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Drei Tage hatten wir uns beim Kloster Linga aufgehalten, als wir am 17. April in dem engen My-tschu-Tal, dessen Wassermenge sich jetzt wieder bedeutend verringert hatte, nach Nordwesten weiterzogen. Der Raum verbietet es, diesen wunderbaren Weg und seine Wildheit ausführlicher zu beschreiben. In der Talerweiterung bei Linga ziehen sich Wege westlich und östlich in das Gebirge hinein; ihre Abzweigungen führen nach zahlreichen Dörfern hin, deren Namen und ungefähre Lage ich stets aufzeichnete. Der Verkehr nimmt jetzt sehr ab, obwohl an den Seiten des Wildnispfades noch immer zahlreiche Manis und andere religiöse Wegzeichen stehen.
Wir reiten auf den abschüssigen Abhängen des rechten Ufers entlang; in der Tiefe unter uns bildet der Fluß Stromschnellen; der Weg ist gefährlich, besonders mit einem Pferd, das nicht sicher auf den Beinen ist. Roberts kleines rotbraunes Füllen vom Ngangtse-tso stolperte und fiel, so daß der Reiter kopfüber auf die Erde stürzte. Wäre er bergab gerollt, so wäre er verloren gewesen, zum Glück aber fiel er gegen den Berg.
Am Eingang des kleinen Nebentales Langmar-pu lagerten wir im Dorfe Langmar, das aus einigen zerstreut liegenden Häusern bestand.
Wir haben noch immer gemietete Tiere, jetzt auch Yaks; die Karawaneneinteilung ist trotzdem wie früher. Sonam Tsering und Guffaru kommandieren ihre Unterabteilungen, Tserings Gesellschaft bricht als erste auf und geht als letzte zur Ruhe, Muhamed Isa leitet das Ganze. Er wird abends von zwei eigens dazu ausersehenen Männern, deren einer Rehim Ali ist, massiert. Noch gibt es Tschang, das unschuldige, aber doch anregende Bier; unter den Sängern an den Lagerfeuern verdient Tsering, wie gewöhnlich, den ersten Preis. Er macht mir unbeschreiblich viel Spaß, er »singt« wie eine alte Kuh oder höchstens wie eine geborstene Tempeltrommel; unaufhörlich schnappt die Stimme über, und er kommt aus dem Takt und aus der Melodie, ohne daß ihn dies im geringsten geniert. Aber er selbst hält sein Singen für schön, und die anderen haben ihre Freude daran; man hört schon von weitem, wie ihm dabei die Tränen in die Augen treten. Manchmal macht er eine Pause, um den Inhalt des Liedes zu erklären und einen Schluck zu trinken, und dann geht es wieder los. Wenn alle anderen schon schlafen und es im Lager so still geworden ist, daß man nur noch das Rauschen des Flusses und dann und wann einen bellenden Hund hört, hallt Tserings rauhe Stimme noch spröde und tremolierend zwischen den Bergen wider.
Am nächsten Tage nähern wir uns dem Hauptkamm des Transhimalaja wieder, denn zu meiner großen Überraschung und Freude werden wir nach dieser Richtung hingelenkt. Noch immer herrscht Granit vor, in dem die Erosion die wilden Formen der Täler ausgeschnitten hat; der Weg ist leidlich, nur sehr steinig; an beiden Flußufern liegen schmale Eisstreifen, zwischen denen das frühlingsgrüne Wasser das Tal mit dem Widerhall seiner kalten Rastlosigkeit erfüllt; eine Art Wacholdersträucher, »Pama« genannt, erfreuen durch ihr tiefes Grün den Blick, der sonst nur auf graue Schuttabhänge fällt.
Hier heißt der Fluß Langmar-tsangpo, es ist aber nur der Oberlauf des My-tschu. Er entsteht aus dem von Norden kommenden Ke-tsangpo und dem von Westen kommenden Govo-tsangpo. Jener heißt in seinem Oberlauf Ogorung-tsangpo, kommt von der Hauptwasserscheide des Transhimalaja und ist also als der Hauptfluß anzusehen. Man sagte mir, daß seine Quelle sich von der Vereinigung der Täler in anderthalb Tagereisen erreichen lasse. Auf dem linken Ufer des Govo gedeiht ein kleiner Wald von Pamasträuchern; den Fluß überspannt eine sichere Brücke mit drei Bogen. Über diese Brücke führt die wichtige Verkehrsstraße nach Tok-dschalung, die ich schon früher erwähnt habe. Yak- und Schafherden werden auf den Halden, ringförmige Schafhürden erinnern an das Leben in Tschaug-tang. Ein wenig weiter oben überschreiten wir den Govo, der halb zugefroren ist; Quellen und Bäche aus den Seitentälern bilden dekorative Eiskaskaden. Der Fluß soll hier im Sommer so mächtig sein, daß er sich nirgends passieren läßt. Im Norden und im Süden erblicken wir Schneeberge.
