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Neununddreißigstes Kapitel.
Muhamed Isas Tod.

Noch saßen wir nicht lange, als Rabsang hereinkam und meldete, Muhamed Isa habe das Bewußtsein verloren und antworte nicht, wenn man mit ihm spreche! Ich ahnte sofort, daß er von einem Gehirnschlag getroffen worden war, und eilte mit Robert in sein Zelt, das unmittelbar neben dem meinigen stand. Am Kopfende, wo sein Bruder Tsering weinend saß, brannte eine Öllampe. Der Kranke lag auf dem Rücken ausgestreckt auf seinem Bett, groß, stark und gerade. Der Mund war auf der linken Seite ein wenig verzogen, und die linke Pupille erschien sehr klein, die rechte normal. Der Puls war gleichmäßig und kräftig, 72 Schläge. Sofort verordnete ich heiße Kruken unter die Füße und eine Eisblase auf den Kopf. Seine beengenden Kleider wurden aufgemacht; er atmete gleichmäßig und tief. Die Augen standen halb offen, waren jedoch ohne Glanz. Ich rief laut seinen Namen, aber er reagierte nur schwach darauf, versuchte, den Kopf zu drehen und den rechten Arm zu bewegen, und ließ ein leises Stöhnen hören, blieb dann aber wieder regungslos liegen. Robert erschrak, als ich ihm sagte, daß Muhamed Isa den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben werde!

Während wir an seinem Bette saßen, fragte ich Rehim Ali und Guffaru, die den ganzen Tag über bei ihm gewesen waren, nach dem Hergang. Während der vier Tage, die sie hier auf uns gewartet hatten, war er ganz gesund gewesen und hatte nie über Kopfschmerzen geklagt. Meiner letzten Instruktion gemäß, die ich ihm im Lager im Basangtal gegeben, hatte er versucht, Freundschaft und Vertrauen der Behörden zu gewinnen. Gestern abend war er noch ganz vorzüglicher Stimmung gewesen, hatte mit seinen vertrautesten Freunden aus der Karawane Tee getrunken und zu den Tönen der Gitarre gesungen.

Heute, am 1. Juni, war er mit der Sonne aufgestanden, hatte Tee getrunken und mehrere Stunden lang eine heftige Unterredung mit zwei Tibetern aus dem Dsong gehabt. Sie hatten sich geweigert, das Lager mit Proviant zu versehen, und darauf gedrungen, daß die Karawane sofort den Ort verlasse. Er hatte geantwortet, der Sahib komme bald zurück und es werde ihnen schlimm ergehen, wenn sie ihm nicht gehorchten. Sie waren zornig ihrer Wege gegangen, worauf Muhamed Isa gegen zehn Uhr gefrühstückt und dann eine Stunde geschlafen hatte. Als er aufgestanden war, hatte er über heftige Kopfschmerzen geklagt.

Als die Sonne die Mittagshöhe erreicht hatte, war er hinausgegangen, um nach uns Ausschau zu halten; dabei hatte er einen heftigen Brechanfall bekommen, war nach der linken Seite hingestürzt und bewußtlos liegen geblieben. Die anderen waren herbeigeeilt, hatten ihn ins Zelt getragen und ihm den Leib massiert. Dann war das Bewußtsein zurückgekehrt, er hatte viel gesprochen, aber undeutlich und hauptsächlich mit dem Gott des Islam:

»Ich war Lamaist, trat aber zum Islam über; hilf mir nun, o Allah, aus dieser schweren Krankheit; laß mich wieder gesund werden, vergib mir meine Sünden und alles Unrecht, das ich anderen zugefügt habe; laß mich leben, o Allah, so will ich immer deine Gebote halten und nie meine Gebetstunden versäumen!«

