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Mein Leben war während dieser Tage düster und einsam und unsere Zukunft ungewiß. Wir wanderten wie im Dunkeln und tasteten mit den Händen umher, um nicht zu fallen. Jeder Tag, der ohne ein verhängnisvolles Abenteuer verlief, erschien mir wie eine unerwartete Überraschung. Jetzt hatten wir nur noch zwei Tagereisen bis Raga-tasam an der großen Heerstraße, wo Karawanen und Reisende hin und her ziehen und die Regierungsbeamten dafür verantwortlich sind, daß keine Unbefugten durchgelassen werden! Ich aber war meiner Verkleidung und der ewigen Aufregung herzlich überdrüssig und sehnte mich nach einer Krisis, die mich aus dieser Gefangenschaft wieder befreien würde. Aber mich selber den Tibetern auf Gnade und Ungnade zu überliefern, davon konnte denn doch keine Rede sein! Sie sollten selbst ausfindig machen, wer ich war, und bis dies geschah, würde eben die Aufregung kein Ende nehmen.
Der 24. April, der Jahrestag der Rückkehr von Nordenskiölds Schiff »Vega« nach Stockholm im Jahre 1880! Als die Sonne aufging, lag das ganze Land blendend weiß in seinem winterlichen Schneegewand vor uns. Die Kälte war wieder bis auf 16,4 Grad heruntergegangen, aber nun, da die Sonne emporstieg, dampfte es um die Pferde, und leichte Dunstwölkchen erhoben sich aus dem Schnee; man konnte glauben, durch eine Solfataren- und Fumarolenlandschaft zu reiten. Unsere Karawanentiere ertrugen diesmal das mühsame Steigen gut. Von den Schafen waren nur noch zwanzig vorhanden, zwei davon Veteranen vom Lumbur-ringmo-tso. Zweimal glaubten wir den Paß Kintschen-la gerade vor uns zu haben, aber immer wieder erhoben sich neue Höhen hinter der vermeintlichen Schwelle, und wir arbeiteten uns die Hügel hinauf, zwischen denen die Bäche nach Basang und Saka-dsong hinabrinnen, wo Muhamed Isa unter seinem Grabhügel schlummert! Im Südwesten boten die Gipfel des Tschomo-utschong einen prachtvollen Anblick. Endlich hatten wir den letzten Aufstieg nach der Steinpyramide des Passes hinter uns und befanden uns 5441 Meter über dem Meeresspiegel. Nach der anderen Seite strömt in nordöstlicher Richtung ein Bach – einer der Quellflüsse des Raga-tsangpo. Die Aussicht nach Westen war brillant, scharf und zerklüftet erhoben sich die Spitzen des Lunpo-gangri aus einem Gewirr von Bergen und Graten, die in um so helleren, blaueren Nuancen hervortraten, je entfernter sie lagen. Im Nordosten fesselte den Blick eine Kette von Vorbergen, die vom Fuß bis zum Scheitel mit frisch gefallenem Schnee bedeckt waren. Das breite, flache Tal des Raga-tsangpo erstreckte sich nach Osten, soweit der Blick reicht. In weiter Ferne erblickte man im Ostsüdosten einen grandiosen Schneekamm, den nördlichsten des Himalajasystems.
Wir blieben lange oben, und ich zeichnete ein Panorama. Dann folgten wir der Spur der Karawane über zwei niedrigere Bergschultern hinüber und fanden unser Lager in einem scharf ausgeprägten Tal mit gutem Gras und einem teilweise zugefrorenen Bach. Seinem Ufer war mein Zelt zugekehrt; alle drei Zelte lagen, wie gewöhnlich, in einer Linie. Auch an diesem Tag war alles glücklich abgelaufen, aber morgen mußte es ernst werden; morgen mußten wir Raga-tasam erreichen, wo ich voriges Jahr eine ganze Woche gelagert und gewartet hatte. Das Lager 391 war also das letzte, in dem ich mich noch ungeniert fühlte; wir hatten ja den ganzen Tag über keine lebende Seele gesehen und hatten auch keine Nachbarn. Hier sollten daher einige neue Vorsichtsmaßregeln getroffen werden.