Im Dorfe Govo, das aus sieben Steinhäusern besteht, wird Gerste gebaut, die mittelmäßige Ernte gibt. Aber die Einwohner (Abb. 195) sind nicht auf deren Ertrag angewiesen, denn sie besitzen auch Schafe, Ziegen und Yaks, mit denen sie im Sommer nordwärts ziehen. Govo ist das letzte Dorf, das Ackerbau treibt; wir befanden uns hier also auf der Grenze zwischen Ackerbau und Viehzucht, auch auf der zwischen Steinhäusern und schwarzen Zelten.
195. Einwohner des Dorfes Govo.
Es ist also noch Zeit, in eine gewöhnliche tibetische Steinhütte hineinzusehen, die einer in gesicherten Verhältnissen lebenden Familie gehörte. Die Mauern bestanden aus unbehauenem, nicht geputztem Feldstein, Erdfüllung aber hinderte den Wind, durch die Lücken zu wehen. Über ein Labyrinth von Mauern und kleinen runden Blöcken, die so dicht lagen, daß der balancierende Fuß selten auf Erde trat, gelangte man in zwei Höfe, wo Ziegen und Kälber gehalten wurden. In einem dritten stand ein Webstuhl, an dem eine halbnackte, kupferbraune Frau arbeitete, in einem vierten saß ein alter Mann, der mit Abzweigen und Spalten von Pamasträuchern beschäftigt war.
Aus diesem Hof traten wir in ein halbdunkles Zimmer, das Lehmfußboden und zwei Öffnungen in der Decke hatte, aus denen der Rauch entwich und durch die das Tageslicht einfiel. Das Dach bestand aus Balken und quer darüber gelegten Reisigwellen, alles mit Erde und flachen Steinen bedeckt – hier mußte es schön trocken sein, wenn es regnete! In diesem Zimmer saß eine ältere Frau und zählte ihre Om manis an einem Rosenkranz aus Porzellankügelchen ab.
Der nächste Raum war die Küche, der Versammlungsort und die Pièce de résistance des Hauses. An einer vorspringenden Mauer stand der steinerne Herd mit runden, schwarzumrandeten Löchern für Kochtöpfe und Teekannen von gebranntem Ton. Ein großer irdener Topf, der über dem Feuer stand, enthielt Gerste, die gedörrt gegessen wurde; ein Holzstück mit steifen ledernen Lappen an dem einen Ende ward zwischen den beiden Handflächen in der Gerste gedreht, um sie gleichmäßig zu rösten. Sie schmeckte vorzüglich.
Ich ging umher, durchstöberte sämtliches Hausgerät und nahm ein Inventarverzeichnis auf, und zwar nicht nur schwedisch, sondern auch tibetisch. Es gab da vielerlei Gefäße von Eisen, Ton und Holz zu den verschiedensten Zwecken, eine große Holzkelle, ein Teesieb von Eisenblech, einen eisernen Löffel, eine Aschenschaufel, eine eiserne Feuerzange und ein sogenanntes Thagma, eine eiserne Klinge, die in ein Holzstück eingefügt ist, einem zugeklappten Taschenmesser ähnelt und benutzt wird, um neugewebtes Zeug reinzukratzen. Ein großer Tonkrug war mit Tschang gefüllt; ein kleiner Würfel, der durch schmale Kreuzhölzer in vier Räume geteilt war, diente zum Messen des Getreides. In einer tiefen Holztasse ward Ziegeltee mit einem gurkenförmigen Steine pulverisiert. Eine Messerklinge, an beiden Enden gestielt, wurde zum Bereiten und Gerben der Häute benutzt. Unter dem einen Rauchfang stand auf dem Fußboden ein zweiter kleiner Herd für offenes Feuer mit einem eisernen Dreifuß. Ein großer Ledersack war mit Tsamba gefüllt, zwei Schafmagen enthielten Fett und Butter; auf einem Regal aus Stäbchen hatte man eine Menge Schafsfüße, jetzt staubig und schmutzig, aufgereiht; sie werden, erst wenn sie mehrere Monate alt sind, zu einer Suppe gebraucht, die im übrigen aus Tsamba besteht. In großen und kleinen Beuteln bewahrte man Tee, Salz und Tabak.