Dann hatte er die andern ermahnt, wie bisher ihre Pflicht zu tun, und ihnen gedankt, daß sie ihm in seinem Unglück so geduldig beiständen. Von Zeit zu Zeit hatte er um kaltes Wasser gebeten. Mit der rechten Hand hatte er seinen linken Arm befühlt und gefragt, wessen Arm das sei; dann äußerte er, daß er an seinem linken Fuß keinen Schuh fühle. Die ganze linke Seite war völlig gelähmt. Er hatte aufrechtsitzend, mit Kissen gestützt, Guffaru gebeten: »Du, der du alt bist und die Gebote der Religion hältst, wirst deine Hände nicht besudeln, wenn du ein Messer nimmst und mich in den Nacken schneidest; schneide tief nach dem Rücken hinunter, das wird meine höllischen Kopfschmerzen lindern.« In seinem verzweifelten Schmerz hatte er mit der rechten Hand auf eine Kiste geschlagen. Ungefähr eine Stunde später hatte ihn ein neuer Schlaganfall auch der Sprache beraubt. Nun hatte er nur noch mit der rechten Hand Zeichen gegeben, wie in Verzweiflung über das Herannahen des Todes. Gegen halb vier Uhr war Tsering gekommen und hatte sich laut weinend über ihn geworfen. Muhamed Isa hatte ebenfalls geweint und die Hand an die Lippen geführt, um zu zeigen, daß er nicht sprechen konnte. Als wir um fünf Uhr in das Zelt traten, war nur noch ein schwacher Reflex seines schwindenden Bewußtseins vorhanden. Anderthalb Stunden lang veränderte sich sein Zustand nicht, er atmete ruhig und mit geschlossenem Munde. Ich ging daher zum Mittagessen, das Adul mir bereitet hatte.

Robert und ich studierten nun Burroughs Wellcomes medizinisches Handbuch, um uns zu überzeugen, daß nichts versäumt worden war. Um acht Uhr kehrten wir an das Krankenbett zurück. Er atmete jetzt mit offenem Munde, ein schlimmes Zeichen, das auf Erschlaffung der Kiefermuskeln schließen ließ; der Puls machte 108 Schläge und war sehr schwach. Die Verzweiflung des alten Tsering, als ich ihm sagte, daß keine Hoffnung mehr sei, war herzzerreißend. Eine halbe Stunde später wurde der Atem schwächer und langsamer, und um neun Uhr begann das Todesröcheln und das Arbeiten der Muskeln des Brustkorbes, um die Lungen mit genügender Luft zu versorgen. Ungefähr jeder vierzigste Atemzug war tief, worauf dann eine Pause folgte, ehe der nächste kam. Ihnen folgte ein Stöhnen. Seine Füße erkalteten trotz der heißen Kruken, die oft erneuert wurden. Ein Viertel nach neun Uhr wurde das Atmen immer langsamer und die Pausen immer länger. Eine Todeszuckung erschütterte seinen Körper und ließ ihn schwach die Schultern heben; ihr folgte noch eine.

Die Mohammedaner flüsterten Tsering zu, den Platz am Kopfende zu verlassen, denn ein Mohammedaner müsse ihm den Unterkiefer halten und ihm nach dem letzten Atemzug den Mund schließen. Aber der trauernde Bruder konnte nur mit Gewalt dazu gebracht werden, seinen Platz zu verlassen. Den Sterbenden überfiel eine dritte und letzte Zuckung, hervorgerufen durch das Gefühl der Todeskälte. Nach einem tiefen Atemzug blieb er 20 Sekunden still. Wir glaubten, daß das Leben entflohen sei, aber er atmete noch einmal, und nach noch einer Minute erfolgte der letzte, schwache Atemzug, nachdem ihm Guffaru ein Tuch unter das Kinn gebunden und ihm ein weißes Zeugstück über das Gesicht gedeckt hatte. Dann blieb alles still, und tiefbetrübt entblößte ich mein Haupt vor der unheimlichen Majestät des Todes. –