Wir wollten alles von unserer bereits minimalen Bagage aussondern, was irgend Argwohn erregen könnte; darunter die gepolsterte kleine Lederkiste, in der das Universalinstrument geschützt lag; es sollte künftig in seinem inneren Holzkasten in meinen Schlafsack eingerollt werden. Ferner das Lederfutteral des Siedethermometers und den Aktinometer (Sonnenstrahlenmesser), der wohl nie wieder gebraucht werden würde. Das Brennbare sollte ins Feuer geworfen und alles übrige vergraben werden. Auch zwei Kamelhaardecken wollten wir kassieren.
Zunächst wurde noch eine Änderung in unseren Wohnungsverhältnissen vorgenommen. Ich sollte diese Nacht zum letztenmal in meinem alten, sturmzerfetzten Zelt schlafen, in dem Abdul Kerim, unser Chef, von morgen an hausen und künftig Gäste empfangen würde. Für mich wurde eine Abteilung in Abdul Kerims bisherigem Zelt gemacht, die nur so groß war, daß mein Bett eben den 2 Quadratmeter großen Raum ausfüllte. Diese Bucht, die nach Aufschlagen des Lagers von allen Seiten verschlossen blieb, sollte meine künftige Gefängniszelle sein. Sie glich dem Geheimfach in einem Schreibtisch; als sie fertig war, was sehr schnell ging, inspizierte ich sie und fand sie ebenso eng als gemütlich.
Suän war mein Friseur; er war heute gerade mit seiner Arbeit fertig, als Abdul Kerim in die Zeltöffnung guckte und mir flüsternd mitteilte, vier Männer kämen mit Yaks den Weg herab, den wir vom Kintschen-la heruntergezogen seien. Schnell ordnete ich meinen Anzug und wand mir den Turban um den Kopf, während die Zeltöffnung zugeknotet und Takkar davor angebunden wurde. Dann sah ich durch das Guckloch der Zeltwand, von wo aus ich den aufwärts gehenden Teil des Tales überblicken konnte, und bemerkte acht Fußgänger in dunkelblauen und roten Anzügen und roten Kopfbinden, mit Flinten und Säbeln bewaffnet und ihre neun Pferde am Zügel führend; ein Mann führte nämlich zwei Packpferde. Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? Räuber konnten es nicht sein; die kommen plötzlich und bei Nacht. Sie sahen mir eher aus wie Leute im Dienst der Regierung; die beiden Voranschreitenden waren sicherlich Beamte. Meine Leute saßen mit allerlei Hantierungen beschäftigt am Feuer; ich sah ihnen an, daß sie von der größten Unruhe erfüllt waren.
Die Fremdlinge gingen direkt auf unser Lagerfeuer los, als ob dies das Ziel ihrer Reise sei. Sie bildeten einen Kreis um Abdul Kerim, Lobsang, Kutus und Gulam und begannen mit ihnen ein lebhaftes, aber leises Gespräch. Drei von ihnen, entschieden Diener, begaben sich mit den Pferden nach einer Stelle, die kaum 30 Schritt entfernt gerade vor meiner Zelttür lag. Dort nahmen sie den Tieren die Sättel und das Gepäck ab, trieben sie auf die Weide, packten Kessel und Kannen aus, stellten die üblichen drei Herdsteine hin, sammelten Feuerungsmaterial, füllten einen großen Kessel mit Wasser und kochten Tee. Es war klar, daß sie die Absicht hatten, die Nacht über hier zu bleiben, und daß ihre Zudringlichkeit den Zweck hatte, uns auszuspionieren.
