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Einundsiebzigstes Kapitel.
Eine neue Reise über den »weißen Fleck«.

Am 26. Mai verließen wir den »himmlischen See«, dessen Ufer bisher noch nie Europäer oder Punditen betreten hatten, sahen seine blaue Fläche sich zwischen den Gebirgen zu einer Damaszener Klinge verschmälern und ihn schließlich im Osten verschwinden, während wir nach Westen hin über eine gewaltige Ebene ritten, die ehemals unter Wasser gestanden hat. Kutus, Lobsang und Pantschor begleiteten mich. Wir beeilten uns das Kloster zu überrumpeln, ehe die Mönche sich dessen versahen; die Karawane und die Eskorte sollten uns daher nachkommen und bei Mendong-gumpa lagern. Pantschor verschwand beim ersten Zelt, an dem wir vorbeikamen, und ward an diesem Tage nicht mehr gesehen! Er war feig und wollte nicht den Verdacht auf sich laden, uns den Weg nach dem Heiligtum gezeigt zu haben. Ich mußte mich also ohne ihn behelfen und das Kloster allein ausfindig zu machen suchen.

Da kamen aus einem Nomadenlager zwei Männer und eine Frau an den Pfad, dem wir folgten, und erkundigten sich, ob wir den Europäer nicht gesehen hätten, der in Bongba umherreisen solle. Um mein Inkognito bis Mendong zu wahren, antwortete ich, daß er mit seiner Karawane hinter uns herkomme und daß sie gut aufpassen sollten, da er eine komische Erscheinung sei! Vermutlich haben sie längst die Hoffnung aufgegeben, den Fremden zu sehen! Meine jetzt unfreiwillige und notgedrungene Verkleidung war also erfolgreich; die Nomaden beargwöhnten mich gar nicht, sondern hielten mich, ebenso wie die anderen, für einen Diener des erwarteten Europäers.

Eine Stunde nach der anderen verging, während wir auf unserem Ritt nach Westen vergeblich nach dem Kloster umherspähten. Endlich aber erhellten sich meine Aussichten mit einem Schlag. Wir befanden uns oben auf der 10 Meter hohen Uferterrasse, die das Bett des Soma-tsangpo im Osten begrenzt, und erblickten von dort aus am Fuß der gegenüberliegenden Terrasse das viereckige Steinhaus des Klosters (s. bunte Tafel) mit seinen weißen Wänden, die oben einen roten Querstreifen haben, seinen Tschorten, Manis und Wimpelmasten und zur Rechten und Linken des Hauses je ein Zeltdorf, das obere von sechzig Mönchen, das untere von vierzig Nonnen bewohnt. Der Soma-tsangpo, auch Njagga-tsangpo oder Soma-njagga-tsangpo genannt, führte jetzt 10–12 Kubikmeter Wasser, das langsam über tückisch schwankenden, nachgebenden Boden hinfließt. Es gelang uns trotz des gefährlichen Untergrundes, hinüberzukommen, und wir ritten an das Klostertor heran, wo uns zehn höfliche, aber sehr zurückhaltende Mönche empfingen (Abb. 352). Es fehlt mir der Raum, um Mendong-gumpas religiöse Organisation zu beschreiben. Ich will nur sagen, daß es bisher selbst dem Namen nach völlig unbekannt gewesen ist, wie so viele der Klöster, die ich im vorigen Jahr besuchte. Das Eigentümliche dieses Monasteriums ist, daß die Brüder und die Schwestern in schwarzen Zelten wohnen und jedes Zelt eine Zelle ist. Die Zelte sahen ganz komfortabel aus, aber die Schwestern, von denen ich einige abkonterfeite (s. bunte Tafel S. 328), waren gräßlich anzusehen, alte ungewaschene Hexen, ungepflegt und verwildert. Das Idyllische und Bezaubernde, das in dem Begriffe »Nonnenkloster in der Wildnis« liegt, ist eine Illusion, die beim Anblick dieser alten Meerkatzen spurlos verschwindet. Sie sind übrigens ihren männlichen Kollegen zum Verwechseln ähnlich, und oft ist es schwer zu erkennen, ob man einen Mann oder ein Weib vor sich hat.