Sonst sah ich noch allerlei religiöse Gegenstände, Opferschalen, Weihrauchspäne und kleine Götterfutterale; ferner Ballen im Hause gewebter Zeugstoffe, bunte Bänder, die auf Pelze und Stiefel genäht wurden, Messer, Beile, Säbel und Spieße, die, wie man sagte, benutzt wurden, um Räuber und Diebe zu durchstechen. Ein Blasebalg, zwei Säcke trocknen Dungs zur Feuerung, Körbe, Handmühlen, um Gerste zu mahlen, aus zwei runden, flachen Steinen mit einem Griff auf dem oberen bestehend. Endlich eine Öllampe und eine Ölkanne, ein zylinderförmiger Zuber mit eisernen Reifen, mit Wasser gefüllt. In einer Ecke lagen Haufen von Pelzen und Kleidungsstücken, an der Wand zwei nicht in Ordnung gebrachte Schlafstellen.
In einem inneren Vorratsraum wurde in Säcken Proviant, Gerste, Grünfutter, Erbsen und große Fleischstücke aufbewahrt. Hierhin hatten sich drei junge Frauen und eine Kinderschar ängstlich geflüchtet; wir bewilligten ihnen freien Abzug, und sie schlichen laut heulend fort, als ob ihnen alle Messer des Hauses an der Kehle säßen! In dem Zimmer war auch eine Wage, bestehend aus einem rundgeschnittenen Stab mit einem Steingewicht an dem einen und einer getrockneten Yakhaut an dem anderen Ende. In einem Verschlag dahinter wurde Stroh aufbewahrt. Zwischen den verschiedenen Zimmern waren hohe, unbequeme Holzschwellen, auf dem Dach die gewöhnlichen Sträuße von Gertenbündeln, die das Haus gegen böse Geister schützen.
Nach dieser Expedition besah ich das Zelt unserer Eskorte, wo in einem zerbrochenen Tontopf ein Feuer unter dem auf einem Dreifuß stehenden Tiegel brannte. Der Rauch entwich durch die längliche Spalte zwischen den beiden Hälften, aus denen das Zelt bestand. Die Besitzer des Zeltes schrieben gerade ihre Berichte an die Behörden in Schigatse und teilten ihnen mit, daß wir auf dem richtigen Wege seien. Dabei verzehrten sie ihr Mittagessen aus Schaffleisch, das ein halbes Jahr alt, dürr und hart war; es darf überhaupt nicht mit Feuer in Berührung kommen. Einer von ihnen schnitt es in Streifen, die er unter seine Kameraden verteilte. Er war zwanzig Jahre Lama im Kloster Lung-gandän in Tong gewesen, aber vor einigen Jahren aus der Brüderschaft ausgestoßen worden, weil er ein Weib geliebt hatte. Er sprach auch selbst darüber, also wird es wohl wahr sein. –
Am Morgen des 20. April wurde Roberts rotbraunes Pferdchen als tot gemeldet. Der neuliche Purzelbaum erschien uns jetzt wie ein Omen; feist und fett, starb es plötzlich um Mitternacht. Auf unangenehmen Blockkegeln ritten wir wieder höheren Regionen entgegen, aber das Tal wurde offener, und die relativen Höhen nahmen ab. Obgleich das bißchen, was noch vom Flusse da war, wirbelte und schäumte, nahm das Eis doch an Dicke zu und bedeckte schließlich beinahe das ganze Flußbett; unter der Eisdecke hörte man das Wasser rieseln und klingen. Üppige Moosränder faßten die Ufer ein, die Aussicht erweiterte sich, und der ganze Habitus der Landschaft wurde hochalpin. In einer Schafhürde saßen zehn Männer mit Flinten, die an der einen Gabelzinke gelbe und rote Fähnchen trugen; es konnten Straßenräuber sein. Dunkle Wolken zogen über die Kämme; im Nu hatten wir eisigkaltes Schneetreiben, das aber nicht lange anhielt.
Die letzte Strecke war greulich; lauter Blöcke und Schutt, dem man jedoch streckenweise aus dem Weg gehen konnte, indem man auf dem Eis des Flusses ritt. Der Lagerplatz hieß Tschomo-sumdo, eine Talgabelung in einer öden Gegend (Abb. 196); aber die Eskorte hatte dafür gesorgt, daß einige Yaks Stroh und Gerste für unsere Tiere heraufgebracht hatten.
