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Vierundfünfzigstes Kapitel.
Entschluß zu einer zweiten Reise.

Von der Quelle des Indus zogen wir mit unserem freundlichen Führer immer weiter nordostwärts nach einer Gegend, die Jumba-matsen heißt und in 32 Grad nördlicher Breite liegt (Abb. 275, 277). Und von dort begab ich mich nach Gartok (Abb. 278, 282), dem Hauptort Westtibets und der Residenz der beiden Garpuns, wo ich, nachdem ich den Transhimalaja im Dschukti-la (5814 Meter hoch) zum fünftenmal überschritten hatte, nach vielen Abenteuern am 26. September 1907 ankam. Ich muß leider für jetzt die Beschreibung dieses Zuges überspringen, der zum größten Teil durch unbekanntes Land führte. Nur über den Dschukti-la war schon Mr. Calvert vor zwei Jahren gegangen.

275. Nomadenweib aus Jumba-matsen. Skizze des Verfassers.

277. Weib von Jumba-matsen.
Skizze des Verfassers.

278. Ladaki-Kaufmann in Westtibet. Skizze des Verfassers.

282. Zelt in Gartok.

In Gartok (4467 Meter) begann eine neue Periode. Die Stadt wurde ein Wendepunkt in der Chronik dieser Reise. Erstens trat ich wieder mit der Außenwelt in Berührung. Thakur Jai Chand, der britische Handelsagent, überlieferte mir gleich bei meiner Ankunft eine dicke Postsendung, eine ganze Menge Briefe aus meinem geliebten Elternhause, von Lord und Lady Minto und ihren Töchtern, von Oberst Dunlop Smith, Younghusband, O'Connor, Rawling und vielen anderen Freunden in Europa und Asien. Dagegen verlautete noch nichts von dem großen Transport, den ich aus Simla erwartete. Aber bald darauf erfuhr ich von Dunlop Smith, daß alles Bestellte abgegangen sei und seinerzeit ankommen werde. Bis dahin mußte ich mich also gedulden.

Die Garpuns schickten mir sofort mit den gewöhnlichen Höflichkeitsphrasen Bewillkommnungsgeschenke; sie waren zu vornehm, um mir zuerst einen Besuch zu machen; ich ging deshalb am nächsten Tage zu ihnen. Der Ältere war krank, der Jüngere, ein fünfunddreißigjähriger, distinguiert aussehender Herr aus Lhasa, empfing mich in seinem einfachen Regierungsgebäude außerordentlich liebenswürdig und war über die Freiheiten, die ich mir in der letzten Zeit genommen hatte, so wenig erzürnt, daß er mich nicht einmal fragte, wo ich gewesen sei! Es war eine Ironie des Schicksals, daß ein so freundlicher und in seinen Zugeständnissen so weitgehender Brief wie der, den ich jetzt aus der Hand des Garpun von Lien Darin erhielt, mich erst erreichte, als es zu spät war! Als Lien Darin meinen Brief aus Raga-tasam erhalten hatte, hatte er mir sofort zwei Chinesen nachgeschickt, die bevollmächtigt waren, sich mit mir über den Weg, den ich einschlagen wollte, zu einigen. »Denn es wird mich freuen,« sagte der Amban von Lhasa, »zu wissen, daß Sie auf dem Wege reisen, der Ihnen am meisten zusagt!« Er sei überzeugt, daß meine Bewegungen, welchen Weg ich auch einschlüge, keine Veranlassung zu politischen Verwicklungen geben würden. Und er schloß mit den Worten: »Jetzt hoffe ich, daß Sie eine glückliche, friedliche Rückreise haben werden, und ich werde für Ihre gute Gesundheit und ihr Wohlergehen beten.«

Wie reute es mich nun, daß ich nicht doch in Saka geblieben war, um so mehr, als der Garpun mir sagte, daß die beiden Chinesen mit vier Tibetern als Eskorte dort schon zwei Wochen, nachdem wir abgezogen waren, angelangt seien! Aber der hiesige Garpun war mir freundlich gesinnt, er war der mächtigste Mann in ganz Westtibet und konnte mir nun noch alle Tore öffnen, wenn er es wagte und wollte.