352. Die Mönche von Mendong-gumpa kommen mir mißtrauisch entgegen.

Als wir am 28. Mai das einsame Kloster verließen, beschloß ich, mich schnell nach dem Rendezvous am Buptsang-tsangpo zu begeben, wo Abdul Kerim gewiß über unser langes Ausbleiben schon in Unruhe war. Wir hatten verabredet, daß die Trennung bloß vierzehn Tage dauern solle; aber ehe wir den Fluß erreichen konnten, würde nun ein ganzer Monat verstrichen sein!

Daher brachen wir jetzt früh auf, ritten auf dem rechten Ufer des Soma-tsangpo südwärts und überschritten also als Zugabe wieder die Bergkette, von deren Grat wir auf dem Tetala den Teri-nam-tso zum erstenmal gesehen hatten. Das Tal ist wohl 4 Kilometer breit, die Uferterrassen sind kräftig entwickelt, und die Abdachung findet sehr allmählich statt; selten hört man das Wasser rauschen; hier und dort steht ein Zelt, das grasende Herden umgeben. Noch ein Sonnenaufgang, und wir reiten durch diesen Fluß, der mit dem Satschu-tsangpo, dem Buptsang-tsangpo und dem Bogtsang-tsangpo die Ehre teilt, einer der größten des inneren Tibets zu sein (Abb. 353, 354). Durch das Tal Goa-lung ritten wir am 30. Mai nach dem Paß Goa-la (5298 Meter) hinauf, der flach und leicht zu ersteigen ist, in rosa und grauem Granit liegt und eine orientierende Aussicht über den im Süden liegenden Transhimalaja gewährt. Im Südwesten haben wir ganz dicht unter dem Paß den kleinen See Karong-tso, wie alles andere in diesem Land eine neue Entdeckung! Unser Weg führt nach Westen, als wir am 1. Juni, den Karong-tso zur Linken und einen mittelhohen Gebirgskamm zur Rechten, durch den Distrikt Bongba-kemar reitend der großen Straße der Salzkarawanen folgen, die Ragatasam mit dem Tabie-tsaka verbindet und über den bereits erwähnten Paß Tsalom-nakta-la geht. Eine große, von Naktsang kommende Straße vereinigt sich mit ihr. Im Lager 417 hatten wir den Tschunit-tso ganz nahe im Nordwesten.


353, 354. Die Schafe und Yaks gehen über den Soma-tsangpo.

Obgleich wir im Anfang des Juni waren, sank das Minimum noch immer unter Null; in der Nacht auf den 2. hatten wir 8,7 Grad Kälte. – Der Tag war jedoch warm, ja glühendheiß, da die Sonne schien und die Atmosphäre ruhig war. Sterile, wüste Täler warten auf die Regenzeit. Das Gras ist schlechter als schlecht, weil im vorigen Spätsommer der Regen ausgeblieben ist. Unsere Richtung wird jetzt südwestlicher. Vom Lager 418 sehen wir in S 60° O den Eingang des Tales, durch das eine große Straße durch Bongba-kjangrang über den Ditscha-la nach Laptschung führt.

Unsere Tibeter wissen es sich unterwegs so gemütlich wie möglich zu machen. Während des Marsches drehen sie Bindfaden, plaudern, singen, pfeifen und feuern ihre Yaks an. Beim Lagern schlagen sie im Handumdrehen ihr schwarzes Zelt auf, wobei zuerst die Taue gestreckt und mit Holzpflöcken im Erdboden festgemacht werden und dann das Zelttuch über seine Stangen gezogen wird. Die Tiere werden von ihren Lasten befreit und auf die Weide geführt; die Männer sammeln Brennmaterial und zünden im Zelt ein Feuer an, an dem sich dann alle versammeln, um Tee zu trinken und zu schlafen. Nach zwei Stunden kommen sie wieder heraus, ringen miteinander, spielen und lachen. In der Dämmerung hört man den einen ein monotones Lied singen, das jedoch lustig sein muß, da die anderen bei gewissen Stellen herzlich lachen. Morgens und abends plappern sie Gebete, alle zugleich, dann entsteht ein Summen wie in einem Bienenkorb. Ein Alter, den ich vom vorigen Jahr her kannte, hat seinen eigenen Reityak und besorgt die Gebetmühle der Eskorte! Man sieht ihn niemals ohne dies sinnreiche Instrument. Alle sind liebenswürdig und höflich, helfen uns beim Feuerungsammeln, Zeltaufschlagen und Beladen und besuchen uns oft in unseren Zelten. Wir kennen sie alle mit Namen und sind die besten Freunde. –