196. Der vereiste Fluß oberhalb Tschomo-sumdo. Robert spricht mit Taschi, der den photographischen Apparat trägt.
Von da an mußte man auf dem Eis reiten, das nach 15 Grad Kälte in der Nacht schön glatt und fest war. Die Gegend ist jedoch nicht unbewohnt; an mehreren Stellen zeigten sich Yaks und grasende Schafe, nach Norden wandernden Nomaden oder aus Tok-dschalung kommenden Kaufleuten gehörend. Bei zwei schwarzen Zelten war man gerade im Begriff, alles zum Tagesmarsch einzupacken; die Leute hatten Ziegen, die mit roten Zeugstreifen an den Ohren festgebunden waren.
Ein wenig höher hinauf erhebt sich auf der rechten Talseite ein senkrechter Felsen, in dessen Wand zwei Grotten wie aufgerissene schwarze Mäuler gähnen. Die untere (Abb. 197) ist der Eingang eines Ganges, der nach der oberen hinaufführt, in der ein berühmter Eremit seinen einsamen Wohnsitz aufgeschlagen hat. Die obere Öffnung ist mit einem halb natürlichen Altan versehen, der mit Wimpeln, Stangen und Bändern behängt ist. Unterhalb der unteren findet man Manisteinhaufen, lange, girlandenartige Schnüre mit bunten Gebetsfetzen, einen Gebetsmast und einen Metallgott in einer Nische der Bergwand.
197. Eremitengrotte in der Nähe des Tschang-la-Pod-la.
Wir banden unsere Pferde beim Eisrand fest und gingen zur unteren Grotte hinauf. Hier begegneten uns zwei junge Nonnen aus Kirong (an der Grenze von Nepal) und zwei Bettelmönche aus Nepal, von denen der eine Hindi sprach, so daß Robert sich mit ihm unterhalten konnte. Die Nonnen waren hübsch, gut gewachsen, von der Sonne gebräunt und Zigeunerinnen ähnlich; ihre Augen waren groß und schwarz und schillerten wie Samt, das schwarze Haar war auf der Stirn gescheitelt und fiel in üppigen Wellen über die Schultern; sie waren in rote Lumpen gekleidet und trugen tibetische, mit roten Bändern verzierte Stiefel. Heiter und freundlich sprachen sie mit auffallend weicher, außerordentlich sympathischer Stimme und waren nicht im geringsten furchtsam. Unter einem berußten Gewölbe in der großen Vorhalle der Grotte, umgeben von einer kleinen Mauer und einer Palisade von Pamazweigen und teilweise mit Zeug verhängt, war ihre einfache Wohnung, die wir uns ansahen. Aus Tuchstreifen geflochtene Matten bildeten das Nachtlager, über dem Feuer kochte der Teekessel. Der eine Mann hatte einen dicken Zopf und ein rotes Lamagewand, der andere trug einen Schafpelz und hatte sich während dieses 20. Jahrhunderts das Haar noch nicht einmal schneiden lassen. Die eigentliche Wohnung befand sich in einem höheren Absatz der Grotte.
Alle vier waren im Herbst gekommen und warteten nun auf die wärmere Jahreszeit, um nach Lhasa und von dort wieder nach Hause zu ziehen. Während dieser Zeit dienen sie freiwillig den beiden heiligen Eremiten, die sich in diesem Berge aufhalten, verdienen sich dadurch ihren Unterhalt und erwerben sich Verdienste im Sinne ihres Ordens. Wenn sie sich wieder auf die Wanderschaft begeben, finden sich stets andere dienende Brüder und Schwestern, die bereit sind, an ihre Stelle zu treten.
Eine teils natürliche, teils aus Steinfliesen hergestellte nach links gewundene Wendeltreppe führt in die höheren Regionen der Grotte hinauf. Anfangs ist sie dunkel, aber es wird heller, wenn wir uns einer Scharte in der Felswand nähern. Hier und da sind Wimpelstangen errichtet und die heiligen Silben eingemeißelt. Von der Scharte an wendet sich die Treppe steil nach rechts; gleitet man hier auf dem glatten Gestein aus, so purzelt man gerade in die Küche der Nonnen hinunter, die von hier wie der Boden eines Brunnens aussieht. Der Gang endet an einer Stelle, von der aus eine kleine, steinerne Treppe nach einer mit Schiefer zugedeckten Fußbodenluke hinaufgeht. Indem man die Schieferplatte beiseite schiebt, gelangt man in den größeren Grottensaal, dessen Öffnung wir vom Tal aus sahen. Aber so hoch hinauf wollten uns die dienenden Brüder und Schwestern nicht bringen.