Erschreckt und bestürzt füllten die Mohammedaner und hinter ihnen die Lamaisten das Todeszelt, und von Zeit zu Zeit hörte ich sie halblaut ausrufen: » La illaha il Allah!« Tsering war außer sich; er kniete neben dem Toten, schlug sich mit den Händen vor die Stirn, weinte laut, ja heulte und brüllte, während ihm große Tränen über die gefurchten, sonnverbrannten Wangen rollten. Ich klopfte ihm auf die Schulter und bat, er möge doch versuchen, sich zu beruhigen, in sein Zelt gehen, Tee trinken und sich dann hinlegen und ausruhen. Als er aber weder hörte noch sah, mußten die anderen ihn nach dem Zelt tragen, und solange ich in dieser Nacht noch wach lag, hörte ich ihn dort jammern. Ja, der Tod ist ein unheimlicher Gast! Wir alle konnten es kaum fassen, daß er so plötzlich in unser friedliches Lager eingekehrt war.

Noch lange sprach ich darüber mit Robert in meinem Zelt; hierhin war auch der alte Guffaru gerufen worden, um meine Befehle wegen der Beerdigung zu erhalten. Während der Nacht sollten die Mohammedaner abwechselnd Leichenwache halten. Am nächsten Morgen sollte in aller Frühe die Erlaubnis der Behörden wegen einer Grabstelle eingeholt werden, und dann die Beerdigung stattfinden.

Um Mitternacht machte ich einen letzten Besuch bei meinem prächtigen, treuen Karawanenführer, der mitten in den besten Jahren auf seinem Posten zusammengebrochen war. Lang und gerade lag er, in Leichentuch und Filzdecken gehüllt, mitten im Zelt. Neben seinem Kopf brannte seine Öllampe, die leise in der Zugluft flackerte. Die Leichenwache, fünf Mann, saß stumm und regungslos, erhob sich aber, als ich eintrat. Wir entblößten sein Gesicht; es war ruhig und würdig, um die Lippen spielte ein schwaches Lächeln; die Farbe war bleich, aber mit einem Ton von Sonnenbrand und Windröte überzogen, so daß sie einer gleichmäßigen Bronzefarbe glich. Über ihm wölbte sich die halbdunkle Glocke des Zeltes, dieses Zeltes, das durch das ganze Tschang-tang unter allen Winden des Himmels geflattert war und aus dessen Innern Muhamed Isas fröhliches Scherzen so oft zu den Tönen der Flöten und der Gitarre in stillen, kalten tibetischen Nächten ertönt war. Jetzt lag niederschmetterndes Schweigen über der Gegend; nur die Sterne funkelten mit elektrischem Glanz.

Wie leer und öde erschien mir alles, als ich am Sonntag, den 2. Juni, an Muhamed Isas Beerdigungstag, erwachte! Ich ging hinaus und sah mir das Grab an; es lag im Südwesten, 300 Meter vom Lager entfernt. Früh hatten die Mohammedaner sich im Dorf eine Tür geliehen und auf ihr den Toten gewaschen. Dann hatten sie ihn in Guffarus Leichentuch gehüllt, das von dünner Leinwand, aber glänzend weiß und sauber war. Muhamed Isa und ich hatten oft zusammen gelacht über die originelle Idee des Alten, sich diese Sterbegewandung mit auf die Reise zu nehmen! Über das Leichentuch (»Kafan«) hatten sie eine graue Filzdecke gewickelt. Der Tote lag jetzt im strahlenden Sonnenschein vor dem Zelt auf einer Bahre, die aus den Böden der beiden Bootshälften bestand; sie waren aneinandergeschnürt und mit vier Querstangen für die Träger versehen worden (Abb. 230).