In der Nacht sank die Temperatur nur wenig unter Null, und dennoch herrschte am 3. Juni beinahe den ganzen Tag Schneetreiben. An ausgedehnten Morasten vorüber reiten wir talaufwärts nach der flachen Schwelle Merke-sang, wo wir die Ebene überschauen, die wir vor genau zwei Monaten auf dem Weg nach dem Buptsang-tsangpo durchzogen haben. Das Lager 419 lag also wieder im Distrikt Bongba-kebjang. Im Südosten ist der Paß Tschiptu-la mit der Straße der Naktschupilger nach dem Kang-rinpotsche. In S 27° W erhebt sich ein Schneegipfel, an dessen Fuß eine Straße über den Dsalung-la nach Tradum führt. Als Wasserscheide ist dies ein Paß ersten Ranges, der einen wasserreichen Nebenfluß nach dem Buptsang-tsangpo entsendet. Die Eskorte schickte nach diesem Fluß einen Boten voraus, der Abdul Kerim aussuchen sollte.

4. Juni. Die ganze Nacht hatte es geschneit, und wir brachen im ärgsten Schneegestöber auf. Dämmerlicht, bleischwere Wolken, von den umliegenden Bergen kein Schimmer zu sehen, alles ist naß und riecht säuerlich, auf dem Erdboden entstehen durch den schnell auftauenden Schnee Wasserlachen; sieben Pilger vom Kang-rinpotsche tauchen erst aus dem Schneenebel auf, als sie unmittelbar vor uns sind. Wir patschten indessen ruhig durch die Nässe; als wir am Ufer des Buptsang-tsangpo lagerten, hatte sich das Wetter aber bedeutend aufgeklärt. –

Bevor wir weitergehen, will ich noch sagen, daß die große Provinz Bongba in zwölf »Tso« oder Distrikte zerfällt, die Parrjang, Laktsang, Buptö, Tsaruk, Jege, Tarok, Kebjang, Kemar, Parma, Tschangma, Kjangrang und Tschuschar heißen. Vor jedem solchen Distriktsnamen wird gewöhnlich der Name der Provinz genannt, z. B. Bongba-parrjang, Bongba-laktsang usw. Jetzt befanden wir uns in Bongba-kebjang. –

Am Flußufer standen einige Zelte. Die Nomaden teilten uns mit, daß Abdul Kerim vor etwa acht Tagen auf einem Richtweg über das Gebirge auf der rechten Talseite nach dem Tarok-tso hinunter gezogen sei! Einen Gova gab es hier nicht, aber zwei Bauern waren bereit, uns die fünf Yaks zu vermieten, die wir brauchten. Sie waren blöde und ängstlich, aber Pantschor, der Spitzbube, sagte gut für uns, und es wurde abgemacht, daß sie uns bis in die Nähe des Tarok-tso begleiten sollten. Am Morgen des 5. Juni sagte ich Nima Taschi und seinen Soldaten Lebewohl und verabschiedete auch Pantschor. Wir ritten zwischen den Hügeln der linken Talseite am Buptsang-tsangpo flußabwärts. Eine kurze Strecke weit verengt sich das Tal zu einem Hohlweg, erweitert sich aber bald wieder. Zur Linken haben wir den Hauptkamm des Transhimalaja, der sich hier jedoch nicht sehr imposant ausnimmt, weil wir unmittelbar an seinem Fuß entlang ziehen (Abb. 355). Von Zeit zu Zeit umhüllte uns wirbelnder Schnee, und in Mabie-tangsang-angmo, wo wir lagerten, beeilten wir uns sehr unter Dach zu kommen. Als Klein-Puppy heute zum erstenmal in seinem Leben den Donner rollen hörte, wurde er verdrießlich und bellte laut; er konnte jedoch nicht ausfindig machen, woher der Lärm kam, und hielt es daher für das sicherste, ins Zelt zu laufen und sich hinter meinem Kopfkissen zu verstecken.

355. Sturmwolken über dem Transhimalaya im Tal des Buptsang-tsangpo. Links steigt das Gelände zum Samja-la an.

Dorf unterhalb von Lumkar-gumpa am Tarok-tso.
Aquarelle des Verfassers.

