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Dreiundsechzigstes Kapitel.
Durch Bongbas Gebirge.

Wenn ich zu den ungewissen Schicksalen und bevorstehenden Abenteuern eines neuen Tages geweckt werde, erscheint mir jetzt das Leben düster und einsam. Je weiter die Zeit vorschreitet, desto mehr sehne ich mich nach einer Entscheidung. Als Gulam mich heute, am 14. März, weckte, beklagte er sich, daß Abdul Kerim mit der Uhr, die er von mir erhalten, nicht ordentlich umgehe; entweder sei die Uhr oder der Karawanenführer verdreht; er glaube indessen, daß der letztere es sei, denn die Uhr könne man eigentlich nicht in Verdacht haben, da sie ja nur einen um den anderen Tag aufgezogen werde. Gulam behauptete, daß Abdul Kerim auf die Frage, wieviel Uhr es sei, stets »sieben« antworte, welche Zeit des Tages es auch sein möge!

In der Nacht hatten wir wieder 24 Grad Kälte gehabt, aber trotzdem wurde es ein herrlicher Tag; es wehte zwar wie gewöhnlich, doch die Sonne stand am Himmel, und wir dachten wieder an den Frühling. Drei Hirten trieben einige Hundert Schafe nach Westen, der letzte Schnee hatte sie von ihren Weiden verscheucht, und sie waren jetzt auf der Suche nach schneefreiem Weideland. Ihrer Aussage nach waren wir nur noch eine Tagereise weit vom Tong-tso entfernt. Der Tong-tso war der Punkt, von wo aus ich nach Süden aufbrechen wollte, um durch das unbekannte Land zu dringen. Gelang es mir, dieses Land auch nur auf einer einzigen Linie zu durchziehen, so waren die Mühen des verflossenen Winters nicht vergeblich gewesen! Die Angabe der Hirten war richtig, denn am folgenden Tag lagerten wir am Westufer des Tong-tso (4511 Meter), den wir genau da fanden, wo ihn der unsterbliche Pundit Nain Sing in seine Karte eingezeichnet hat. Im Südosten thronte der großartige Gebirgsstock Scha-kang scham, an dessen nördlichem Fuß ich 1901 entlang geritten war.

Jetzt handelte es sich um das Ausfindigmachen eines geeigneten Passes, der über das Gebirge führte, das uns im Süden den Weg versperrte. Im Südosten zeigte sich eine Lücke, und dorthin zogen wir. Rechts von unserem Weg lagen am Fuß eines Hügels zwei Zelte. Abdul Kerim wurde hingesandt, während wir in einer tiefen, schmalen Erosionsrinne lagerten, auf deren Grund wir eine große Menge hineingewehten Kiangdungs und dürrer Grasbüschel fanden. Unser guter Anführer erzählte, daß er von zwei Männern, die Naktschu Tundup und Naktschu Hlundup hießen, unfreundlich empfangen worden sei; sie waren nämlich aus der drei Tagereisen nach Süden liegenden Landschaft Naktschu und hätten beide dieselbe Frau. Sie hätten zuerst gefragt, wieviel wir seien und wieviel Flinten wir besäßen, als hätten sie vor allem erst wissen wollen, ob sie und ihre Nachbarn uns wohl überwältigen könnten. Dann hatten sie gesagt, daß sie an der Spitze unseres Zuges einen Reiter gesehen hätten, während alle anderen, auch Abdul Kerim, zu Fuß gegangen seien. Jener Mann sei natürlich ein Europäer! Als Abdul Kerim entgegnete, daß Europäer nicht im Winter reisten, weil sie viel zu große Angst vor der Kälte hätten, und daß wir nur Wollkäufer aus Ladak seien, hatten die Tibeter den Kopf geschüttelt und geantwortet, sie hätten nie davon gehört, daß Ladakis im Winter diese Gegenden durchreisten. Aber nach und nach gelang es Abdul Kerim ihr Vertrauen zu gewinnen, und als er für zwei Yaks und sechs Schafe doppelt soviel bezahlte, wie die Tiere wert waren, ließen die Tibeter ihren Verdacht fahren – um des schnöden Goldes willen. Erst am folgenden Morgen sollte der Kauf abgeschlossen werden. Am nächsten Tag wurden denn auch die neuen Tiere geholt, und ihre Tragkraft erwies sich als eine segensreiche Hilfe für die Unseren. Glücklicherweise hatten die Nomaden im allgemeinen den größten Respekt vor unseren Zelten. Mir lag viel daran, vor allem mit solchen, die uns anfänglich feindlich entgegentraten, für sie vorteilhafte Käufe abzuschließen. Dadurch gewannen wir sie, und sie dachten nicht mehr daran uns anzuzeigen, auch wenn wir ihnen verdächtig erschienen; denn, falls es herauskam, daß sie sich gut hatten bezahlen lassen, hätte der nächste Häuptling sofort die Kaufsumme mit Beschlag belegen und obendrein noch die Pechvögel bestrafen lassen, die sich unterstanden, mit verdächtigen Individuen Geschäfte zu machen.