In dieser oberen Grotte, Tschomo-taka, haust seit sieben Jahren der hundertjährige Einsiedler Gunsang Ngurbu, der wegen seiner Heiligkeit in der ganzen Gegend in hohem Ansehen steht. Gunsang bedeutet Eremit, und Ngurbu ist ein sehr gewöhnlicher Name, Edelstein bedeutend. Jeden siebenten Tag setzen die Dienenden Tsamba, Wasser, Tee und Brennmaterial unter der Luke auf die Treppe; dies alles holt sich der Alte, der nicht mit Menschen, nur mit den Göttern sprechen darf, dann selber herein. Durch ein Loch unter der Luke konnte ich einen großen, aus Steinen und Lehm hergestellten Tschorten und einige auf die Wände der Grotte gemalte Götterbilder erblicken. Hinter dem Tschorten und leider unsichtbar saß der Greis in einer Wandnische niedergekauert und murmelte Gebete; dann und wann hörte man ihn in ein Muschelhorn stoßen.
Ich wollte die Schieferplatte beiseiteschieben und in die obere Grotte hineinsteigen, aber das wollte man um alles Gold der Welt nicht auf sein Gewissen nehmen. Es würde den Alten in seiner Meditation stören und seine Eremitenzeit unterbrechen; auch werde der Alte uns mit Steinwürfen empfangen. Im Vergleich zu dem eingemauerten Lingamönch muß der Eremit Ngurbu ein idyllisches Leben führen, denn er sieht das Tal, die Sonne, den wirbelnden Schnee und die am Himmel funkelnden Sterne; aber Langeweile muß auch er haben! In einer zweiten Grotte, die mit der Ngurbus Wand an Wand liegt, wohnt noch ein Eremit; die beiden aber sind sich nie begegnet und wissen nichts voneinander. Sie dürfen kein Fleisch essen, aber Tsamba und Tee, und beides erhalten sie von den benachbarten Nomaden und Reisenden, die diese Straße ziehen. –
Nach diesem Intermezzo überschreiten wir wieder das Eis des Flusses und ziehen in dem ewigen Schutt aufwärts. Vor uns zeichnet sich die flache Wölbung des Tschang-la-Pod-la ab. Ohne große Anstrengung überwinden wir die Steigung, obgleich uns der eisige Wind gerade ins Gesicht bläst. Beim Steinmal kann ich die Messungen erst beginnen, nachdem ich die Hände über Dungfeuer wieder erwärmt habe. Die Aussicht ist begrenzt, flach und wenig orientierend. Doch nach der Seite hin, von der wir gekommen sind, sieht man die tiefeingeschnittenen Täler, und es scheint, als seien wir höher als die Grate, die sie begrenzen. Die Höhe betrug 5573 Meter! Tschang bedeutet Norden, Nordland, Pod oder Pö Tibet, d. h. das eigentliche, hauptsächlich von ansässiger Bevölkerung bewohnte Land. Tschang-la-Pod-la ist also der Paß zwischen der nördlichen Hochebene der Nomaden und dem Lande im Süden, das Abfluß nach dem Meer hat. Gerade in dieser Eigenschaft einer Grenzbarriere zwischen beiden ist der Transhimalaja von so außerordentlich großer Bedeutung. Daher gibt es so viele Pässe, die Tschang-la-Pod-la heißen. Wie oft wurde mir nicht gesagt, daß ein Paß, wie er an sich auch heißen möge, immer ein Tschang-la-Pod-la sei, wenn er auf der Wasserscheide zwischen den abflußlosen Becken im Norden und dem Flußgebiet des Tsangpo im Süden liege. So hatte ich denn den Transhimalaja jetzt zum zweitenmal auf einem Paß überschritten, der 71 Kilometer westlich vom Sela-la liegt, und hatte feststellen können, daß die gewaltige Bergkette des Nien-tschen-tang-la sich bis hierhin erstreckt! Immer lebhafter wurde nun mein Wunsch, ihr Schritt für Schritt nach Westen folgen zu dürfen.