6. Juni. Hagel und Schnee! Das ganze Land lag, soweit der Blick reichte, unter einer Decke frisch gefallenen Schnees. Muß der Juni auch noch zum Winter gerechnet werden, nachdem wir schon beinahe neun Wintermonate gehabt haben?! Der Sommer ist in diesem Jahr allem Anschein nach ganz überschlagen worden, und wir gehen einem neuen Winter entgegen. Den Nomaden aber ist die Nässe willkommen, weil sie das Wachstum des neuen Grases fördert. Wir ziehen bald oben auf den 25–30 Meter hohen Erosionsterrassen, die einen charakteristischen Zug dieses großen Tales bilden, bald unten an ihrem Fuß weiter. Wildgänse, Wildesel, Goaantilopen und Füchse treten häufig auf. Eine scharfe Biegung des Flußbetts zwingt uns, eine Strecke weit nach Nordnordosten zu gehen, und das Tal wird wieder eng und malerisch. In Tuta, das zu Bongba-tsaruk gehört, lagerten wir ganz dicht am Buptsang-tsangpo (Abb. 309), in dessen klarem Wasser Wildgänse mit ihren gelben Jungen umherschwammen.

309. Tal des Buptsang-tsangpo bei Tuta.
Skizze des Verfassers.

Zehn Grad Kälte in der Nacht auf den 7. Juni! Der Tag aber wurde herrlich, und Fliegen, Mücken und andere Insekten traten in größerer Menge auf als bisher. Wie an den beiden letzten Tagen durchwateten wir mehrere kleine, vom Transhimalaja kommende Nebenflüsse. Das Buptsangtal erweitert sich immer mehr und ist schließlich 20 Kilometer breit. An einer Stelle, von der aus der Tarok-tso sichtbar ist, lagern wir auf einer glatten Ebene, die sich 3 Meter über dem Seespiegel erhebt, und haben dort zwei Nomadenzelte als nächste Nachbarn. Unsere neuen Führer waren die nettesten und bescheidensten, die wir je gehabt hatten, und unsere Bewegungen wurden weder von Häuptlingen, noch von Soldaten kontrolliert; es war weit bis zu Karma Puntsos Zeltlager – ich hätte faktisch überall hinziehen können, wohin ich nur wollte! Aber gerade der Buptsang-tsangpo und der Tarok-tso waren die interessantesten geographischen Züge der Provinz Bongba, und jetzt sah ich den See ganz nahe vor mir.

Mein Plan war, mich am 8. Juni nach Lunkar-gumpa zu begeben, das wir auf seinem Hügel mit der Aussicht über den See thronen sahen. Daraus wurde jedoch nichts, denn schon um sechs Uhr erschien der Gova Pensa zu Pferd in Begleitung zweier Diener. Er war in einen blauen, feinen Mantel gehüllt, schien etwa 55 Jahre alt zu sein und begrüßte mich höflich und freundlich. Nach einer Weile kam noch ein halbes Dutzend Reiter – offensichtlich saß ich wieder einmal fest! Gova Pensa bat mich, den Tag hier zu bleiben, weil Gova Parvang, der Häuptling des Distrikts Tarok-schung, nachmittags kommen werde. Den Besuch in Lunkar-gumpa erklärte er für unmöglich, weil beide Oberlamas und die meisten der übrigen zwanzig Mönche sich vorgestern nach dem Kang-rinpotsche begeben und die Tempelpforten verschlossen hätten. Nur vier Nonnen und zwei Lamas seien daheim geblieben. Von Abdul Kerims Abteilung wisse er nur, daß sie mit Gova Parvang zusammengetroffen sei; wo sie sich aber jetzt befinde, könne er nicht sagen!