Wohl war ich froh und dankbar über die Resultate, die ich mir schon hatte sichern können: außer mehreren anderen Problemen, die gelöst worden waren, hatte ich den Transhimalaja in fünf Pässen überschritten, nämlich im Sela-la, im Tschang-la-Pod-la, im Angden-la, im Tseti-latschen-la und im Dschukti-la, von denen die vier ersten bisher gänzlich unbekannt gewesen waren. Aber zwischen dem Angden-la und dem Tseti-latschen-la hatte ich eine Lücke im Verlauf des Transhimalaja lassen müssen, die ganze 500 Kilometer lang war! Von diesem Gebiet kannte man nichts weiter als die Gipfel, die Ryder auf seinem Wege gesehen und die er und Wood gemessen hatten. Daneben besaßen wir einige schwankende Angaben von Nain Sings Reise im Jahre 1873, deren Route sich jedoch im Norden des weißen Flecks hinzieht. Und dieser weiße Fleck hatte noch ein Areal von 1400 Quadratkilometer! Ich konnte nicht nach Haus zurückkehren, ohne alles, was in Menschenmacht stand, getan zu haben, um dieses unbekannte Land wenigstens auf einem Wege zu durchziehen. Gerade dort war die Linie, die die Wasserscheide zwischen dem Indischen Ozean und den abflußlosen Salzseen auf der tibetischen Hochebene bildet; dort konnte man das Vorhandensein vieler Flüsse und Seen annehmen. Und dort lag die große Provinz Bongba, von deren Grenzen schon von Norden, Osten und Süden so viele dunkle Gerüchte zu uns gedrungen waren. Aber das Größte und Wichtigste war doch die Antwort auf die Frage: durchzieht der Nien-tschen-tang-la ununterbrochen ganz Tibet in westlicher und nordwestlicher Richtung im Norden des Tsangpo und des oberen Indus? Kein Europäer und kein Pundit hatte sich bisher an dieses Problem gewagt, aber Hodgson, Saunders und Atkinson hatten vor mehreren Jahren eine hypothetische Bergkette in ihre Karten über Tibet eingetragen! Existierte sie wirklich? Oder verbarg sich unter dem weißen Fleck ein Labyrinth von Ketten oder ein vergleichsweise flaches Plateauland, auf dessen Sockel sich einzelnliegende Schneegipfel und Ketten erhoben? Mit bewiesenen Tatsachen verglichen, sind Hypothesen absolut wertlos. Solche Tatsachen wollte ich liefern! Ich wußte, daß, wenn es mir jetzt nicht gelang, in das Land einzudringen, das auf der letzten englischen Karte von Tibet nur das Wort » Unexplored« enthält, eines schönen Tages ein anderer Forscher kommen und mir diese Eroberung rauben würde! Und diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen.

In Gartok hielt sich jetzt mein alter Freund aus Leh, der reiche Kaufmann Gulam Rasul (Abb. 281), auf. Mit ihm hielt ich Rat, und er sollte mein rettender Engel werden. Er sah meine Lage in sehr rosigem Licht, denn der Garpun war ihm 7000 Rupien für gelieferte Waren schuldig und fürchtete seinen Einfluß; er konnte daher einen Druck auf den Vizekönig des westlichen Tibet ausüben. Zuerst versuchte er es mit einer List, die jedoch völlig mißglückte; der Garpun antwortete, daß ihm sein Kopf zu lieb sei, als daß er ihn aufs Spiel setzen werde, um einem Europäer zu dienen, der keine Erlaubnis habe, im Lande umherzureisen. Dann versuchten wir es mit Gold, worauf der Garpun mit einer hochdramatischen Geste erwiderte: »Wenn dieses Haus von Gold wäre und Sie es mir schenken wollten, würde ich es nicht annehmen! Wenn Sie auf verbotenen Wegen ziehen, schicke ich Ihnen Bewaffnete nach, die Sie zwingen werden, hierher zurückzukehren.«