230. Der tote Muhamed Isa.

Als alles fertig war, hoben die acht Mohammedaner die Bahre auf die Schultern und trugen ihren Häuptling und Führer von Leh, königlich lang und gerade und kalt, nach seiner letzten Ruhestätte. Ich ging unmittelbar hinter der Bahre, dann Robert und einige Lamaisten; die übrigen waren beim Grab beschäftigt, nur zwei waren im Lager, das nicht unbewacht bleiben durfte, zurückgeblieben. Aus Tserings Zett ertönte noch immer verzweifeltes Weinen. Man hatte ihn überredet, nicht mit nach dem Grabe zu kommen. Er war mit Leib und Seele Lamaist, und nun quälte ihn der. Gedanke, daß er seinen Bruder, der auf das Paradies der Mohammedaner gehofft, nie wiedersehen werde! In der Ferne standen einige Tibeter. Langsam, feierlich und düster setzte sich der Zug in Bewegung (Abb. 231). Kein Glockengeläute, keine hingestreuten Tannenzweige! Keine Gesänge sprachen von einem Wiedererwachen jenseits des Tales der Todesschatten. Aber über uns spannte der Himmel sein türkisblaues Gewölbe aus, und auf den Seiten hielten die hohen, öden Gebirge Wacht. Mit tiefer, klagender Stimme sangen die Träger » La illaha il Allah« im Takt ihrer schweren Schritte. Sie schwankten unter der Last und mußten sie oft auf die andere Schulter nehmen, denn Muhamed Isa war groß und schwer.

231. Muhamed Isas Leichenprozession.

Endlich schritten wir nach der Kiesterrasse zwischen zwei Quellbächen hinauf. Die Bahre wurde am Rand des Grabes niedergesetzt, das noch nicht ganz fertig war (Abb. 232). Es war tief, lag in nordsüdlicher Richtung und hatte auf der linken Seite einen Einschnitt, eine Nische, unter deren Wölbung die Leiche gelegt werden sollte, damit die Erde sie nicht drücke, wenn das Grab ausgefüllt worden sei. Vier Männer standen im Grabe und nahmen den Toten in Empfang (Abb. 233), der jetzt nur in dem weißen Leichentuch unter die Wölbung geschoben und dort so niedergelegt wurde, daß er das Antlitz nach Mekka wandte, dem Ziel der Sehnsucht aller rechtgläubigen Pilger.


232, 233. Muhamed Isas Bestattung.

Kaum war er zurechtgelegt, so geschah etwas Peinliches, ein böses Omen: das überhängende Gewölbe von losem, trockenem Kies stürzte ein und begrub die Leiche vollständig und die vier Männer, die mit ihr beschäftigt waren, zur Hälfte. Es wurde ganz still, die Männer blickten einander unschlüssig an. Schukkur Ali brach das drückende Schweigen, sprang ins Grab hinein, aus dessen Tiefe die anderen herauskletterten, grub die Leiche wieder aus und strich den Kies, so gut es sich machen ließ, vom Leichentuch herunter. Von Erdschollen, die am Bachufer ausgestochen wurden, errichteten sie nun eine Mauer zum Schutze des Toten, füllten dann die äußere Grabkammer mit Sand und Steinen und warfen schließlich einen meterhohen Hügel über dem Grabe auf, an dessen Kopf- und Fußende flache Steinplatten angebracht wurden.

Als alles getan war, gingen die Lamaisten nach Hause, die Mohammedaner aber blieben am Grab und beteten für den Toten, wobei sie bald auf den Knien lagen, bald sich mit den Handflächen vor dem Gesicht erhoben. Schukkur Ali, der Muhamed Isas alter Freund und Kamerad auf vielen seiner Reisen in Asien gewesen war, brach in heftiges Weinen und Klagen aus, die andern trauerten stiller. Zuletzt sprach ich in Turkisprache einige Worte. Während aller meiner Reisen hätte ich nie einen tüchtigeren, erfahreneren und treueren Karawanenführer gehabt; er habe in unserer Karawane Disziplin gehalten, sei den Männern ein Vater gewesen und habe aufs beste für die Tiere gesorgt; er sei ein vorzüglicher Dolmetscher gewesen und habe die Eingeborenen klug und taktvoll behandelt; nie hätte ich über ihn klagen oder auf ihn schelten hören. Durch sein fröhliches, humoristisches Wesen habe er alle andern erheitert. In schwierigen Lagen habe er stets den richtigen Ausweg gefunden. In dem unbekannten Land habe er Pässe und Gipfel erklommen, um den besten Weg zu finden – stets sei er selber gegangen und habe nie einen anderen geschickt. Unter uns werde sein Andenken geachtet und geehrt fortleben, und auch in der Erforschung Asiens habe er sich einen großen Namen gemacht, denn dreißig Jahre lang habe er vielen anderen Sahibs ebenso treu und redlich gedient als mir.

