischen beiden liegenden Landenge. Eine Antilopenherde ergreift die Flucht und läuft beinahe einem einsamen Wildesel in die Arme, der sie regungslos anschaut; im letzten Augenblick schwenkt sie aber nach der anderen Seite ab, als ob sie vor ihm Angst habe. Auf der linken Seite treiben in einer flachen, nach dem See gehenden Rinne zwei Hirten eine Schafherde vor sich her. Halt! Schnell her mit dem Turban! Gulam windet ihn mir um den Kopf, und ich gehe nun wie die andern zu Fuß. Am Ufer entlang treibt ein junger Mann sechs Yaks. Abdul Kerim und Gulam eilen zu ihm, während wir die Zelte am Ufer in 4633 Meter Höhe aufschlagen.
Nach einer Weile kehrten sie in Begleitung des Yaktreibers zurück, der, wie sich herausstellte, ein vierzehnjähriger Junge mit einer großen, weißen Pelzmütze war. Er hatte sich entsetzlich gefürchtet und sich nur mit Mühe überreden lassen, die Männer nach unseren Zelten zu begleiten. Es handelte sich nämlich darum, daß er zweien unserer Leute den Weg nach seinem Wohnort zeigen sollte. Den See nannte er Lumbur-ringmo. Da ich nun vollständig verkleidet war, ging ich hinaus und sah mir den Burschen an, der durchaus nicht mißtrauisch schien.
Lobsang und Tsering begleiteten ihn nach seinem Zelt; als sie aber nach langer Zeit wiederkamen, brachten sie schlechte Nachrichten mit. Zwei Tibeter waren aus dem Zelt gekommen und hatten barsch gefragt, was sie hier zu suchen hätten. Sie hatten ruhig geantwortet, daß sie etwas Eßbares kaufen wollten, aber dergleichen war, wie es schien, nicht verkäuflich.
»Aber was seid ihr für Leute?« hatte ein älterer Mann gefragt.
»Wir sind Ladakis im Dienst eines Kaufmanns und ziehen nach Saka-dsong«, war ihre Antwort.
»Ihr lügt!« hatte der Tibeter ausgerufen. »Diese Straße zieht kein Kaufmann, am allerwenigsten im Winter; in Tschang-tang treibt keiner Handel.«
»Wir treiben auch nicht Handel«, hatte Lobsang erwidert. »Wir sind beauftragt, Erkundigungen einzuziehen, wieviel Schafwolle sich hier im nächsten Sommer aufkaufen läßt.«
»Schafwolle – in unbewohnten Gegenden? Nein, ihr seid Diener eines Europäers, der sich in einem eurer Zelte versteckt hält. Heraus mit der Wahrheit, sonst geht es euch schlecht!«
»Fragt doch euren Jungen,« hatte Lobsang, der selbst Tibeter war, nun in seinem unschuldigsten Tone gesagt, »ob er in unseren Zelten Europäer gesehen hat. Wir hassen die Europäer ebenso gründlich wie ihr. Wenn ihr uns nicht traut, so könnt ihr ja selber in unseren Zelten nachsehen.«
»Nein, danke, nach euren Zelten gehen wir nicht«, hatte der Alte geantwortet und war dann mit den Seinen wieder hinter seiner schwarzen Zeltwand verschwunden.
Lobsang war sehr ernst, als er wieder kam. Er schlug vor, wenn wir nicht schon hier angehalten würden, unser Lager künftig immer möglichst fern von den Zelten der Nomaden aufzuschlagen. Ich erschrak nicht wenig und hatte das Gefühl, daß es mir nicht gelingen werde, weit in das verbotene Land einzudringen. Es ist wirklich höchst unbehaglich, so offenkundig in Verdacht zu stehen, ein Europäer zu sein!
Jetzt war guter Rat teuer, denn die Nomaden zeigten uns sicher bei der nächsten Behörde an. Während meines abendlichen Unterrichts im Tibetischen, der mehrere Stunden in Anspruch nahm, besprach ich die Lage mit meinen beiden Lehrern Lobsang und Kutus. Es wurde beschlossen, Abdul Kerim solle am nächsten Morgen in aller Frühe nochmals nach dem Nomadenzelt gehen; wenn die Nomaden uns weiter feindlich gesinnt wären, müßten wir versuchen, die Tagemärsche zu verlängern, um Vorsprung vor einer wahrscheinlichen Verfolgung zu gewinnen.