Gova Parvang stellte sich jedoch nicht bei uns ein, schickte aber den ihm im Rang nächsten Herrn, den schon ältlichen Jamba, und siebzehn andere Leute, alle unbewaffnet, nach meinem Lager. Jamba hatte Befehl, uns, wenn ihm sein Kopf lieb sei, nicht nach dem Tabie-tsaka ziehen zu lassen. Er gab jedoch zu, daß er uns, wenn wir mit unsern sechs Pferden dorthin ritten, nicht daran hindern könne; aber Yaks und Proviant würden wir nicht erhalten und der Gova werde den Nomaden befehlen, uns wie die Pest zu fliehen. Wollten wir hingegen das Tal hinaufziehen, das sich im Südsüdwesten öffne und in sieben Tagen über den Lungnak-la nach Tuksum führe, so werde er uns Yaks vermieten, Proviant verkaufen und Führer geben. Und wolle ich lieber über den Lunkar-la nordwestwärts nach Selipuk, so werde er mir ebenfalls aufs beste zu Diensten stehen. Er rate mir, diesen letztem Weg einzuschlagen, denn er sei dabei gewesen, als Gova Parvang Abdul Kerim zwischen dem Tarok-tso und dem Tabie-tsaka gezwungen habe, sich direkt nach Selipuk zu begeben. Ich hatte also die Auswahl unter drei verschiedenen Wegen, und alle drei führten über den weißen Fleck auf der Karte Tibets, wo, außer dem Meridian und dem Breitengrad – und dem Worte » Unexplored«, nichts Schwarzgedrucktes zu finden ist! Ich schwankte keinen Augenblick; der mittelste Weg, der über den Lunkar-la, war natürlich der wertvollste, denn ich hatte das Gefühl, daß er mir den größten Beitrag zur Vervollständigung meiner Kenntnisse der verwickelten Orographie des Transhimalaja liefern werde.

Am Morgen des 9. Juni wurden unsere Geschäfte schnell abgemacht, Yaks und Führer besorgt und Gerste, Reis und Tsamba eingekauft; wir sagten den Häuptlingen Bongba-taruks Lebewohl und zogen direkt auf das Kloster los. Wir kamen an mehreren Zelldörfern vorüber, die Gegend war dicht bewohnt; am linken Bergfuß entsprang eine heiße Quelle. Unterhalb des Klosterhügels lagen einige zwanzig kleine weiße Steinhütten, jede mit einem roten Querstreifen unter dem Dach und mit kleinen viereckigen Höfen (Abb. 357). Vor dem Dorf standen zwei Tschorten, hinter denen sich ein paar Weiber mit ihren Kindern versteckten. Während die Karawane im Lunkartal weiterzog, ging ich mit Lobsang und Kutus den Porphyrhügel nach dem Tempel hinauf, den eine viereckige Mauer umgibt (Abb. 358, 359). Einige böse Hunde stürmten uns entgegen und schnappten nach Klein-Puppy, sonst war nichts Lebendes zu erblicken. Wir gingen in den Hof, fanden aber die Tempelpforte verriegelt und mit einem mächtigen eisernen Schloß versperrt. Als ich dann ein Panorama des großen schönen Sees und seines Bergkranzes zeichnete (s. bunte Tafel S. 348), kamen sechs Männer zu uns herauf und befahlen in zornigem Ton, uns sofort zu entfernen. Ich stand auf, ging auf den mir zunächst stehenden gerade los und sagte ihm, indem ich auf den nach dem Dorf hinunterführenden Weg zeigte, daß sie, wenn sie nicht sofort verdufteten, selber die Folgen zu tragen hätten! Ohne ein Wort zu erwidern, zogen sie ganz artig ab.

357. Das Klosterdorf Lunkar, in der Ferne der Tarok-tso.

358. Lunkar-gumpa.

359. Aussicht vom Klosterhügel in Lunkar-gumpa.
Auf dem rechten Flußufer eine kleine Vegetationsinsel.

Der See breitet sich zwischen N 26° W und N 57° O aus, erstreckt sich aber hinter einem ihn verdeckenden Gebirgskamm noch weiter nach Osten. In Nordnordost liegen in der Nähe des Nordufers zwei felsige Inseln. Im Nordosten mündet der Buptsang-tsangpo in einer Bucht, und ganz in der Ferne zeigt sich in derselben Richtung wieder unser alter Scha-kangscham. Das Wasser des Tarok-tso soll süß sein, doch hatte ich keine Gelegenheit, mich von der Richtigkeit dieser Angabe zu überzeugen; ist sie richtig, so bedeutet dies, daß der See einen unterirdischen Abfluß nach dem nördlich von ihm liegenden Tabie-tsaka hat, obgleich sich zwischen beiden Seen ein kleinerer Bergarm hinzieht.