Nachdem wir am Passe gelagert hatten (Abb. 198), wo die Nachtkälte auf -23 Grad sank, ritten wir am 22. April langsam im Tal des Schak-tschu-Flusses abwärts, das allmählich breiter wird und von flachen, abgerundeten Bergen umgeben ist, in denen anstehendes Gestein selten vorkommt. Wieder sehen wir uns aus dem Berglabyrinth, das die von Regengüssen gesättigten Zuflüsse des My-tschu durchschneiden, auf die weiten Ebenen des Plateaus versetzt, und wieder merke ich, daß der Transhimalaja auch klimatisch eine außerordentlich wichtige Grenzscheide ist.
198. Das erste Lager nordwestlich vom Tschang-la-Pod-la.
Der Lapsen-tari ist ein Würfel von Erdschollen, in dessen Mitte ein Bündel Wimpelgerten steckt, von dem sich Wimpelschnüre nach anderen Gerten hinziehen. Von diesem Punkt hat man eine herrliche Aussicht über das Plateau und seinen Kranz von Bergen. In N 55° W sehen wir wieder den Targo-gangri, aber majestätischer, isolierter und dominierender als vom Ngangtse-tso aus, wo er in Wolken eingebettet und von anderen, den Blick irreführenden Bergen umgeben war.
Gerade an diesem Mal haben wir eine letzte verdeckende Ecke passiert. Auf einmal, blendend, silberweiß und großartig, tritt der ganze Bergstock hervor. Er strahlt wie ein Leuchtturm über das Meer der Hochebene und hebt sich grell und scharf gegen einen Himmel ab, der im reinsten Azur prangt, mit einem Mantel von Firnfeldern und blauschillerndem Eise bekleidet. Das Mal ist also an der Stelle errichtet, wo der Wanderer, der von der Schigatseseite kommt, zum erstenmal den heiligen Berg erblickt. Auch unsere Führer entblößten ihr Haupt und murmelten Gebete. Zwei Pilger, die wir schon bei der Grotte des Eremiten gesehen hatten, zündeten Feuer an und streuten ein wohlriechendes Pulver hinein, ein den Göttern des Targo-gangri dargebrachtes Rauchopfer. Im Süden und Südwesten zieht sich eine gleichmäßig hohe Kette braunvioletter Berge hin mit Schneestreifen, die in der Sonne glänzen; wieder ein Teil des Transhimalaja!
Während wir hier saßen, kam eine Handelskarawane auf dem Weg nach Penla-buk, das auf der Westseite des Dangra-jum-tso liegt und ein Rendezvous für Goldgräber und Wollhändler ist. Auf der Ebene Kjangdam, wo die Wildesel sehr häufig waren, bildeten unsere Zelte ein Dörflein, um das herum noch gegen 60 Nomaden der Gegend lagerten.
Abends erschien die Eskorte aus Ghe bei mir, um zu erklären, daß sie nun, da wir uns ja im Distrikt Largäp befänden, der unter der Herrschaft des Labrang steht, wieder nach Hause zurückkehren und uns einer neuen Bedeckung anvertrauen würde. Diese bestand aus fünf schon recht bejahrten Männern. Ihr Anführer war ein kleiner Greis, dessen Hände zitterten und der sehr undeutlich sprach. Als die Leute aus Ghe, die sich nach ihren wärmern Dörfern zurücksehnten, am folgenden Morgen trotz heftigen Sturmes abgezogen waren, redete ich mit den neuen ein vernünftiges Wort. Es war ihre Absicht, mich über den Paß Scha-la (Transhimalaja!) im Südwesten zu führen, wo der Targo-tsangpo, an dessen Ufer wir den Tag verlebten, seine Quellen hat. Nach Nain Sings Karte umfließt dieser Fluß den Targo-gangri auf seiner Ostseite und ergießt sich dann in den Dangra-tso, wie der heilige See hier genannt wird. Aber Nain Sing ist nie dort gewesen, und ich wollte gern einen Überblick über die Geographie des Landes erhalten. Daher kamen wir überein, daß wir nach Nordwesten weiterziehen wollten und setzten den Männern auseinander, daß in unserem Reisepaß als nächster Ort Ragalasam genannt sei; daß zwei Wege dorthin führten, einer über den Scha-la, der andere nördlich nach dem Targo-gangri ausbiegend, und daß ich mich für den letzteren entschieden hätte. Der Reisepaß verbiete uns die Orte Lhasa, Gyangtse und Sekija-gumpa zu besuchen, aber von dem Weg nach dem Dangra-jum-tso enthalte er kein Wort. Sie hätten sich also nach unsern Wünschen zu richten. Der Alte stutzte, bedachte sich und versammelte seine Getreuen zum Kriegsrat. Sein Zelt war bald voll von schwarzen, barhäuptigen Männern in grauen Schafpelzen. Dann wurde die Beratung in Muhamed Isas Zelt fortgesetzt. Nach einigem Bedenken gingen sie auf meine Vorschläge ein, wenn ich ihnen täglich für jeden Yak einen ganzen Tenga statt einen halben zahlen wollte. Ich freute mich der Hoffnung, dem heiligen Berg immer näher zu kommen, seine feinen Einzelheiten immer deutlicher hervortreten zu sehen, ihn umwölkt und im Sonnenschein zu schauen, ihn hinter Hügeln verschwinden und dann wieder auftauchen zu sehen, wie ein Kriegsschiff in schäumender See und mit hohen weißen Wellen um den Bug, oder richtiger wie ein Schiff unter vollen Segeln auf dem Meere des Plateaus. Allerdings setzte ich mich Unannehmlichkeiten aus, wenn ich den Paß ignorierte. Aber hier handelte es sich um geographische Entdeckungen, und da mußten alle Rücksichten schwinden!