Diesmal wurde Lobsang besser empfangen, da er unseren Häuptling und Anführer, den die Nomaden ganz richtig »Bombo« titulierten, in eigenster Person vorstellen konnte. Der alte Mann stellte sich selber unter dem Namen Sogbarong Tsering Tundup vor – Sogbarong ist sein Wohnort im Westen, und dieser Name wird mit dem Personennamen zusammengenannt, ungefähr so, wie man bei uns auf dem Lande »Anders Persson vom Großhof« sagt. Der Alte hatte seine Gäste gebeten, ins Zelt einzutreten, zwei Schaffüße genommen, sie mit einem Beil zerhackt und in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen, dann Abdul Kerim von dieser Flüssigkeit vorgesetzt und gesagt, dies sei der einzige Tee, den er habe. Im Zelt hatten fünf zerlegte Antilopen, eine Flinte, ein Messer und allerlei andere Geräte gelegen. Jetzt hatte der Alte keinen Verdacht mehr gegen uns ausgesprochen, aber erzählt, daß vor etwas länger als einem Jahr ein Europäer mit einer großen Karawane weiter nach Osten hin durch das Land gezogen sei! Er ahnte nicht, daß sich gerade dieser Europäer in einem unserer Zelte verbarg! Als die Gesandten zurückkehrten, brachten sie ein fettes, kräftiges Schaf und eine Kanne Milch mit.
An diesem Tag, dem 1. März, stürmte es so, daß an Weiterziehen nicht zu denken war. Mein Zelt wurde umgerissen und wäre fortgeweht worden, wenn die Sand- und Steinbelastung auf dem Saum der Leinwand es nicht festgehalten hätte. Von der Landschaft war keine Spur zu sehen; wären wir weiter marschiert, so hätte ich mir nicht einmal einen flüchtigen Begriff von ihr machen können. Um zwei Uhr kam unser »Anders Persson vom Großhof« mit einem anderen Tibeter, um Abdul Kerim seinen Gegenbesuch zu machen. Sie tauchten erst aus dem Staubnebel auf, als sie unmittelbar vor unserm Lager standen und zwei meiner Leute eilten hinaus, um sie vor den Hunden zu schützen. Der Besuch war uns eine außerordentlich große Überraschung, aber nichts lag umher, was im geringsten hätte Argwohn erregen können. Meine Sachen waren in einen Sack gestopft worden, und ich selber war verkleidet – ich hatte ja auch nichts anderes anzuziehen! Auch wenn sie in mein Zelt hineingesehen hätten, wäre es nicht gefährlich gewesen.
Unsere Gäste trugen weite Schafpelze, die aus dem Gürtel so hoch herausgezogen waren, daß sie die üblichen aufgeblähten Beutel bildeten, in denen ein großer Teil der Habe verwahrt wird. Sie trugen Schaffellmützen und sahen wie Samojeden oder Tschuktschen aus. Eine Weile standen sie mit den Unseren plaudernd draußen im Wind, aber ich hörte kein Wort, obgleich sie von dem Guckloch in der Zeltwand, durch das ich sie beobachtete, nur 3 Meter entfernt waren. Nach einigem Zieren traten sie in Abdul Kerims Zelt ein, und nun wurde die Yakfrage verhandelt. Leider besaßen sie nur sechs Yaks, deren sie selber zu ihren Wanderungen bedurften; wollten wir aber Schafe haben, so würden sie sich bis zu zwölf Tieren verstehen; jedes Schaf trüge mit Leichtigkeit den fünften Teil einer Esellast. Das Anerbieten wurde freudig angenommen und der Preis auf 38 Rupien festgesetzt. Dann humpelten sie wieder fort, dem Sturm entgegen, und ich fühlte mich wieder ungeniert.
Am 2. März wurde der Kauf abgeschlossen. Die Schafe standen in einem Haufen mit den Köpfen nach innen hinter dem Leutezelt, wo sie vor dem Wind geschützt waren. An Aufbrechen war aber noch nicht zu denken, in einem solchen Sturm konnte man kaum auf den Beinen stehen. Wir blieben daher auch noch diesen Tag im Lager. Die Leute hatten vollauf zu tun, da sie kleine Säcke für die Schaflasten nähen und sie dann packen und abwiegen mußten. Ich hatte es nicht so gut, denn ich hatte nichts zu tun und nichts zu lesen; ich schrieb daher tibetische Vokabeln auf und trug die neuen Worte in mein Wörterbuch ein. Dann hörte ich eilige Schritte in der Nähe des Zeltes; es ist Kuntschuk, der mir frische Kohlen bringt; da rasselt es laut, er flucht, die ganze Bescherung ist ihm von der Schaufel geweht, und er muß nach dem Lagerfeuer zurückkriechen, um noch eine Schaufelvoll zu holen. Und der Tag geht hin, und der Sturm tobt weiter, bis man ganz müde und gleichgültig geworden ist.