281. Gulam Rasul; hinter ihm Ballen chinesischen Ziegeltees.

Er war unbestechlich, und er war uns zu stark. Wie reute es mich jetzt, daß ich nicht ostwärts weitergezogen war, als ich mich an der Indusquelle und in Jumba-matsen vollkommener Freiheit erfreut hatte! Aber nein, das wäre nicht gegangen, meine Kasse war damals nicht voll genug gewesen, ich hatte nur fünf Leute bei mir gehabt, und ich hätte die übrige Karawane auch nicht sich selbst überlassen können.

Wie wäre es, wenn ich nach Nepal hinunterzöge und von dort auf unbewachten Wegen wieder nach Tibet zurückkehrte? Nein, das würde nie gehen, der Schnee würde bald die Himalajapässe versperren! Und wenn wir nun versuchten, uns nach Rudok durchzuschmuggeln, und von dort ostwärts gingen? Nein, in Rudok wimmelt es von Spionen. Und bald erfuhr auch Gulam Rasul, daß der Garpun in seinem ganzen Lande Befehl erteilt habe, mich anzuhalten, wo ich mich auch außerhalb der großen Heerstraße nach Ladak zeigen würde!

So überlegten wir hin und her und grübelten Tag und Nacht, bald in meinem, bald in Gulam Rasuls Zelt und warteten auf die Sendung aus Simla, hörten Schellen klingeln, wenn Kuriere von Osten kamen, sahen einen Kaufmann nach dem anderen vom Jahrmarkt in Lhasa zurückkehren, trafen mit dem »Serpun« oder Goldkontrolleur, der aus Tokdschalung kam, zusammen und fühlten die Herbstkälte, die auf 24 Grad hinunterging, immer schärfer in unsere Haut einschneiden.

Da reifte in einsamen Stunden in mir der Entschluß: ich kehre nach Ladak zurück und dringe wie im vorigen Jahr von Norden her in Tibet ein, durchziehe das ganze Land noch einmal in der Diagonale und gehe quer durch den weißen Fleck! Wohl weiß ich, daß bei diesem ungeheuren Umweg ein halbes Jahr erforderlich ist, um Gegenden zu erreichen, die nur eine Monatsreise von Gartok entfernt liegen! Wohl wird es eine neue Karawane kosten und neue Abenteuer und Gefahren geben, und der Winter erwartet mich mit seiner arktischen Kälte! Aber trotzdem muß es geschehen. Ich kehre erst dann um, wenn mir der Weg durch unüberwindliche Hindernisse versperrt wird! In Ladak englisches Schutzgebiet zu betreten, ist ein Wagnis; ich muß daher schnell wieder über die Grenze eilen. Rawlings und Deasys Gebiet kann ich dabei nicht vermeiden, aber was bedeutet das? Mein Ziel ist das unbekannte Land, das ich zu erobern suchen werde, auf welchem Wege es auch sei!

Gulam Rasul und Robert waren die einzigen, die in den neuen Plan eingeweiht wurden; auf sie konnte ich mich blind verlassen. Während unserer Beratungen sprachen wir Persisch, und Robert paßte auf, daß sich keine Lauscher meinem Zelt näherten. Gulam Rasul übernahm es, die neue Karawane von Leh aus zu bilden; sie sollte rechtzeitig in Drugub eintreffen, wo ich meine letzten 13 Leute entlassen wollte; sie waren erschöpft und verbraucht und sehnten sich nach Hause. Gulam Rasul übernahm es, mir neue Leute zu besorgen.