Am 24. April hatten wir heftigen Gegenwind; es war kalt, und der Targo-gangri verschwand halb hinter den Wolken. Eskortiert von dem alten Herrn und vier Reitern, die einander so ähnlich sahen, als seien sie aus demselben Guß, und die alle Gabelflinten auf dem Rücken trugen, ritt ich am Ufer des Targo-tsangpo in dem sich verengenden Tale abwärts, das außerordentlich langsam, dem Auge unbemerkbar, nach dem See abfällt. Schließlich wird das Tal so eng, daß sein ganzer Boden von Eis ausgefüllt wird. Der Weg läßt daher den Fluß links liegen und führt über flache Hügel, zwischen denen wir eine ganze Reihe kleiner Nebenflüsse überschreiten. Schwarze Zelte, weidende zahme Yaks, Steinhürden für Schafe, Wildesel und Millionen Erdmäuse erinnern an das Leben in Tschang-tang. Der wilde Yak dagegen kommt in dieser Gegend überhaupt nicht vor. Die gefiederte Welt wird durch Raben, Wildenten und gelegentlich einen kleineren Vogel vertreten. Als wir am Bumnak-tschu, einem rechten Nebenfluß des Targo-tsangpo, anlangten, kamen uns zahlreiche Leute entgegen, mit den Zungen grüßend und in ihrem langen, schwarzen, ungepflegten Haar, den kleinen grauen Pelzen und den zerrissenen Stiefeln ebenso lustig wie gutmütig anzuschauen.
Am 25. April ritten wir über den kleinen Paß Ting-la; an seinem Fuß steht ein guterhaltenes Mani mit einem Yakschädel als Verzierung, in dessen Stirnknochen zwischen den Hörnern eine Gebetformel eingeschnitten ist. Von der Paßhöhe aus zeichnet sich der Targo-gangri in Vergrößerung ab, wie eine Reihe Gipfel, die ewiger Schnee bedeckt. Das ganze Land sieht aus wie ein Meer in starker Dünung; der Targo-gangri gleicht einer weißschäumenden Brandung an der Küste. Etwas später standen die Gipfel des Gebirgsstockes scharf weiß auf einem Hintergrund von blauschwarzen Wolkenwänden; die beiden höchsten, ein Zwillingsgipfel, hatten die Form eines tibetischen Zeltes auf zwei Stangen.
Unser Lager im Tal Kokbo zählte nicht weniger als elf Zelte, denn jetzt hatten wir etwa 40 Begleiter jeglichen Alters bekommen und wenigstens 100 Yaks. Die Lasten werden mitten auf dem Marsch anderen Yaks aufgeladen, um die Tiere zu schonen. Wenn die Karawane sich über die abgerundeten Hügel hinbewegt, gleicht sie einem Nomadenstamm auf der Wanderung. Die meisten unserer Tibeter reiten Yaks oder Pferde.
