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Neunundfünfzigstes Kapitel.
Erfrieren? Verhungern?

Die ganze Nacht heulte der Sturm, und unsere dünne Zeltleinwand flatterte im Winde. Gulam weckte mich mit den Worten: »es ist scheußliches Wetter, man sieht gar nichts.« Auch die nächsten Berge verschwanden im Schneetreiben, und wenn ich das Tal in S 35° O, in dem wir weiterziehen mußten, nicht schon gestern gepeilt hätte, hätten wir nicht aufbrechen können. An diesem Tag, dem 30. Januar, mußten wir alle beisammen bleiben, da der wirbelnde Schnee die Spuren sofort ausfüllte. Wir hatten zwei Lotsen; ich ritt als letzter auf dem ausgetretenen Pfad, der sich anfangs wie eine schwarze gewundene Linie ausnahm. Weiter aufwärts aber, wo der Schnee zwei Fuß hoch lag, sah man Erdboden und Geröll nicht mehr. Ein braunes Pferd, das schon unbeladen war, legte sich im Schnee zum Sterben nieder. Man sah, wie geschäftig der Treibschnee ihm, noch ehe es kalt geworden war, sein Grab bereitete. Es verschwand hinter uns in der entsetzlichen Einsamkeit.

Langsam, langsam ziehen wir durch die Schneewehen weiter. Windstöße reißen den Lotsen Warnrufe von den Lippen; ihre Stimme dringt aber nicht zu uns; wir folgen nur dem ausgetretenen Pfad. Lobsang geht voran, oft sieht man ihn ganz in dem trocknen, losen Schneetreiben verschwinden und in anderer Richtung nach einem Weg suchen. In Mulden liegt meterhoher Schnee, nur schrittweise kommen wir in dem Tempo vorwärts, wie uns die beiden Lotsen mit ihren Spaten eine Rinne durch den Schnee schaufeln. Unaufhörlich fallen die Tiere, das Umladen verursacht Aufenthalt, da alle in derselben Rinne bleiben müssen. Und Menschen und Tiere sind zu Tode erschöpft und ringen in der hohen Luft mühsam nach Atem. Zum Ersticken dicht umhüllt uns Treibschnee und fegt uns wie mit Besen weiter. Man wendet ihm den Rücken zu und beugt sich nach vorn. Nur die nächsten Maulesel sind sichtbar, der fünfte ist schon undeutlich, und die an der Spitze befindlichen erscheinen nur wie ein etwas dunkleres Weiß; von den Lotsen sehe ich keinen Schimmer mehr. Dann bewegt sich der Zug wieder einige Schritte vorwärts, bis die nächste Verzögerung eintritt. Als der Maulesel unmittelbar vor mir sich wieder in Gang setzt, stürzt er in eine schneegefüllte Mulde, wo ihn zwei Männer in Empfang nehmen müssen, um seine Last zurechtzurücken. Es geht jetzt östlich vorwärts, und das Terrain steigt. Geht dies noch einige Tage so weiter, dann sind wir verloren! (Abb. 315.)

315. Geht dies noch einige Tage so weiter, dann sind wir verloren!

Endlich erreichen wir eine flache Paßschwelle (5568 Meter hoch). Auch in Seehöhe würde eine solche Reise schon schwer genug sein, wieviel schlimmer aber in einem Land, das mehrere Hundert Meter höher liegt als der Gipfel des Montblanc und wo es nichts weiter gibt, als Graustein! Auf der Ostseite des Passes lag streckenweise meterhoher Schnee; es schien, als sollten wir rettungslos in den Schneewehen steckenbleiben und dort warten müssen – aber auf was?! Denn der Proviant näherte sich seinem Ende, und wollten wir überhaupt Weide finden, so mußten wir vorwärts. Nun ging es wieder langsam bergab; der Schnee lag nicht mehr ganz so hoch, wir näherten uns einer Talerweiterung, wo der Wind einige Strecken reingefegt hatte. Zur Rechten zeigte sich eine Halde, auf der Abdul Kerim einige Grashalme aus dem Schnee hervorgucken zu sehen glaubte und nun das Lager aufschlagen zu dürfen bat. Mit Mühe gelang es uns die Zelle aufzurichten; erst in der Dämmerung kamen die beiden kranken Männer, ihre Gesichter waren geschwollen und blau!