Am 20. Oktober verließ ich Gartok, um in Gargunsa die Sendung aus Indien abzuwarten. Auch Gulam Rasul, Thakur Jai Chand, der Postmeister Deni Das und der Arzt Mohanlal begaben sich dorthin. Robert aber hatte in Gartok eine Trauerkunde erhalten, sein älterer Bruder war in Hinterindien gestorben; jetzt traf ihn ein neuer Schlag, sein kleiner zehnjähriger Bruder war in Srinagar ertrunken. Er war untröstlich und bat mich, ihn doch zu seiner Mutter heimkehren zu lassen, die jetzt nur noch einen Sohn habe. Auch ihn sollte ich also verlieren!

Gulam Rasul hatte innerhalb eines Reisigzauns drei große Zelte (Abb. 274). Dort saß er wie ein Pascha auf seinen Diwanen, rauchte eine große silberne Wasserpfeife und empfing seine Gäste mit morgenländischer Würde. Er war jovial und gemütlich, übernahm alles und kannte keine Schwierigkeiten. Da wir nun Pläne machen und lange Listen von allem, was gekauft werden sollte, anfertigen mußten und da sich meine Ankunft in Ladak auf die Dauer doch nicht verheimlichen ließ, verbreiteten wir das Gerücht, daß ich einer kleinen Karawane bedürfe, mit der ich erst nach Chotan und dann im Frühling nach Peking zu gehen beabsichtigte. Um den Plan glücklich durchführen zu können, kam es vor allem darauf an, daß niemand meine wirklichen Absichten argwöhnte. Denn in solchem Fall wären besondere Befehle nach Rudok und an die Nomaden in Tschang-tang geschickt worden. Meine eigenen Diener und Hadschi Naser Schahs ganzes Haus glaubten denn auch, daß es meine feste Absicht sei, nach Chotan zu gehen, und daß ich jeden Gedanken an Tibet nun aufgegeben hätte. Ich mußte sogar so weit gehen, von Drugub aus ein Telegramm an den Korrespondenten Reuters in Indien, meinen Freund Mr. Buck mit der Nachricht zu schicken, daß ich eine kleine Reise nach Chotan machen wolle. Es galt nämlich auch die Mandarinen irrezuführen. Wollte mir kein anderer helfen, so mußte ich mir eben selber helfen, wenn nötig auch mit List und auf Schleichwegen. Keiner meiner indischen Freunde durfte eine Ahnung von meinen wirklichen Plänen haben; nicht einmal Oberst Dunlop Smith; es wäre natürlich taktlos von mir gewesen, sie in eine Lage zu bringen, in der sie entweder mich verraten oder gegen ihre eigene Obrigkeit illoyal sein mußten. Außer Gulam Rasul und Robert waren nur meine Eltern und Geschwister eingeweiht. Aber leider hatte ich ihnen eine viel zu optimistisch kurze Zeitdauer des neuen Unternehmens angegeben, und daher wurden sie, als sie keine Nachrichten erhielten, von Tag zu Tag unruhiger und glaubten schließlich, daß ich umgekommen sei. Daher auch die Frage: »Hedin verschollen?« –

274. Gulam Rasuls Zeltlager in Gartok.

Am 29. Oktober 1907 kamen Gulam Rasuls Maulesel und wurden einer genauen Musterung unterworfen. Sie waren in ganz vorzüglichem Stand, kleine, kräftige und feiste Tiere aus Lhasa, die also an die dünne Luft gewöhnt waren und, nach Aussage ihres Besitzers, jede Art Strapazen ertragen konnten. Gulam Rasul erbot sich sogar, sie um denselben Preis, den ich bezahlte, mir wieder abzukaufen, wenn sie lebend zurückkämen. Ich bezahlte für alle zwanzig zusammen 1780 Rupien. Auch besaß ich selbst noch fünf Tiere, seitdem ein kleiner weißer Maulesel in Gartok von Wölfen zerrissen worden war. Ein ganzes Rudel hatte unsere letzten sechs Tiere überfallen, der Nachtwächter hatte die Wölfe nicht verjagen können, und der Maulesel war grauenhaft verwundet worden. Man hatte ihn noch vor den Wölfen herlaufen sehen, als ihm die Eingeweide schon lang nachschleppten. Der letzte Maulesel aus Poonch existierte noch, auch mein kleiner Ladakischimmel und einer seiner Landsleute, die Veteranen von Leh.