Dann verließen wir das ungastliche Kloster und zwei kleine weißrote Häuser, in denen die Nonnen ihre Zellen hatten, und stießen bald wieder zu den Unsern im Lunkartal.

In der Nacht blieb die Temperatur zum erstenmal über Null. Unser nach Südwesten und Süden führender Weg war steil; wir gebrauchten drei Stunden, um nach dem bewimpelten Steinmal des Lunkar-la hinaufzukommen, dessen Höhe 5570 Meter beträgt. Von einem Gipfel im Nordosten des Passes sieht man unter sich den Tarok-tso wie auf einer Karte und in N 20°-26° O zeigt sich, glänzend weiß und gelb, die in ganz Tibet berühmte Salzdepression des Tabie-tsaka. Aus Goangschung erhielten wir neue Führer (Abb. 347) und vier Yaks, die uns nach dem Ufer des Gjänor- oder Goang-tsangpo brachten, eines kleinen Flusses, der, auf dem Berge Kapta im Südosten entspringt und in den Poru-tso geht; im Westen erhebt sich eine Kette mächtiger Schneegipfel. Am Morgen des 12. Juni war der Fluß nach 4,9 Grad Kälte mit zentimeterdickem Eis bedeckt, und ich vermißte sein melodisches Rauschen vom Abend vorher. Aber das Eis ging mit der Sonne auf und trieb in großen Schollen den Fluß hinunter. Unsere Straße führte immerfort nach Südwesten; erst am nächsten Tag, als wir in der Nähe des Seeufers lagerten, wurde die Richtung westlicher. Vom Lager 428 (5202 Meter) aus hatte ich eine prachtvolle Aussicht über den kleinen See Poru-tso (s. buntes Panorama), der auch Jeke-tso genannt wird, weil er im Distrikt Bongba-jeke liegt, dem westlichsten der großen Provinz Bongba, die Karma Puntso als Statthalter regiert. Westlich davon beginnt die Provinz Rigi-hloma oder Rigi-tschangma, die schon unter Ngari Karpun steht, wie sie hier den Garpun von Gartok nannten. Der Poru-tso ist im Austrocknen begriffen; die höchste Uferlinie liegt 108 Meter über dem jetzigen Spiegel des Sees. Das Wasser ist nicht trinkbar, enthält aber dennoch seltsamerweise Fische. Vom Ufer steigt ein außerordentlich unangenehmer Geruch auf. Der See zieht sich in der Richtung von Nordosten nach Südwesten hin. –

347. Die Führer zum Poru-tso.
Skizze des Verfassers.

Am 14. Juni ritten wir wieder westwärts und überschritten das breite Tal, das vom Naptschu-tsangpo durchflossen wird; er kommt von dem gerade im Süden liegenden Men-la herab und ergießt sich in den Poru-tso. Der Men-la, den wir in der Entfernung eines Tagemarsches vor uns sehen, ist ein Längstalpaß zwischen zwei Bergketten des Transhimalaja. Über seine Schwelle führt ein Weg nach Schamsung am oberen Tsangpo. Einen Tag opferten wir am Ufer des Surle-tsangpo, der sich auch in den Poru-tso ergießt und am Abend etwa 6 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führte.

Hier machte mir der Gova Pundar von Rigi-hloma seine Aufwartung, ein älterer Mann. Er schenkte mir ein Kadach, Butter, Mehl und Milch, verkaufte uns Proviant für mehrere Tage und erzeigte mir ein Wohlwollen, das keine Grenzen kannte. Das Volk dieses Teiles von Tibet war überhaupt sehr freundlich gesinnt. Im Loplande hatten die Eingeborenen mich einst Padischahim oder » Ew. Majestät« genannt, ein Titel, der meinem Ehrgeiz mehr als genügend erschien; aber in Bongba und Rigi wurde ich sogar Rinpotsche oder » Ew. Heiligkeit« genannt, was ich denn doch ein bißchen zu stark fand! Aber es war gut gemeint, und ich nahm die Artigkeit wie die natürlichste Sache von der Welt hin. Der Gova Pundar kannte sein Land aus- und inwendig, und ich quetschte ihn gründlich aus. Unter anderen interessanten Mitteilungen, die ich ihm verdanke, sagte er mir auch, daß dreizehn Tagemärsche nordwärts in der Nähe des Lakkor-tso ein Kloster Marmik-gumpa liege, das eine Filiale von Sera sei und 25 Mönche nebst 4 Nonnen beherberge. Im Jahre 1901 war ich am Lakkar-tso gewesen und hatte jenseits eines Bergrückens Muschelhornstöße gehört; aber damals hatte ich mich nicht solcher Freiheit wie jetzt erfreut und daher das Kloster nicht besuchen können. –