Die fünf anderen traten in Abdul Kerims Zelt, wo sie Platz nahmen und die Unterhaltung ebenso leise, langsam und in durchaus höflichem, taktvollem Tone fortsetzten. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich konnte sehr gut verstehen, daß es sich um ernste Dinge handelte, denn ich hörte sie meinen Namen – Hedin Sahib – nennen! Nachdem die Unterredung eine gute Stunde gedauert hatte, begaben sie sich wieder ins Freie und gingen einmal um mein Zelt herum, an dessen Eingang der wütend bellende Takkar sie jedoch nicht heranließ. Aber sie entdeckten das Guckloch in der Zeltwand! Ein Mann steckte seinen Finger hindurch und sah hinein, bemerkte mich aber nicht, da ich auf derselben Seite dicht am unteren Rand der Zeltwand an der Erde lag. Sie gingen dann nach ihrem Feuer und setzten sich im Kreis um den Kessel, holten ihre Holztassen heraus und begannen Tee zu trinken. Sie saßen gerade vor dem Eingang meines Zelts; ich konnte also nicht ungesehen hinauskommen!
Nun flüsterte mir Abdul Kerim aus seinem Zelt durch die Rückwand des meinen mit bebender Stimme zu, was die Leute gesagt hatten. Der Führer, ein korpulenter, aber angenehm aussehender junger Mann habe alle die üblichen Fragen gestellt und die gewöhnlichen Antworten erhalten. Darauf habe er in ernstem, bestimmtem Ton folgende Worte gesprochen:
»Durch zwei Karawanen, die oberhalb von Pasa-guk an euch vorbeizogen, ist der Gouverneur von Saka-dsong von eurem Kommen unterrichtet. Da es noch nie vorgekommen ist, daß Kaufleute aus Ladak von Norden her gekommen oder gar den Schleichweg über Gäbuk gezogen sind, schöpften der Statthalter und die anderen Behörden in Saka-dsong Verdacht, daß sich Hedin Sahib unter euch verborgen halte, um so mehr, als er selber im vorigen Jahr geäußert hat, wieder zurückkommen und durch die Gebirgsgegenden im Norden reisen zu wollen. Daher haben ich und meine Kameraden Befehl erhalten, eurer Spur zu folgen, euch einzuholen und eine gründliche Untersuchung bei euch anzustellen. Wir haben keine Eile. Morgen bringen mehrere Yaks uns Proviant. Ihr beteuert, daß Hedin Sahib sich nicht, etwa als Ladaki verkleidet, unter euch befindet. Nun gut, es ist ja möglich, daß ihr die Wahrheit sagt. Vergeßt aber nicht, ihr Tsongpun, daß wir unsern Befehlen bis ins kleinste gehorchen werden. Ihr seid dreizehn Männer aus Ladak, ich sehe hier aber nur zehn, wo sind die übrigen?«
»Sie sind ausgegangen, um Brennmaterial zu sammeln.«
»Gut. Wenn ihr alle hier versammelt seid, wird die Untersuchung beginnen, und zwar wird jeder einzelne bis auf die Haut untersucht werden! Darauf werden wir euer sämtliches Gepäck von außen und innen besichtigen und jeden Sack, den ihr in euren Zelten habt, ausschütten! Wenn wir auch bei dieser Untersuchung nichts finden, was auf einen Europäer schließen läßt, so habt ihr mir nur noch eine schriftliche Erklärung auszustellen, daß sich in eurer Gesellschaft kein verkleideter Europäer verborgen hält, und unter dieser Bescheinigung werdet ihr euren Namensstempel setzen. Ist das geschehen, so könnt ihr schon morgen früh ziehen, wohin ihr wollt, und wir selber kehren dann nach Saka zurück.«
Als ich diesen Bericht angehört hatte, war mir die Sachlage klar. Ich faßte sofort einen Entschluß, den ich gleich auszuführen beabsichtigte. Zuerst aber schlich ich mich auf dem geheimen Weg in das Zelt des Karawanenführers, wo ich inmitten meiner Leute war, außer den dreien, die draußen Wache hielten, um uns sofort zu benachrichtigen, falls die Tibeter zurückkämen.