Außerdem übernahm Gulam Rasul, mir fünfzehn vorzügliche Pferde aus Ladak zum Preise von 1500 Rupien zu besorgen. Die übrigen Einkäufe bestanden aus: Gerste für die Tiere 60 Rupien; Reis 70 Rupien; Tsamba 125 Rupien; Proviantsäcke 60 Rupien; Anzüge für die neuen Leute 152 Rupien; Butter 80 Rupien; Tee 50 Rupien; Stearinkerzen und Zucker 104 Rupien; ein Lhasapelz für mich 40 Rupien und ein Schlafsack aus weichem Ziegenfell für mich 25 Rupien; dazu kam dann noch die Miete für die Lasttiere, die mein Gepäck nach Leh beförderten, mit 40 Rupien und die Transportkosten der neu gekauften Sachen von Leh nach Drugub mit 20 Rupien. In Leh sollten elf Leute angenommen werden, aber nur solche, die bereits in Hadschi Naser Schahs Handelshaus gedient hatten und als ehrliche, anständige Menschen bekannt waren. Sie sollten jeder monatlich 15 Rupien erhalten, obgleich sie sonst nicht mehr als zwölf hatten, und drei Monatslöhne als Vorschuß bekommen. Der Karawan-baschi erhielt monatlich 50 Rupien und sollte mit ganz besonderer Sorgfalt ausgesucht werden. Meine ganze Schuld an Gulam Rasul betrug gegen 5000 Rupien, denn diejenigen, die die Mühe all dieser Einkäufe hatten, sollten vom Überschuß Gratifikationen erhalten. Ich sandte an Oberst Dunlop Smith einen Schuldschein mit Anweisung, daß dieser Betrag dem Gulam Rasul ausbezahlt werden solle, damit er, wenn ich von dieser Reise nicht wiederkäme, gedeckt sei.

Am 30. Oktober schickte Gulam Rasul seinen Sohn nach Leh, um die neue Karawane auszurüsten, die sich spätestens am 30. November fix und fertig in Drugub einfinden sollte. Für die wichtigen Dienste, die Gulam Rasul mir hier leistete, erhielt er später von Sr. Majestät König Gustav von Schweden die goldene Verdienstmedaille, und bei der Indischen Regierung bewarb ich mich für ihn, wie schon erwähnt, um den Ehrentitel Khan Bahadur, den er auch erhielt; hierbei berief ich mich jedoch verständlicherweise nur auf die großen kommerziellen Dienste, die er dem indischen Kaiserreich leistet.

In Gar-gunsa (Abb. 283) erhielt ich die Kunde von dem neuen Vertrag zwischen England und Rußland, der im Oktober dieses Jahres abgeschlossen worden war. »Großbritannien und Rußland verpflichten sich, während der drei nächsten Jahre nicht ohne vorhergehende Vereinbarung irgendeine wissenschaftliche Expedition, welcher Art sie auch sei, in Tibet eindringen zu lassen und China aufzufordern, es ebenso zu halten.«

283. Kloster von Gar-gunsa.

Es war, als sei diese Klausel eigens für mich erfunden worden! Ich sagte Gulam Rasul kein Wort davon. Aber ich sah ein, daß ich nicht länger als Europäer in Tibet umherreisen konnte. Es war mir im vorigen Jahre geglückt, als die politische Lage noch in der Schwebe gewesen war. Aber ich hatte den Chinesen sowohl wie den Tibetern eine Lehre erteilt und ihnen gezeigt, daß es einem Europäer möglich ist, das ganze Land in der Diagonale zu durchziehen. Ich hatte ihnen auch eine Waffe gegen mich in die Hand gegeben. Ein zweites Mal würde es mir nicht wieder glücken! Jetzt würden sie an der Peripherie des bewohnten Landes die Augen offen halten. Ich mußte also verkleidet reisen, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Ein neuer Kurier wurde daher nach Leh gesandt, um mir einen vollständigen Ladakianzug von mohammedanischem Schnitt zu besorgen. Auch Gulam Rasul meinte, daß es unter allen Umständen das klügste sei, als Kaufmann zu reisen. Der neue Karawanenführer sollte unser Herr sein, ich selber sollte als der geringste seiner Diener gelten und bei allen Verhandlungen im Schatten verschwinden.