Mit neuen Leuten und neuen Yaks ritten wir am 16. immer noch bei Schneegestöber das malerische Surletal hinauf, und am 17. erstiegen wir auf steinigen, bemoosten Abhängen den 5832 Meter hohen Sur-la oder Sur-la-Kemi-la, gleich dem Lunkar-la ein Paß zweiter Ordnung, denn er bildet die Wasserscheide zwischen dem Poru-tso und dem Schovo-tso. Bevor man den eigentlichen Paß erreicht, hat man im Westnordwesten eine wunderbar schöne Aussicht über eine Welt von Firnbecken, Gipfeln mit ewigem Schnee und Gletschern, von denen einer mächtig, in der Front blaugrün und reich an Moränen und Schmelzbächen ist, die alle dem Surle-tsangpo zuströmen (Abb. 356 und buntes Bild auf dem Einband des ersten Bandes). Hier herrscht grauer Granit vor; wilde Yaks zeigen sich oft; das Land ist ohne Vegetation und hochalpin. Auf der andern Seite des Sur-la geht es zwischen Massen mittelgroßer Granitblöcke steil bergab.

356. Gipfel und Gletscher links auf dem Weg zum Sur-la.
Nach einem Aquarell des Verfassers.

Im Lager 431 sind wir also im Distrikt Rigi-tschangma. Als wir am 18. Juni das Paßtal hinunterzogen, hörten wir plötzlich ein wildes Geheul, ein Konzert von vier großen und sechs kleinen Wölfen, die auf einer unmittelbar zur Linken des Saumpfades liegenden Halde umherstreiften. Sie hatten graugelbe Pelze, sahen mager und hungrig aus und waren entschieden sehr schlechter Laune. Ohne sich zu besinnen, stürmte Takkar auf sie los, aber sie machten Front, und da hielt er es denn doch für klüger, umzukehren. Sie selber zeigten keine Spur von Furchtsamkeit, sondern blieben auch dann ruhig auf ihrem Platz, als wir mit Steinen nach ihnen warfen. Gerade in diesem Augenblick kamen zwei Reiter mit Flinten und roten Hüten vom Sur-la herunter. Es waren Herolde, die nach Selipuk vorausgeschickt worden waren, um die nötigen Vorbereitungen zum Empfang der Serpuns oder Goldinspektoren zu treffen. Diese Herren werden alljährlich von Lhasa nach Tok-dschalung geschickt; ihre Reise ist eine Last für die Nomaden, denn sie lassen sich Lasttiere und Lebensmittel liefern, ohne zu bezahlen. Die Straße, auf der sie reisen, liegt nördlich vom Teri-nam-tso und vom Tabie-tsaka und ist eine der großen Heerstraßen Tibets. Sie wird Ser-lam, der Goldweg, genannt.

Über eine kleine Schwelle gelangten wir in das 10 Kilometer breite Tal des Pedang-tsangpo, das am Transhimalajapaß Pedang-la beginnt und beinahe direkt nach Norden geht. Das Lager 432 wurde am Ufer des Flusses in einer Gegend aufgeschlagen, wo wir keine lebende Seele erblickten. Unsere Führer wollten nun mit ihren Yaks umkehren, ließen sich aber überreden, uns noch bis an das nächste Zeltdorf zu begleiten. Ich begriff nicht, was die Tibeter sich jetzt eigentlich dachten; sie ließen mich ohne die geringste Bewachung umherziehen, und ich genoß eine Freiheit wie nie zuvor! Gerade jetzt hätte ich hinziehen können, wohin ich nur wollte: ostwärts nach dem Tabie-tsaka, südlich über den Transhimalaja; aber die nordwärts liegenden Seen lockten mich am allermeisten. Das gewaltige Gebirge im Süden würde ich wohl noch einmal überschreiten können.


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