»Was ist zu tun?« fragte ich Abdul Kerim.
»Das weiß der Sahib selber am besten; meiner Ansicht nach ist unsere Lage verzweifelt«, antwortete der redliche Mann, der uns schon so oft aus der Klemme geholfen hatte.
»Was meinst du, Lobsang?«
»Es wäre nicht klug, ihnen die Erklärung auszustellen«, erwiderte er mit tiefbekümmerter Miene.
»Sahib,« schlug Kutus vor, »wenn sie uns bis zur Nacht Frist lassen, können der Sahib und ich uns wieder ins Gebirge schleichen, wie damals, als Tsongpun Taschi uns auf den Leib gerückt war. Wenn die Untersuchung fertig ist, können wir weiter abwärts wieder zur Karawane stoßen. Die Papiere des Sahib kann ich tragen; die andern europäischen Sachen können wir drinnen im Zelt vergraben.«
»Sie wissen, daß wir dreizehn sind«, fiel Gulam ein.
Durch die Verhältnisse gezwungen, hatten wir uns mit erlogenen Geschichten durch ganz Tibet durchgeholfen. Aber Abdul Kerim meinetwegen mit seinem Namensstempel ein falsches Zeugnis bekräftigen zu lassen, das war für meine geographische Moral denn doch zu stark, das konnte ich nicht zugeben! Was auch geschehen mochte, wir waren trotz alledem noch in ziemlich guter Lage. Wir waren im Herzen Tibets. Der nächste Schritt würde sein, daß man uns aus dem Lande wiese, und ich würde dabei immer noch etwas erreichen können, auf welchem Wege man mich auch auf den Schub brächte! Ich würde mich unbedingt weigern, wieder nach Ladak zu gehen, aber gern bereit sein, durch Nepal oder, noch lieber, über Gyangtse nach Indien zu ziehen.
»Nein,« sagte ich zu meinen Leuten, indem ich mich höher aufrichtete, » ich werde mich den Tibetern selbst angeben.«
Da fuhren sie alle erstaunt zurück und begannen wie Kinder zu weinen und zu schluchzen.
»Weshalb weint ihr?« fragte ich.
»Wir müssen uns hier ja auf ewig trennen, der Sahib wird getötet werden«, antworteten sie.
»O nein, so gefährlich wird es wohl nicht werden«, sagte ich, da ich ja nicht zum erstenmal von den Tibetern erwischt wurde. Als ich aus dem Zelt heraustrat, hörte ich hinter mir die Mohammedaner Gebete murmeln. » Allahu ekbär! – Bismillah rahman errahim!«
Wie gewöhnlich von Kopf bis zu Fuß verkleidet und im Gesicht schwarz angetuscht, ging ich langsamen Schrittes gerade auf den Kreis der Tibeter zu. Als ich ganz dicht bei ihnen war, erhoben sich alle, als fühlten sie, daß sie es nicht mit einem gewöhnlichen Ladaki zu tun hätten.
»Setzen Sie sich!« sagte ich mit einer von oben herab dazu auffordernden Handbewegung und nahm selber zwischen den beiden Vornehmsten Platz. In dem zu meiner Rechten sitzenden Herrn erkannte ich sofort Pemba Tsering vom vorigen Jahr! Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte: » Kennen Sie mich denn nicht mehr, Pemba Tsering?« Er erwiderte kein Wort, sah aber seinen Gefährten mit weitgeöffneten Augen an und warf den Kopf nach meiner Seite hin zurück, was soviel bedeutete wie: » Er ist es!« Sie waren außerordentlich verblüfft und bestürzt; keiner sprach, einige guckten sich an, andere starrten ins Feuer, einer schob zwei Brände wieder zwischen die Steine und ein anderer schlürfte langsam seinen Tee.