Das Ganze war ein hohes Spiel, eine politische und diplomatische Schachpartie, der Einsatz: mein eigenes Leben – oder große geographische Entdeckungen! Ich, der ich bisher mit den Tibetern auf freundschaftlichem, vertrautem Fuße gestanden hatte, mußte ihnen nun wie Feinden aus dem Wege gehen! Ich würde keinem Tibeter in die Augen sehen können und mußte meine eigenen verhüllen, um nicht ertappt zu werden. Daher wurde eine große, runde Brille mit dunkeln Gläsern und Korbrändern angeschafft; an ihrer inneren Seite befestigte ich geschliffene Gläser von der Schärfe, die meine Augen erfordern. Die europäische Ausrüstung mußte so minimal wie nur denkbar gemacht werden; der große photographische Apparat und das Boot mußten daher mit der übrigen Bagage nach Leh gehen, und ich nahm nur eine kleine Richardskamera mit.

Die Hauptsache war, daß ich in den bewohnten Gegenden mit orientalischer Selbstbeherrschung und völlig passiv auftrat. Der Ausgang dieses tollen Planes schwebte mir selber noch in undurchdringlichem Dunkel vor. Ich wußte nur, daß ich von Drugub nordwärts in der Richtung des Kara-korum-Passes gehen, dann nach Osten und Südosten abbiegen und vom Lemtschung-tso aus versuchen müßte, den weißen Fleck, der im Süden der Route Bowers von 1891 lag, zu durchziehen, um von dort aus die Reise durch den großen weißen Fleck im Norden des oberen Tsangpo fortzusetzen. Gelang mir dies, so wollte ich entweder durch Nepal oder über Gyangtse, wo ich vielleicht noch Gelegenheit haben würde, Major O'Connor zu treffen, was ich mir schon immer gewünscht hatte, nach Indien hinunterziehen. Gulam Rasul riet mir, ja sehr vorsichtig zu sein, denn in Drugub besolde das Rudok-dsong einen Spion, der über die Bewegungen der Europäer auf der englischen Seite der Grenze zu berichten habe. Dieser Spion war eine der gefährlichsten Unterwasserklippen in meinem Fahrwasser; der Argwohn der Tibeter war schon erregt worden, als sie gesehen, daß ich Gulam Rasul 20 Maulesel abgekauft halte. Der Garpun schickte sogar einen Boten, der sich erkundigte, wozu ich sie brauche. Er erhielt die Antwort, daß sie zur Reise nach Chotan bestimmt seien.

Thakur Jai Chand hatte seinen vortrefflichen Tschamadar dem aus Indien kommenden Transport entgegengeschickt. Anfangs November erhielten wir endlich Nachricht, daß die Sendung im Anzuge sei. Nun schlug Robert vor, mit einigen unserer neuen Maulesel den ersehnten Gästen entgegenzuziehen. Spät abends am 6., als ich schon zu Bett war, kamen sie alle an. Es waren fünf Polizisten aus Rampur (Abb. 284), einer von ihnen hatte Lungenentzündung und war mehr tot als lebendig. Robert hatte sie beim Zusammentreffen so durchfroren und erschöpft gefunden, daß er erst die ganze Gesellschaft hatte massieren müssen, um wieder Leben in sie zu bringen.