Wir hatten einen kurzen Tagemarsch gemacht, und es blieb mir reichlich Zeit, umherzugehen, in jedem Zelt einen Besuch zu machen und mir anzusehen, wie es den Leuten dort ging. Überall tranken sie Tee und aßen Tsamba, was ihnen der höchste Genuß ihres Lebens ist. In der Mitte brennt das Dungfeuer zwischen drei Steinen, und sicher ist es die Form des Zeltes, der man die starke Zugluft zuschreiben muß; Rauch sammelt sich innen nicht an. Ringsumher stehen Kessel, Teekannen und hölzerne Tassen. An den Wänden liegt eine unglaubliche Menge Proviant. Sättel und Geschirre sind vor dem Zelt in einer Reihe hingelegt. Wenn ich eintrete, erheben sich alle, aber ich bitte sie, sich wieder zu setzen und ruhig weiterzuspeisen, während ich auf einem Gerstensack am Eingang des Zeltes Platz nehme. Bei allen ist der rechte Arm nackt, bei vielen sogar beide; wenn sie den Pelz auf den Rücken hinuntergleiten lassen, ist der ganze Oberkörper bis zur Taille entblößt. Sie sind kupferbraun und mit einer Schmutzschicht bedeckt, aber gut gewachsen, kraftvoll, männlich und ebenmäßig gebaut. Der Koch der Zeltgemeinschaft schenkt allen Tee ein, dann zieht jeder seinen eigenen Lederbeutel hervor und entnimmt ihm eine Prise Tsamba, die er in den Tee streut. Dazwischen essen sie Fleisch, roh oder im Topf gekocht. Alles geht ruhig und besonnen zu, man hört keine bösen Worte, kein Zanken und Lärmen, alle sind die besten Freunde und haben es sich nach dem Marsch gemütlich gemacht, sie plaudern und lachen miteinander. Mit den Staubfängen von Perücken gleichen sie Indianern. Die meisten tragen auch einen Zopf, der jedoch zum größten Teil aus ineinandergeflochtenen Schnüren mit weißen beinernen Ringen und kleinen silbernen Götterdosen, auf deren Deckel ein paar Türkisen angebracht sind, besteht. Einige haben den Zopf um den Scheitel gewunden, wo er eine seltsame Krone, das Diadem der Wildnis, bildet.
In einem anderen Zelt war man schon mit dem Diner fertig, die meisten »Kuverts« standen leer. Dort saß ein Mann mit einem Pfriemen und flickte seine zerrissenen Stiefel, ein zweiter nähte die Riemen seines Sattels fest, und ein dritter lag mit gekreuzten Beinen und unter den Kopf geschobenen Armen auf dem Rücken und schnarchte sein Mittagsschläfchen. Aus der Vogelperspektive sah er urkomisch aus mit so großen Nasenlöchern, daß die Erdmäuse, wenn sie sie gesehen hätten, leicht aus Versehen hineinspaziert wären. Ein schmunzelnder Jüngling rauchte seine chinesische Mittagspfeife, während sein Nachbar eifrig, aber vorsichtig in seinem Pelz nach verdächtigen Einwohnern suchte.
Ich zeichnete mehrere von ihnen (Abb. 201, 203, 204, 205), ohne die geringste Unruhe zu erregen, im Gegenteil, die Sitzung schien ihnen Spaß zu machen und sie lachten aus vollem Halse, wenn sie ihr Konterfei erblickten, dessen Ränder sie durch dekorative Abdrücke ihrer mit Butter beschmierten Daumen verschönten. Sie baten mich nur, ihnen zu sagen, weshalb ich sie abzeichne und wozu ich ihren Namen und ihr Alter wissen müsse. Sympathisch, höflich und freundlich waren sie alle, und ich befand mich in ihrer Gesellschaft sehr wohl.
201. Mann aus Largäp.
Skizze des Verfassers.
203, 204. Nomaden aus Largäp.
Skizzen des Verfassers.
205. Tibetischer Knabe.
Skizze des Verfassers.
Auch ein Bettellama guckte herein; er war auf dem Weg nach dem Kailas und wurde schnell noch gezeichnet, zum unbeschreiblichen Vergnügen der anderen (Abb. 206). Er trug eine Lanze mit schwarzer Quaste und roten Zeuglappen, eine Handtrommel, ein Antilopenhorn, das er zur Verteidigung gegen bissige Hunde gebrauchte, und eine Trompete aus Menschenknochen, die er beim Blasen in die eine Mundecke setzte. Es machte ihm viel Spaß, Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein, die er als Einführung bei den Nomaden, als Einleitung zum Appell an ihre Freigebigkeit benutzte.
206. Bettellama mit Flöte aus Menschenknochen und Trommel aus menschlicher Hirnschale.
Skizze des Verfassers.