Während des heutigen Marsches ritt ich wie gewöhnlich mit meinen beiden Fußgängern voraus. Hinter einem Bergvorsprung zur Rechten lag ein Zelt so versteckt, daß wir es erst gewahrten, als wir es schon hinter uns hatten, und es zu spät war abzusteigen. Zwei Männer standen davor und gafften uns nach. Wenn sie ihre Beobachtungen mit denen ihrer Nachbarn vergleichen, werden sie guten Grund zum Argwohn finden! In dem heutigen Lager besuchten uns ein Greis und zwei halbwüchsige Jungen, die ihr Zelt in der Nähe hatten und sich davon überzeugen wollten, was für Leute wir seien. Sie sagten, daß sie sehr arm seien, und bettelten um ein bißchen Geld. Wir befanden uns hier, wie wir durch sie erfuhren, auf der Grenze des Distriktes Bongbatsch-angma, zu dem 300 Zelte gehören und der, wie die ganze Provinz Bongba, unter dem Statthalter Karma Puntso steht, dessen Zelte wir in sechs Tagereisen nach Süden erreichen könnten. Er sei 25 Jahre alt, wohne in einem großen Zelt und bekleide sein Amt erst seit einem Jahr, seit dem Tode seines Vaters. Es war immerhin eine Beruhigung zu wissen, daß er über Europäer und ihre krummen Wege noch keine Erfahrungen gesammelt haben konnte. Nachdem die Gäste von Abdul Kerim zwei Tengas erhalten hatten, schlichen sie im Glanz der Abendsonne wieder nach Haus, erfreut, daß wir keine Räuber waren.

Jetzt sank die Kälte auf 26,7 Grad – der Winter war noch immer merkwürdig zudringlich, aber der Tag, der 18. März, doch schön. Ich legte den ganzen Weg zu Fuß zurück und spielte wieder den Schaftreiber, weil wir an mehreren Zelten vorüberkamen. Unter ihnen war auch das Zelt des Alten, der uns gestern besucht hatte; es stellte sich jetzt heraus, daß er ein wohlhabender Mann war, der uns verschiedene notwendige Lebensmittel verkaufen konnte! Unterwegs schoß Tubges sieben Rebhühner, was zur Folge hatte, daß zwei Tibeter herankamen, dagegen protestierten und behaupteten, niemand anders als Europäer schössen Rebhühner! Abdul Kerim erklärte ihnen aber, daß er selbst lieber einmal Rebhühner als immerfort Schaffleisch esse! Hier spukte wieder das Gerücht von Karma Puntso. War es vielleicht doch klüger, einen anderen Weg einzuschlagen? Nein, dann wird der Statthalter noch mißtrauischer werden! Wir lagerten an der Nordseite einer kleinen Paßschwelle, wo wir keine lästigen Nachbarn hatten.