284. Die Gendarmen aus Rampur, die meine Post nach Gar-gunsa beförderten.

Sofort gab ich Befehl, ein gewaltiges Feuer anzuzünden und Tee aufzusetzen. Sie kamen mit ihren beladenen Mauleseln heran, zwei Mohammedaner, drei Hindus, alle in dunkelblauen Uniformen mit hohen blau und weißen Turbanen und Gewehren mit Bajonetten. Ich hieß sie willkommen, dankte ihnen, wie vorzüglich sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, und ließ mir von ihrem Korporal über ihre anstrengende, beschwerliche Reise über den Adschi-la Bericht erstatten. Dann wurden ihnen in einem Zelt Schlafplätze angewiesen, und am nächsten Tag besichtigte ich die neun Kisten, die mir Oberst Dunlop Smith geschickt hatte. Drei von ihnen enthielten 6000 Rupien in Silber, lauter Königinnen, keine Könige, denn die Tibeter nehmen die Rupien, auf denen das Bild des Königs Eduard geprägt ist, nicht! Die übrigen Kisten enthielten Konserven aller Art, Eingemachtes, Schokolade, Käse, Kakes und Biskuit, Zigarren, Zigaretten und Pfeifentabak, goldene und silberne Uhren und Revolver mit Munition, beides zu Geschenken bestimmt, Patronen zu zweien unserer Flinten, Notizbücher und Kartenpapier, eine ganze Bibliothek neuer Romane, Jack Londons » The call of the wild«, ein Geschenk O'Connors und eine passende Lektüre für die Zeit der Abenteuer, die unser wartete, einen Anemometer und einen Aräometer, Geschenke des Chefs der meteorologischen Zentralanstalt in Simla, Dr. Gilbert Walker, und eine Menge anderer ebenso notwendiger wie willkommener Dinge. Der liebenswürdige Oberst, seine ebenso liebenswürdige Schwester, Miß Mary, und seine Tochter, Miß Janet, hatten eine Masse Arbeit damit gehabt, da sie erst alle Sachen ausgesucht und gekauft und sie dann eingepackt und nach Tibet geschickt hatten; ihrer Güte war es zuzuschreiben, daß ich noch lange wie ein Prinz leben konnte, und ich kann ihnen dafür nicht genug danken.

Jetzt hatte ich auf nichts mehr zu warten. Die Polizisten wurden gut bezahlt, und ich trug außerdem die Kosten ihrer Rückreise und schenkte ihnen Winteranzüge, nahm dann herzlichen Abschied von meinem redlichen Freunde Gulam Rasul, ohne dessen Beistand die neue Reise unmöglich gewesen wäre, dankte Thakur Jai Chand und den anderen Hindus für ihre Freundlichkeit und brach am 9. November 1907 nach Nordwesten auf, dem Laufe des oberen Indus folgend (Abb. 276 und 285–294).

276. Der Oberlama in Tschuschul-gumpa. Skizze des Verfassers.

285. Robert im Boot unterhalb Gar-gunsa an dem Punkte, wo die beiden Indusarme sich vereinigen.

286. Götterbilder in Tschuschul-gumpa.

287. Meine Yaks im oberen Industal.

288. Mein Boot auf dem Indus bei Taschi-gang.

289. An der Klosterpforte in Taschi-gang, zwischen Gar-gunsa und Ladak.

290. Der Oberlama in Tschuschul-gumpa.

291. An der Klosterpforte in Taschi-gang, zwischen Gar-gunsa und Ladak.

292. Tanzende Pilgerinnen in Tschuschul.

293. Mädchen in Tschuschul.

294. Auf dem Weg nach Tankse.

Am 26. erreichten wir Tankse, wo die Honoratioren der Gegend und sogar der Tesildar aus Leh selbst uns empfingen. Sie hatten schon alle gehört, daß ich mitten im Winter nach Chotan reisen wolle. Der folgende Tag sollte ein Ruhetag sein, denn hier wollte ich alle meine alten Diener, außer Robert und dem Gurkha Rub Das, entlassen. Als ich gefrühstückt hatte, trug Tsering die Teller und Schüsseln, deren Emaille jetzt bedenkliche Lücken zeigte, hinaus. »Dies ist das letztemal, Tsering, daß du mich bedienst; du hast mir treu und gut gedient.« Da begann der Alte zu weinen und eilte schnell hinaus.