Schweigend gingen wir nach Hause an unsere Tagesarbeit.

Unter den Kirchentexten dieses Sonntags kam auch der Bibelvers vor: »Du Tor, in dieser Nacht wird deine Seele von dir gefordert werden!« –

Weitgereist und in Asien ruhmvoll bekannt, war Muhamed Isa früher schon einmal in Saka-dsong gewesen, im Jahre 1904 als Rawlings und Ryders Karawanenführer. Damals ahnte er wohl nicht, daß er noch einmal und auf immer dorthin zurückkehren und hier zum letztenmal nach langen Wanderungen sein Lager aufschlagen werde! In der Zeitschrift » The Geographical Journal« vom April 1909, Seite 442, widmet ihm Rawling folgenden Nachruf: »Ich kann nicht von Saka-dsong sprechen, ohne dem Andenken des dort verstorbenen treuen Dieners Sven Hedins meine Ehrfurcht zu bezeugen. Muhamed Isa war einer der besten Charaktere, mit denen zusammenzutreffen ich das Glück gehabt habe. Zuverlässig und unermüdlich in seiner Arbeit, wurde er in seiner Kenntnis Asiens von keinem Eingeborenen übertroffen. Denn er hatte Younghusband auf dessen berühmter Reise von China begleitet, er war mit Carey gezogen, mit Dalgleish, der später ermordet wurde, und auch mit Dutreuil de Rhins; er war ein hilfloser Zeuge des gewaltsamen Todes seines Herrn durch die Hände der Tibeter gewesen. Er war mein Karawan-baschi auf der Expedition nach Gartok, begleitete Sven Hedin auf dessen letzter Reise und starb nach dreißigjährigen treuen Diensten an diesem weltverlassenen Orte.«

Aus Briefen, die ich später von Younghusband, O'Connor und Ryder erhielt, ging hervor, daß auch sie sein Hinscheiden tief beklagten.

Die Grabterrasse erhob sich unmittelbar an der Nordseite der großen Heerstraße zwischen Ladak und Lhasa. Der Hügel wurde am nächsten Tag treppenartig mit ausgestochenen Erdschollen bedeckt, auf der Westseite des Grabes neben dem Haupt des Toten aber eine kleine Steinplatte eingegraben, auf der vorbeiziehende Mohammedaner einen Gebetteppich ausbreiten und für die Ruhe des Verstorbenen beten können (Abb. 234). Auf einer Scheibe von Tonschiefer, deren Fläche mit einem Stemmeisen geglättet worden war, ritzte ich mit lateinischen Buchstaben in englischer Sprache folgende Inschrift ein:

MUHAMED ISA

KARAWANENFÜHRER UNTER

CAREY, DALGLEISH, DE RHINS, YOUNGHUSBAND,
RAWLING, RYDER UND ANDEREN

STARB

IN SVEN HEDINS DIENST
BEI SAKA-DSONG, AM 1. JUNI 1907,
IM ALTER VON 53 JAHREN.

234. Muhamed Isas Grabmal.

Die Schrift wurde von Islam Ahun in den Stein eingehauen. Der Name wurde auch arabisch eingraviert und zu alleroberst in tibetischer Schrift die Formel » Om mani padme hum« eingemeißelt, damit die Kinder des Landes dem Grabe Achtung erweisen sollten. Künftige Reisende werden den Stein an seinem Platze finden – wenn die Tibeter ihn nicht weggenommen haben!

Am Nachmittag des 3. Juni ließ ich Tsering in mein Zelt rufen. Er hatte sich jetzt beruhigt und fand sich in sein Schicksal. Er sollte wie bisher mein Koch und mein Leibdiener bleiben, sein Lohn wurde aber auf zwanzig Rupien monatlich erhöht; auch sollte diese Erhöhung rückwirkend von Leh an gelten. Er durfte die Uhr behalten, die ich seinem Bruder geschenkt hatte. Guffaru, der älteste der Leute, wurde Muhamed Isas Nachfolger als Karawan-baschi, erhielt dieselbe Lohnerhöhung wie Tsering und durfte Muhamed Isas Schimmel nebst Sattel benutzen. Er sollte künftig mit zwei anderen im Zelt des Toten wohnen.