Nun ergriff ich wieder das Wort: »Ja freilich, Pemba Tsering, Sie haben recht, ich bin Hedin Sahib, derselbe, der im vorigen Jahr Saka-dsong besuchte. Nun haben Sie mich wieder. Was gedenken Sie nun mit mir anzufangen?«
Abdul Kerim, Lobsang und Kutus, die hinter mir standen, zitterten wie Espenlaub und glaubten, der nächste Schritt, der nun folge, werde die Vorbereitung zur Hinrichtung sein.
Auch jetzt antworteten sie nicht, begannen aber gruppenweise untereinander zu flüstern. Der jüngere Beamte, der sichtlich der Haupthahn der Gesellschaft war, denn die anderen sahen ihn an und warteten auf seine Antwort, begann nun in seinen Papieren zu kramen und zog eines heraus, das er schweigend durchlas. Da es eine Weile dauerte, bis sie sich von ihrem ersten Erstaunen erholt hatten – denn mich so leicht zu fangen, hatten sie ganz gewiß nicht erwartet –, ließ ich mir von Kutus eine Schachtel ägyptischer Zigaretten bringen und präsentierte sie ihnen der Reihe nach! Sie nahmen jeder eine, dankten und zündeten sie an, nachdem ich ihnen mit gutem Beispiel vorangegangen war und ihnen damit den Beweis geliefert hatte, daß die Zigaretten nicht etwa mit Pulver geladen waren. Damit war das Eis gebrochen, und der Führer begann zu sprechen, mit sehr leiser Stimme und ohne mich anzusehen.
»Gestern kam ein sehr strenger Befehl vom Devaschung, der Statthalter von Saka sei dafür verantwortlich, daß sich kein Europäer von Westen her in das Land einschleiche. Jeder Europäer, der sich hier zeige, müsse augenblicklich gezwungen werden, auf demselben Weg, auf dem er gekommen sei, wieder abzuziehen. Als das Gerücht von Ihrer Karawane vor zwei Tagen nach Saka drang, argwöhnte der Statthalter, daß Sie es sein könnten, Hedin Sahib, und wir haben jetzt unsern Auftrag ausgeführt. Im Namen des Statthalters verbieten wir Ihnen, auch nur einen Schritt weiter nach Osten zu gehen! Wir bitten Sie, sich nach unseren Anordnungen zu richten. Es handelt sich um unsere Köpfe und um ihre eigene persönliche Sicherheit. Morgen begleiten Sie uns über den Kintschen-la nach Saka-dsong.«
»Ich habe Ihnen im vorigen Jahr gesagt, daß ich die im Norden der Provinz Saka liegenden Gebirgsgegenden sehen wolle und sehen müsse! Da Sie es mir nicht erlaubten, beschloß ich wiederzukommen. Jetzt habe ich sie gesehen, und Sie haben es nicht verhindern können. Sie sehen also, daß ich größere Macht in Ihrem Lande habe als Sie selber. Ich beabsichtige nun nach Indien zurückzureisen; über den Weg, auf dem dies geschehen wird, hat nur Lien Darin, der Amban von Lhasa, zu bestimmen. Es ist daher meine Absicht, an ihn zu schreiben. Vor dem Eintreffen seiner Antwort kann ich nirgends hinreisen.«
»Wir haben auch keinen sehnlicheren Wunsch, als daß Sie der Straße folgen, für die Sie sich selber entscheiden, aber wir sind nicht bevollmächtigt, Ihre Briefe nach Lhasa zu befördern; darüber entscheidet allein der Gouverneur. Er ist es also, mit dem Sie unterhandeln müssen; Sie müssen persönlich mit ihm zusammentreffen. Daher begeben wir uns morgen gemeinschaftlich nach Saka-dsong.«
»Nein, mein Herr, überall hin, aber nicht nach Saka-dsong! Sie wissen, daß mein Karawanenführer dort starb und dort begraben liegt. Es widerstreitet meinen Grundsätzen, einen Ort zu besuchen, wo ich einen treuen Diener habe begraben müssen. Nach Saka-dsong bringen Sie mich nicht, auch wenn Sie ganz Tibet aufbieten.«