Dann ließ ich alle nach meinem Zelt rufen und hielt eine Rede an sie. Sie hätten sich treu und gehorsam in meinem Dienst abgearbeitet und die Gemütlichkeit und Ruhe, die ihrer im Familienkreis am häuslichen Herde warte, wohl verdient. Dann wünschte ich ihnen für die Zukunft Glück und Wohlergehen und erinnerte sie an den Verlust, den wir alle durch Muhamed Isas Tod erlitten hatten, des guten Muhamed Isa, der, als wir zuletzt in Tankse gewesen, alles so klug und gewissenhaft eingerichtet hätte. Und um ihnen zu zeigen, daß nicht nur wir ihn betrauerten, las ich ihnen vor, was mir Younghusband, O'Connor und Rawling über sein Hinscheiden geschrieben hatten.

Während ihre fünf Pferde und fünf Yaks mit ihrer ganzen Habe beladen wurden, mußten sie der Reihe nach zu mir ins Zelt kommen und ihren Lohn nebst einer Gratifikation in Empfang nehmen. Tsering, Rehim Ali, Schukkur Ali und Tundup Sonam erhielten noch besondere Geldgeschenke, die drei letzteren hatten ja meinetwegen in Lebensgefahr geschwebt. Der alte Tsering bat mich, ob er nicht den lahmen Hund vom Ngangtse-tso behalten dürfe; sein Bellen vor seiner Hütte in Leh werde ihn an den Wachtdienst des Hundes bei unsern Lagerfeuern erinnern. Schukkur Ali durfte einen zweiten Hund aus derselben Gegend behalten. Nun hatte ich nur noch die braune Puppy (Abb. 304), die nebst Robert und dem Maulesel aus Poonch zu den ältesten Veteranen der Karawane gehörte, denn alle drei hatten mich schon von Srinagar an begleitet.

304. Meine braune Puppy mit dem Koch Tsering.

Und dann kam der bittere Augenblick des Abschieds. So viel Kummer, so viel lautes Weinen! Sie konnten sich kaum losreißen. Der Tesildar war ganz ergriffen, als er so viel Anhänglichkeit bei diesen einfachen Arbeitern sah. Aber es waren auch starke Bande, die zerrissen wurden, denn es gibt wohl nichts, was Menschen so fest miteinander verknüpft, als gemeinsam ausgestandene Leiden und Gefahren. Mir selbst wurde es irgendwo oben im Halse so eng, als ob mir die Kehle zugeschnürt würde, und als sie endlich zögernden Schrittes ihren Yaks auf dem Weg durch Drugub abwärts folgten, blieb ich noch lange stehen und schaute ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann trocknete auch ich mir die Tränen ab, ehe ich wieder ins Zelt ging, wo mich Robert und der Tesildar bei Tee und Kuchen, serviert von Rub Das, erwarteten. Ich mußte dabei an den Leichenschmaus nach einer Beerdigung denken, bei der man einen Veilchenkranz auf das Grab eines entschlafenen Freundes gelegt hat.

Am folgenden Morgen erwachte ich zu ganz Neuem. Alle die Alten waren in alle Winde zerstoben, und nun sie fort waren, kam mir alles leer und verlassen vor. Robert las wie gewöhnlich die meteorologischen Instrumente ab, und Rub Das setzte mir, leise wie ein Wichtelmännchen, mein Frühstück vor. Ich freute mich, daß ich trotzdem keine Spur von Unschlüssigkeit empfand. Derselbe Engel, der uns auf der vorigen Reise beschützt hatte, würde auch jetzt meine Schritte begleiten. »Ich höre in der Ferne das Rauschen seiner Flügel« droben in den kalten Winternächten in Tschang-tang.


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