Ein unheimliches Lager! Der Sturm schwoll zum Orkan an, und man hörte weiter nichts als sein Heulen. Aus meinem Zelt sehe ich ringsumher nur ein weißes Chaos, alles ist weiß, zwischen Erdboden, Bergen und Himmel ist kein Unterschied, alles weiß in weiß. Nicht einmal die Zelte sind in dem Schneetreiben zu erkennen, der feine Schnee stäubt herein und bedeckt alles mit seinem weißen Mehl. An Suchen von Feuerung ist nicht zu denken, schon um drei Uhr habe ich daher im Zelt 17 Grad Kälte. Draußen aber sehe ich kein lebendes Wesen, ich könnte ebensogut ganz allein in dieser Einöde sein.

Mein treuer Gulam aber kommt schließlich doch noch mit Kohlen; Lobsang und Sedik haben einige dürre Stauden gefunden. Gulam berichtet, Sonam Kuntschuk wolle sich zum Sterben in den Schnee legen; aber ich rate ihm, vorläufig lieber eine tüchtige Dosis Chinin zu nehmen. Am späten Abend schlug wieder die Melodie der Allahhymne an mein Ohr, ganz schwach und unheimlicher als gewöhnlich zwischen den Windstößen. Wir gehen einem dunkeln Geschick entgegen! Ich habe diesmal den Bogen zu straff gespannt, er kann jeden Augenblick zerspringen! Wir werden hier einschneien, die Tiere müssen Hungers sterben, und wir selber müssen – – es ist nur noch eine Frage der Zeit!

Eine kleine Strecke weit unterhalb des Lagers machte das Tal eine Biegung nach rechts. Dorthin waren die Tiere in der Nacht gegangen, aber wieder umgekehrt, weil sie kein Gras gefunden hatten. Ein grauer Maulesel war zum Sterben dort geblieben. Er lag in merkwürdiger Stellung, als ob er gerade in dem Moment gestorben sei, als er aufzustehen versuchte, auf den Knien, die Nase auf den Boden gestemmt; er war in dieser Lage steinhart gefroren. Die Kälte sank jedoch nur auf 26,9 Grad.

Der Sturm tobte am 31. Januar mit unverminderter Heftigkeit weiter; wir beluden die 19 Maulesel und Pferde und zogen in demselben undurchdringlichen Schneetreiben aufs Geratewohl talabwärts. Der Schnee fiel in Ungeheuern Massen, solche Schneefälle hatte ich nicht einmal im Pamir erlebt! Wir waren nicht imstande, täglich mehr als 4½ Kilometer zurückzulegen; dann schlugen wir die Zelte auf, die sich wieder dunkel gegen den reinen Schnee abhoben. Auf dem Abhang stampften vier große wilde Yaks durch den Schnee, als ob ein Schneepflug hindurchgehe. Die Hunde setzten ihnen zwar nach, gaben die Jagd aber bald wieder auf, als sie nicht durch die Schneewehen hindurch konnten. Die Tiere erhielten ihre Reisrationen und durften dann auf einem Hügel umhergehen, wo sie sich spärliches Gras aus dem Schnee herausscharrten.

Mit Abdul Kerim und Gulam musterte ich wieder das ganze Gepäck und kassierte alles Entbehrliche. Kleidungsstücke und zerrissene Stiefel wurden verbrannt und die Reserveanzüge angelegt. Meine Notizbücher und Instrumente steckten wir in zwei kleine Säcke; Schreibmaterialien und andere Dinge, die ich täglich gebrauchte, wurden in eine kleine Handtasche aus Stockholm gelegt; die leer gewordenen Kisten wurden als Brennholz benutzt, nachdem die Leute die Lederbezüge, aus denen sie neues Schuhzeug machen wollten, in Sicherheit gebracht hatten. Auch die Küchen- und Proviantkisten wurden verbrannt. Von nun an wurde sämtliches Gepäck in Säcken befördert. So wurden die Lasten leichter und bequemer, wenn es auch beschwerlicher war, erst den ganzen Sack auspacken zu müssen, wenn man etwas brauchte; denn das Gewünschte lag natürlich immer zu unterst.