»Wenn es Ihnen schmerzlich ist, Saka-dsong wiederzusehen, werden wir gewiß nicht darauf bestehen. Wollen Sie statt dessen die Güte haben, uns nach Semoku am Tsangpo auf der Tasam zu folgen, das wir in nur zwei Tagereisen nach Südwesten erreichen können? Ich werde an den Gouverneur schreiben und ihn bitten, dort mit Ihnen zusammenzutreffen.«
»Gut, ich werde morgen mit Ihnen nach Semoku ziehen.«
»Danke. Ich werde den Gouverneur gleich durch einen Eilboten davon unterrichten, damit Sie nicht in Semoku zu warten brauchen. Aber sagen Sie mir, weshalb sind Sie eigentlich wiedergekommen? Sie reisen und reisen in Tibet umher, werden stets ausgewiesen und kommen immer wieder! Haben Sie im vorigen Jahr, als Sie gezwungen wurden, das Land auf dem Weg nach Ladak zu verlassen, denn noch nicht genug davon bekommen? Und nun tauchen Sie wieder mitten unter uns auf! Wie ist denn das nur möglich, und weshalb kommen Sie eigentlich?«
» Weil ich Ihr Land und Ihr freundliches Volk so sehr liebe, daß ich ohne Sie nicht leben kann.«
»Hm! Es ist sehr freundlich von Ihnen, so zu sprechen; aber wäre es nicht besser, wenn Sie statt dessen Ihr eigenes Land ein wenig mehr liebten? Solange wir keine Reisen in Ihrem Lande machen, brauchen Sie auch unseres nicht zu durchreisen. Wir bleiben daheim; bleiben auch Sie zu Hause, das ist das beste, was Sie tun können!«
»Solange wie ich noch in einem Sattel sitzen kann, werde ich immer wiederkommen! Sie können es dem Devaschung ruhig mit einem Gruß von mir bestellen, daß die hohen Herrschaften sich auf neue Besuche von mir gefaßt machen möchten.«
Sie lachten vergnügt und guckten einander an, als wollten sie sagen: wenn er wiederkommen will, unsertwegen mag er es gern tun. Und meine Ladakis lachten ebenfalls und waren sehr erstaunt, daß unser letzter Freiheitstag so friedlich und so lustig endete. Die Tibeter waren die ganze Zeit außerordentlich liebenswürdig, höflich und gefügig und sagten kein einziges hartes oder zorniges Wort über die Mühe, die ich ihnen schon wieder verursachte. Als die Rede auf die Wollgeschichte kam, die Abdul Kerim ihnen vorher weiszumachen versucht hatte, lachten sie erst recht herzlich und erklärten sie für einen guten Einfall. Sie sind selber so an Flausen gewöhnt, daß es ihnen imponiert, wenn ein anderer sie mit Erfolg hinters Licht führt. Sie fanden es auch höchst wunderbar, daß wir das ganze Land hatten durchziehen können, ohne entdeckt zu werden, und glaubten, daß ich über geheime Kräfte gebiete, um deretwillen man mit mir vorsichtig umgehen müsse!
Nun schrieb der junge Beamte, der Rintsche Dortsche hieß, aber Rindor – eine Zusammenziehung beider Namen – genannt wurde, einen ausführlichen Brief an den Statthalter von Saka, des Inhalts, daß ich derselbe Hedin Sahib sei, der im vorigen Jahr hier gewesen sei, daß wir ohne böse Worte und in aller Freundschaft beschlossen hätten, zusammen nach Semoku zu ziehen, daß ich nicht nach Ladak, sondern direkt nach Indien reisen wolle und daß nur Lien Darin bestimmen könne, auf welchem Weg dies zu geschehen habe. Der Brief wurde versiegelt und mit einem reitenden Kurier über den Kintschen-la geschickt.
Dann plauderten und scherzten wir wieder miteinander, und noch ehe die Sonne unterging, waren wir so intim, als seien wir schon von der Kinderzeit her befreundet. Es war, als hätten wir in diesem öden Tal ein Rendezvous verabredet und freuten uns jetzt, einander nicht verfehlt zu haben!