19. März. Das aus einem delikaten Rebhuhn und einem Becher Milch bestehende Frühstück war gerade verzehrt, als man mir meldete, daß drei Tibeter auf unser Lager loskämen. Sie blieben jedoch in gemessener Entfernung stehen, und Abdul Kerim ging zu ihnen hin. Mein Zelt stand nach der Seite offen, wurde aber noch im richtigen Augenblick zugemacht. Die Tibeter fragten, ob wir ihnen nicht Medizin geben könnten für einen Mann, der einen schlimmen Fuß habe. In Wirklichkeit war es wohl nur ihre Absicht, bei unserem Aufbruch zu spionieren, denn sie blieben die ganze Zeit über da und sahen sich alles aus der Ferne an. Nachdem ich mit dem Anmalen meines Gesichts und meiner Hände fertig war, schlich ich mich also auf dem geheimen Weg in Abdul Kerims Zelt, während Kutus und Gulam auf demselben Weg in das meine krochen, um dort alles einzupacken. Dann trieb ich mit Lobsang und Tubges die Schafe den Paßweg (4918 Meter) hinauf. Wir waren aber noch nicht weit, als Abdul Kerim auf meinem Pferd angeritten kam und uns eifrig winkte, stehenzubleiben. Ein tibetischer Reiter mit einem großen Hund würde uns nämlich in einigen Minuten auf diesem Pfad begegnen. Wir machten daher einen Umweg um die seitwärts liegenden Hügel, während der Karawan-baschi sich mit dem Tibeter befassen sollte. So drückte ich mich um die Gefahr herum. Nach einer Weile erschienen Kuntschuk und Sedik, jeder einen Strick in der Hand, und in ihrer Mitte der große Hund, eine boshafte Bestie, die so bellte, daß ihr der Schaum vor dem Maul stand, und die die Leute, die sie von seinem Herrn fortführten, zu beißen suchte. Es war ein sogenannter »Takkar«, und Takkar hieß er auch bei uns; er erinnerte an einen Bernhardiner, war rabenschwarz mit einem weißen Fleck am Halse und auf der Brust und wild wie ein Wolf. Sie hatten ihn für 2 Rupien erstanden.

Doch nicht nur das; Abdul Kerim hatte auch das Roß des Reiters für 86 Rupien erhandelt und kam uns vergnügt nachgesprengt, als wir von der Paßschwelle nach einem Längstal hinabritten, das reich an Zelten, Schafen und Yakherden war und in dem sich an zwei Stellen Reiter zeigten, die beängstigend an Soldaten erinnerten. Das neue Pferd war elf Jahre alt, wie der Besitzer angab, der hinzugefügt hatte, daß es, wenn es nur erst das 15. Jahr überstanden habe, noch so lange leben werde, bis es 30 Jahre alt sei. Es war ein neues Mitglied unserer Truppe und erregte allgemeines Interesse, nicht zum wenigsten bei Takkar, der ruhiger wurde, als er einen alten Freund und Gefährten wiedersah.

Im heutigen Lager hieß es gut aufpassen, denn ringsumher wohnten Nomaden und überall zogen Hirten mit ihren Herden über die Hügel. Um Takkar das Fortlaufen unmöglich zu machen, banden ihm die Leute eine Zeltstange am Hals fest, eine durchaus nicht leichte Operation. Sie hielten ihn an den Stricken fest, legten ihm Schlingen um die Beine, warfen ihm eine Filzmatte über, auf die sich vier Mann setzten, während die anderen die Stange festbanden. Als er losgelassen wurde, versuchte er, sich auf den ihm zunächst Stehenden zu stürzen, wurde aber durch die Stange daran gehindert. Er war zu bedauern, daß er sich wider seinen Willen aus seiner Heimat fortschleppen lassen mußte, aber ich hoffte, daß wir mit der Zeit doch gute Freunde werden würden. Damit er sich in der Gefangenschaft tröste, erhielt er Blut und Eingeweide des geschlachteten Schafes.

Am 20. passierten wir wieder eine kleine Paßschwelle (4955 Meter) und den unbedeutenden See Schar-tso, an dessen Ufer eine herrliche Quelle aus der Erde sprudelte. In zwei Zelten auf der Westseite unseres Weges kauften wir Tee, Butter und Tsamba für einige Tage und erhielten wieder das Gerücht über Karma Puntso als Zugabe. Jetzt hieß es, er wohne drei Tagereisen westwärts; ich hoffte immer noch an ihm vorbeizukommen, ohne Verdacht zu erregen. Die Gegend des Lagers 359 hieß Luma-schar; wir befanden uns hier am nördlichen Ufer des großen Flusses Kangscham-tsangpo, der von der Nordseite des Scha-kang-scham herabkommt, jenes gewaltigen Gebirgsstockes, den ich im Jahre 1901 unmittelbar südlich von meiner Route hatte liegen lassen und dessen westliche Seite uns jetzt einen großartigen Anblick gewährte. Der Berg lag etwa zwei Tagereisen nach Südosten hin.