Nachmittags trat eine kleine Pause im Schneefall ein. Über dem weißen Rand der Talkontur sah man im Südosten den großen See Schemen-tso unter einem schwarzvioletten Himmel, der noch mehr Schnee versprach. Ich peilte die nächste Tagesroute ein, und das war gut, denn bald fiel der Schnee wieder ungeheuer dicht. Es schneite den ganzen Abend und die ganze Nacht, man hörte nur das Sausen der Schneeflocken, die der Wind gegen die Zeltleinwand trieb und die hier dann und wann herabglitten. Am Morgen des 1. Februar lag mein Zelt in Schneewällen (Abb. 311); das Minimum betrug aber nur -18,2 Grad, und das war sehr angenehm. Wir beluden unsere müden, hungrigen Tiere und zogen langsam nach Südosten weiter. Der Wind kam aus Süden und wirbelte den Treibschnee uns gerade entgegen.

Lautlos und schwarz zog der Todeszug nach dem See hinunter. Alle Bärte waren kreideweiß bereift; es sah aus, als seien wir alle in einer Nacht Greise geworden. Abdul Kerim ging mit seinem Stab an der Spitze, aber er stiefelte in verkehrter Richtung ab, und ich ernannte einen anderen zum Lotsen. An einigen Stellen versanken wir beinahe im Schnee. Ratlos blieben die Männer in den Schneewehen stehen und wußten nicht, was sie tun sollten. Dann aber stampften wir ein Endchen weiter, blieben von neuem stehen, und gingen wieder eine Strecke. Es war klar, daß der Schnee jetzt die Pässe versperrte, die wir in den letzten Tagen noch bezwungen hatten. Wären wir ein paar Tage später gekommen, so hätten wir sie nicht mehr forcieren können. Nun war die Welt hinter uns verschlossen, nur in südlicher Richtung war noch Rettung zu finden. Es ist gut, wenn man weiß, daß man seine Schiffe hinter sich verbrannt hat.

Glücklicherweise senkte sich das Gelände; als wir uns eine Stunde nach der anderen weiter arbeiteten, nahm die Schneemenge ab, und es ließ sich leichter gehen. Aber der Sturm, der jetzt zwei Wochen hindurch ununterbrochen getobt hatte, wurde nicht schwächer. Drunten auf der westlichen Uferebene des Sees lag nur eine dünne Schneedecke, und wir lagerten in einer Gegend, wo das Gras nicht schlecht war. Jeden Abend gab ich den Männern einige Zigaretten, sie benutzten in ihren Wasserpfeifen schon Teeblätter und rauchten sonst Yakdung!

Die Nacht war ungewöhnlich »gelinde«, nur -14,9 Grad, aber der Himmel war auch so dicht bewölkt, wie nur möglich, und es schneite unausgesetzt. Der ganze Tag war so trüb, als sei vor dem verbotenen Lande ein undurchdringlicher Vorhang herabgelassen worden. Wir blieben im Lager 319, während der Südoststurm wahnsinniger tobte als je. Die Tiere grasten, den Kopf vom Winde abgekehrt, und mußten jedesmal, wenn sie das beschränkte Weideland überschritten hatten, gegen ihn zurückgetrieben werden. Auch am 3. Februar blieben wir noch hier. Die ganze Nacht herrschte orkanähnlicher Sturm; er tobte und wütete, zerrte an allem, wühlte den Schnee wie mit Riesenpflügen auf und bemühte sich, unsere Zelte loszureißen. Ich lag wachend und horchend im Bett und erwartete, » that something might happen« (daß irgend etwas passierte). Am Abend aber packte ich für den Fall, daß das Zelt umgerissen werden sollte, alles ein, was hätte fortfliegen können. Am Morgen waren alle Tiere verschwunden, der Sturm schien auch sie fortgeweht zu haben; jedenfalls waren sie mit dem Wind nach dem Nordufer des Sees gezogen.

Oberhalb des Lagers lag eine Süßwasserquelle und eine Ringmauer für Schafe. – Ich habe aufgehört, mich nach dem Frühling zu sehnen, der mir nun hoffnungslos fern zu liegen scheint, während das Wetter mit jedem Tag, der vergeht, schlechter wird. Aber die braune Puppy und Klein-Puppy leisten mir Gesellschaft, und wir spielen miteinander, um die Stunden der Gefangenschaft zu verbringen. Gulam massiert mir noch immer die Füße, aber mit wenig Erfolg; sie bleiben gefühllos und kalt wie Eis. Heute kam er, um mir zwei Paar »Paipaks« von dickem Filz und darüber ein Paar »Tscharuks« anzuziehen, Jarkentpelzstiefel, bei denen die Haarseite nach außen gekehrt war. Sie waren wirklich wärmer als meine Kaschmirstiefel, die ohne Erbarmen verbrannt wurden.


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