Da ich voraussah, daß die Disziplin nicht bleiben würde, wie sie zu Muhamed Isas Zeiten gewesen, sprach ich mit den Männern ein ernstes Wort. Sie hätten Guffaru ebenso blind zu gehorchen wie seinem Vorgänger, sie sollten wie bisher zusammenhalten und mir fernerhin treu dienen. Wenn jemand Zank anfange und ungehorsam sei, werde er augenblicklich seinen ausstehenden Lohn erhalten und fortgejagt werden und könne dann gehen, wohin er wolle. Jetzt, da wir mit gemieteten Yaks reisten, könne ich sehr gut die Hälfte der Mannschaft entbehren; es liege daher in ihrem eigenen Interesse, sich so zu betragen, daß sie bleiben dürften. Rabsang und Namgjal antworteten darauf im Namen der anderen, daß sie wie bisher zusammenhalten, mir treu dienen und mir folgen würden, wohin es auch gehe.

Dann erhielt Robert den Auftrag, in Gegenwart Tserings, Guffarus, Schukkur Alis, Rehim Alis und des Hadschi die ganze Habe des Verstorbenen durchzusehen und sie, nachdem er ein Verzeichnis ausgenommen, in besondere Kisten zu packen, die versiegelt und nebst seinem ausstehenden Lohn später seiner Witwe in Leh eingehändigt werden sollten. Unter seinen Sachen fand man einige wertvolle Dinge, die er in Schigatse gekauft hatte, Teppiche, Teetassen mit Metalluntertassen und Metalldeckeln, Schmucksachen und Zeugstoffe. An Bargeld hatte er nur zehn Rupien hinterlassen, ein Beweis, daß er auf seinem Verwaltungsposten durchaus ehrlich geblieben war.

Nachdem alles, was zum Begräbnis gehörte, besorgt worden war, kamen die Mohammedaner mit der Bitte um einige Rupien, damit sie am Abend ein Erinnerungsfest zu Ehren des Toten feiern könnten. Sie wollten einen Pudding, Halva genannt, aus Mehl, Butter und Zucker bereiten, Tee trinken und ein Schaf schlachten. Auch die Heiden, wie die Mohammedaner ihre lamaistischen Kameraden nannten, sollten dabei sein. Sie sangen, aßen und tranken – und dachten wohl kaum an den Toten! –

Schon am 2. Juni hatten mich zwei Herren aus Saka-dsong besucht. Der Gouverneur selber war abwesend, er reiste in seiner Provinz umher, um die Zelte, die unter seiner Herrschaft standen, zu zählen und ein Verzeichnis der Namen aller bewohnten Täler aufzunehmen – alles auf chinesischen Befehl. Pemba Tsering, der ihm im Rang am nächsten stand, war sehr liebenswürdig und höflich, bedauerte aber, uns nicht länger Proviant besorgen zu können, da er darauf vorbereitet sein müsse, auch den Leuten, die unaufhörlich zwischen Gartok und Lhasa hin und her reisten, Lebensmittel zu liefern. Um seine Worte zu bekräftigen, rief er die fünf »Govas« oder Distriktvorsteher der Gegend herzu, die beteuerten, das arme Land könne nicht all das Tsamba und all die Gerste, deren wir bedürften, aufbringen! Ich bereitete sie darauf vor, daß wir in Erwartung der Antwort aus Lhasa noch einige Tage bleiben würden; da erhoben sie sich demonstrativ und erklärten, ich könne hier so lange liegen bleiben, wie es mir gefalle, sie würden uns aber nicht mit Lebensmitteln versehen!