Daß die Tibeter vergnügt waren, ist leicht begreiflich. Sie hatten ja, als diese selbe Sonne aufging, nicht geahnt, daß sie noch vor Abend einen so guten Fang machen würden! Der glückliche Ausgang ihrer Mission konnte ihnen nur Vorteil bringen; sie würden vom Gouverneur gelobt und im Rang befördert werden. Aber auch ich empfand ungeteilte Freude. Meine Freiheit war freilich zu Ende, aber in Wirklichkeit war sie ja nur eine außerordentlich nervenzerrüttende Gefangenschaft gewesen. Jetzt erst fühlte ich mich vollkommen frei und nicht mehr als Gefangener in meinem eigenen Zelt; jene jämmerliche Geheimzelle in Abdul Kerims Zelt brauchte ich nun nicht mehr zu benutzen. Die Tibeter lachten herzlich über meinen zerlumpten, berußten und fettigen Anzug von grober grauer Sackleinwand, in dem ich wie ein Sträfling, im besten Fall wie ein Bettelmönch des Ordens der Kapuziner aussah. Daß ich darin unbemerkt und unentdeckt durch ganz Bongba hatte kommen können, war ihnen aber verständlich. Wie schön war es jetzt, den ganzen Anzug ins Feuer werfen und einen neuen sauberen tibetischen anlegen zu können, die Papiere und Instrumente nicht länger in Reissäcken verstecken und sich nicht jeden Morgen das Gesicht, anstatt es zu waschen, mohrenschwarz antuschen zu müssen! Sobald wir uns am Abend von unseren neuen Freunden getrennt hatten, mußte mir Gulam in einer Waschschüssel heißes Wasser bringen. Und nun folgte in meinem Zelt eine gründliche Waschung von Kopf bis zu Fuß – und man sah es am Wasser, wie nötig sie war! Viermal mußte Gulam frisches heißes Wasser bringen, ehe ich mich einigermaßen rein fühlte. Dann schnitt ich meinen Mohammedanerbart bis auf die Haut ab und betrauerte aufrichtig die fortgeworfenen Rasiermesser! Andererseits freute ich mich auch, daß ich keine Zeit gehabt hatte, die vor einigen Stunden zum Feuertod verurteilten Sachen noch zu verbrennen.
Rindor bat, eines unserer Zelte leihen zu dürfen, da ihr eigener Transport erst morgen zu erwarten sei (Abb. 326). Außer Pemba Tsering kannte ich auch noch zwei der anderen vom vorigen Jahr her! Sie waren alle durchaus freundlich und erinnerten mich daran, daß ich ihnen gegenüber so nobel mit Trinkgeldern gewesen sei (Abb. 327). Auch ein alter runzeliger Mann befand sich unter ihnen, der unaufhörlich seine chinesische Pfeife rauchte. Er hieß Kamba Tsenam, und seine Zelte waren es, wo wir vor einigen Tagen beinahe entdeckt worden wären!
326. Abdul Kerims Zelt.
327. Rindors Wachmannschaft.
So endete der 24. April 1908. Eigentümliche, melancholische Gedanken stürmten auf mich ein, als ich mich schlafen legte. Wieder hatten die Tibeter meine Pläne durchkreuzt – ich weiß nicht, zum wievielten Male! Meine Zukunft war so dunkel wie nur je zuvor! Aber in meinem Schicksal begann jetzt eine neue Periode; am 25. soll ich zu einem neuen Kapitel erwachen. Das im Tal herrschende tiefe Schweigen wurde nur dann und wann durch Takkar unterbrochen, der treu vor meiner Tür stand und die Tibeter anbellte. Sein Bellen erweckte das Echo beider Bergwände – es klang, als ob mich drei Hunde bewachten. Und die ewigen Sterne funkelten wie früher über unseren einsamen Zelten.