Während dieser stürmischen Tage des Abwartens hatten unsere Tiere still in einer Mulde gelegen, wo sie vor dem Wind geschützt waren. Der Sturm machte ihnen das Grasen unmöglich, das Fasten aber schwächte sie noch mehr. Einen weißen Maulesel hatten wir denn auch am Lumbur-ringmo-tso zurücklassen müssen, als wir am 3. März mit drei Pferden, sechs Mauleseln und zwölf Schafen nach Südosten weiterzogen und uns freuten, über diesen kritischen Punkt doch noch beinahe mit heiler Haut hinweggekommen zu sein. Süßwasserquellen bildeten eine Reihe malerischer Eisvulkane am Ufer des kleinen Sees. Bevor wir im Schutz eines vorspringenden Berges lagerten, begegneten wir drei großen Schafherden mit ihren Hirten. Bei solchen Gelegenheiten ging ich immer zu Fuß. Die neuen Schafe trugen sämtlich Lasten – eine unschätzbare Hilfe für unsere erschöpften Tiere. Sie wurden nun jede Nacht zwischen den Zelten angebunden, um vor Wölfen geschützt zu sein, und der gelbe Gartokhund erwies sich als ein vorzüglicher Wächter. An diesem ersten Abend blökten sie sehnsuchtsvoll, vielleicht aus Kummer darüber, daß sie ihre Heimat hatten verlassen müssen.
Heftiger Sturm herrschte Tag für Tag. Wir kamen wieder an zwei schwarzen Zelten vorüber. In jedem Lager ist die größte Vorsicht zu beobachten; keine Papierfetzen, Zündholzschachteln, Lichtstümpfe und weggeworfene Zigarettenmundstücke dürfen liegen bleiben, denn man kann sicher sein, daß benachbarte Tibeter sofort nach unserem Aufbruch den Platz gründlich absuchen. Unser Weg führte aufwärts über einen flachen Paß (4886 Meter); das Gestein war verwitterter Schiefer, Quarzit und Granit, letzterer trat jedoch nur in losen Blöcken auf. Jenseits des Passes folgten wir einem tief eingeschnittenen Tal, das in eine Ebene mündete. Wir waren gerade dabei, unsere Zelte dicht an einem vorspringenden Berge aufzuschlagen, als zwei große schwarze Hunde mit lautem Gebell herankamen. Also lagerten in unserer unmittelbaren Nähe Nomaden, und es hieß wieder sich vorsehen. Abdul Kerim, der stets taktvoll und klug war, sowie es sich um delikate Unterhandlungen drehte, begab sich nach einem Zelt hin, das an der anderen Seite des vorspringenden Berges stand und von vier Senkornomaden bewohnt war, die 400 Schafe besaßen. Der vornehmste der Zeltbewohner hieß Schgoge; er verkaufte uns drei Schafe zu je 3 Rupien, ein wenig Butter und etwas Milch. Er sagte, die Gegend um das Lager Nr. 345 heiße Pankur; bis zum Dorfe des Gertse Pun, dem Zeltlager des Gertsehäuptlings, hätten wir noch drei Tagereisen nach Südosten. Mit dem Häuptling hatte ich jedoch nichts zu besprechen. Uns kam es im Gegenteil darauf an, allem, was Behörde hieß, möglichst aus dem Weg zu gehen und uns sowohl Gertse und Senkor im Westen, wie meiner Route vom Jahre 1906 im Osten ja nicht zu sehr zu nähern; wir mußten uns zwischen mancherlei lauernden Hinterhalten durchschlängeln. Gerade hier überschritten wir den 84. Grad ö. L. Es war mein Plan, vom Tong-tso aus direkt nach Süden, quer durch den großen weißen Fleck, zu gehen. Die immerwährenden Stürme, die uns so viel Schaden zufügten, hatten aber wenigstens den Vorteil, daß wir große Flächen unbemerkt durchziehen konnten. Heute war alles dunkel von Staubwolken; die Schafe unserer Nachbarn, die in langen Kolonnen mit Herden und Hunden an meinem Zelt vorbeitrippelten, sahen in dem Dunstschleier ganz eigentümlich aus.
5. März. Abdul Kerim erhandelte noch zwei Schafe; wir hatten jetzt 17 zur Unterstützung der Maulesel und Pferde. Ich beabsichtigte, die Schafkarawane nach und nach zu vergrößern, um uns von den anderen Tieren unabhängig zu machen. Wir mußten auch ein Pferd für Abdul Kerim frei haben; er war ja unser Vorgesetzter, und es schickte sich nicht, daß er zu Fuß ging, während ich, ein ganz gewöhnlicher Karawanentreiber, ritt. Heute hatten wir den Sturm im Rücken und marschierten 13,7 Kilometer weit auf demselben ebenen, vorzüglichen Gelände, das uns vom Lemtschung-tso an das Vorrücken erleichtert hatte. Wir lagerten bei einer Hürde und freuten uns in dem Bewußtsein, daß es hier keine Nachbarn gäbe, die uns ausspionieren konnten. Ein lahmes Schaf wurde geschlachtet; nur die schlechtesten sollten verzehrt und, sobald sich Gelegenheit bot, durch neue ersetzt werden.