Am selben Tag noch wurde dicht bei unserem Lager ein großes weiß und blaues Zelt aufgeschlagen, aber erst am 4. Juni machten mir seine Bewohner, die Govas von Tradum und Njuku, ihren Besuch. Sie hatten von meinem langen Aufenthalt gehört und wollten nun selber untersuchen, wie alles zusammenhinge. Der Gova von Njuku ergriff zuerst das Wort:

»In Ihrem Paß stehen Saka und Tradum, aber nicht Njuku. Kommen Sie trotzdem dorthin, so erlaube ich Ihnen, eine Nacht zu verweilen, jedoch nicht länger, denn in dem Passe steht, daß Sie geradeswegs nach Tradum reisen müssen.«

»Lieber Freund,« antwortete ich, »wenn ich erst in Ihrem Orte bin, dann werden wir so gute Freunde werden, daß Sie mich noch bitten, einen ganzen Monat zur Befestigung der Freundschaft dort zu bleiben! Wenn Sie mich dann später in Indien besuchen, wird mir Ihr Besuch um so angenehmer sein, je länger er dauert.«

Er nickte mir schelmisch lächelnd zu und hielt mich gewiß für einen Spaßvogel, fügte aber hinzu, daß er den Befehlen, die er vom Devaschung erhalten habe, gehorchen müsse.

»Wenn ich mit den Mandarinen in Lhasa im Briefwechsel stehe und auf Antwort von ihnen warte, so hat der Devaschung kein Recht, mich zu hindern.«

»Nun gut, dann wird es wohl das Beste sein, daß Sie hier liegen bleiben und nicht nach Njuku oder Tradum kommen; dort ist noch weniger Proviant zu bekommen.«

Später stellte sich Pemba Tsering wieder ein und brachte doch zwei Säcke Gerste und ein Schaf mit! Er war, seit er mit den anderen gesprochen hatte, bedeutend gefügiger geworden und versprach zu versuchen, uns zu verschaffen, was wir brauchten. Wir hatten noch zwei schlechte Pferde und einen Maulesel aus Schigatse; er sollte eines der Tiere als Belohnung erhalten. Nach einigem Überlegen entschied er sich für den Maulesel. Die beiden Pferde verkauften wir um einen Spottpreis an einen Fremden.

Nun aber sehnte ich mich aus diesem jammervollen Saka-dsong mit seinen traurigen Erinnerungen fort! Dort draußen in Gottes freier, herrlicher Natur verwehten die Sorgen mit den Winden des Himmels. Täglich rechneten Robert und ich aus, wie lange es noch dauern könne, bis Tundup Sonam und Taschi zurückkehrten. Falls die Antwort mit sogenannter fliegender chinesischer Post geschickt wurde, mußte sie jeden Augenblick eintreffen. Aber die Tage vergingen, und keiner ließ von sich hören. Eines Tages ritten einige Reiter auf dem Wege nach Westen an unserem Lager vorbei; sie erzählten, daß sie meine beiden Boten in Kung Guschuks Garten in Schigatse gesehen hätten, wußten aber nichts von ihren weiteren Absichten. »Geduld!« flüsterte der Westwind wieder. In dem Netz von Schwierigkeiten, in dem wir uns immer mehr verwickelten, ruhte meine Hoffnung auf der Antwort der Chinesen. Den Behörden hier hatte ich gesagt, daß ich augenblicklich aufbrechen würde, wenn man uns erlaube, auf einem nördlicheren Weg nach Njuku zu ziehen; da sie aber davon noch immer nichts hören wollten, so blieben wir liegen.

Wenn ich aus meinem Zelte sah, zog das dunkle Grab auf seinem Hügel meine Blicke an. Es war, als ob das Grab uns festhalte, und doch gerade von ihm sehnten wir uns fort. Alles war öde und düster, wir vermißten Muhamed Isa und empfanden eine große Leere nach seinem Hinscheiden. Aber das Leben ging seinen ebenen Gang. Wenn die Sonne aufgeht, streifen die Dorfweiber umher, um Dung in Körben zu sammeln, während die Männer Pferde und Yaks auf die Weide treiben (Abb. 219, 220, 224, 225). Man hört sie singen und pfeifen, die Kinder schreien und die Hunde bellen. Der blaue Rauch steigt aus den Schornsteinen des Dorfes auf oder von den schwarzen Zelten, die zwischen den Häusern liegen, von Mauern umgeben. Vom Dach des Saka-gumpa mit einer Statue des Padmasambhava bläst der einzige Lama des Klosters sein Muschelhorn. Raben und blaugraue Tauben picken allerlei zwischen den Zelten auf, und die in der Nacht näher herangekommenen Wölfe kehren wieder ins Gebirge zurück. Reiter und Karawanen ziehen ostwärts nach einem besseren Land, wo Pappeln, Weiden und Obstbäume sich in ihr schönstes Sommergewand gekleidet haben. Wir aber sind Gefangene in diesem öden Lande, dessen Mittelpunkt Muhamed Isas Grab ist!


219, 220. Mädchen und Knabe von Saka und Tradum. Skizzen des Verfassers.

224. Mann aus Saka. Skizze des Verfassers.

225. Lama in Saka-dsong. Skizze des Verfassers.

Schon bald verspürte ich den deprimierenden Einfluß, den der Verlust des großen, kräftigen Karawanenführers auf meine Leute hatte; sie bekamen Heimweh. Sie sprachen von der Wärme ihres eigenen Herdes und begannen epidemisch Schuhe für ihre Kinder und Bekannten zu häkeln und zu knüpfen. Eilig versammelten sie sich um das Abendfeuer und redeten dort nur noch von dem gemütlichen Leben in den Dörfern Ladaks. Robert sprach davon, wie wüst und unheimlich Tibet, wie warm und herrlich dagegen Indien sei; er sehnte sich nach seiner Mutter und nach seiner jungen Frau. Ich möchte wissen, ob jemand sich eifriger fortsehnte als ich selbst, der ich noch so vieles vorhatte, was getan werden mußte! Ja, ich sah nur zu deutlich, daß ich mit dieser jetzigen Karawane alles, was ich erstrebte, nicht würde erreichen können; sie war erschöpft und verbraucht, worüber man sich nach allem, was sie durchgemacht hatte, wahrhaftig nicht wundern konnte. Mein Schicksal jagte mich förmlich nach Ladak zurück. Unterwegs aber mußte ich versuchen, noch möglichst große Eroberungen zu machen. Und dann? Darüber wußte ich nichts. Aber das wußte ich, daß ich nie kapitulieren und Tibet nicht eher verlassen würde, als bis ich alles, was in meiner Macht stand, getan, um das unbekannte Land im Norden des oberen Brahmaputra zu erobern!

Am Morgen des 5. kam mein alter Freund, der Gova von Ragatasam. Er hatte gehört, daß wir in schwieriger Lage seien und erbot sich, ein vernünftiges Wort mit Pemba Tsering zu sprechen. Später kamen beide in mein Zelt und teilten mir mit, daß ich auf dem nördlichen Wege nach Njuku ziehen dürfe! Der Gova erhielt für seine Bemühungen eines unserer besten Pferde. Nun hatten wir von unsern eigenen Tieren noch sechs, darunter drei Veteranen aus Leh, zwei Pferde und einen Maulesel. Am nächsten Abend kam Guffaru zum erstenmal, um sich Instruktionen zu holen. Und am 7. Juni brachen wir in aller Frühe auf.

Am Grabe machte ich einen Augenblick halt. Es sah in all seiner Einfachheit vornehm und würdig aus. In seiner dunkeln Kammer schlummert nun der Müde bis ans Ende der Zeiten. Er lauscht dem Heulen der Weststürme und der Wölfe, er friert in der Winterkälte, er sieht aber die Sommersonne nicht und sehnsuchtsvoll und gedächtnisstark hört er die Pferde auf dem harten Geröllboden stampfen. Ich dachte an den Lama Rinpotsche in seiner dunkeln Höhle bei Linga!

Leb' wohl und Dank für gute Wacht!


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