Am folgenden Tag mußten wir über den Fluß, eine höchst ungemütliche Sache. Denn obgleich es die letzte Nacht 18 Grad kalt gewesen war, hielt das Eis in der Nähe der Ufer noch nicht. Abdul Kerim versuchte hinüberzureiten, aber das Tier brach mitten im Flusse so ein, daß es kopfüber ins Wasser stürzte. Da zog Lobsang die Stiefel aus, ging barfuß hinüber und kam wieder zurück, um mit Hilfe der anderen unsere Lasttiere vorsichtig nach dem andern Ufer zu bringen. Am schwersten ging es mit den Schafen, sie mußten einzeln hinübergescheucht und an den Hörnern vorwärts gezogen werden; beinahe alle Mitglieder der Karawane mußten sich an diesem Eisbad beteiligen (Abb. 322).

322. Übergang über das Eis des Kangscham-tsangpo.

Auf der anderen Seite gingen wir nach einem kleinen Paß hinauf, von dem man einen prachtvollen Überblick über die Kette hatte, die vom Scha-kangscham nach Westnordwest auszugehen schien und uns den Weg nach Süden verlegte. Abdul Kerim, Kuntschuk und Sedik mußten mit einem erschöpften kleinen Maulesel nach zwei Zelten gehen, die rechts von unserem Wege standen, und sollten versuchen, den Ärmsten gegen zwei Schafe zu vertauschen. Aber die Nomaden antworteten, daß sie den Maulesel nicht einmal geschenkt haben wollten. Statt zu tauschen, wurde nun Reis, sauere Milch, Butter, Salz und ein Schaf gekauft, so daß wir auf einige Tage versorgt waren. Auch heute mußte Abdul Kerim vom Lager aus einen weiten Spaziergang nach einigen benachbarten Zelten machen. Er mußte seiner Sünden wegen tüchtig umhertraben, der arme Abdul Kerim! Wenn er auch darin gefehlt hatte, daß er zu wenig Gerste aus Ladak mitgenommen hatte, so war sein Betragen während dieser kritischen Reise dafür um so besser.

Vom Lager 360 aus sahen wir in S 73° O den höchsten Gipfel des Scha-kangscham (Abb. 319, 320).


319, 320. Der Scha-kangscham. Nach Aquarellen des Verfassers.

Takkar ist noch immer unversöhnlich und haßt Kuntschuk, der ihn gekauft hat, von ganzem Herzen. Aber er bellt auch uns andere samt und sonders an, sobald wir uns außerhalb der Zelte sehen lassen. Während des Marsches ist er resigniert, solange das neue Pferd sich in seiner Nähe befindet, sonst wird er wild. Der einzige, der sich ihm zu nähern wagt, ist der kleine Puppy, der ihn neckt und ihn in die Ohren beißt. Takkar behandelt Klein-Puppy aber mit göttlicher Verachtung; nur wenn der Kleine eine Gelegenheit wahrnehmen will, um dem neuen Onkel das Futter vor der Nase wegzustibitzen, knurrt er wütend; dann aber richten sich Klein-Puppys Ohren auf, und mit schiefem Kopf blickt er Takkar an. Er hat keine Ahnung, daß Takkar ihm den Hals abbeißen könnte wie einem Kücken, wenn er Lust dazu verspürte. Eigentlich war Takkar ganz froh, in der Gefangenschaft einen Spielkameraden zu haben, obgleich er anfangs schandehalber versuchte, sich abweisend zu zeigen.

Am folgenden Morgen begaben sich Lobsang und Tubges wieder nach den Zelten der Nomaden und kehrten mit noch drei Schafen, einem Kloß Butter und einem Beutel Tabak zurück. Es war der Mühe wert, ihnen zuzusehen, einen solchen Appetit entwickelten sie! Die anderen hatten ihnen den halben Topf dicken, rotbraunen Buttertees übriggelassen. Eine Schale nach der anderen verschwand, und sie leerten den großen Topf bis auf den letzten Tropfen. Dann holten sie eine Schüssel Fleisch, das sie wie wilde Tiere verschlangen. Den Rest wickelten sie in das Ende ihrer Leibbinden, um Reservevorrat zu haben, falls sie hungrig werden sollten, ehe wir das nächste Lager erreichten.

Wir zogen südlich weiter und ließen eine offene Ebene, die sich bis an den Fuß der Vorberge des Scha-kangscham erstreckt, zur Linken liegen. Zweimal kamen wir an Zelten und Herden vorbei und lagerten dann auf dem Kiesabhang nahe einer Quelle. Die Nomaden hatten nichts zu verkaufen, erteilten Abdul Kerim aber mancherlei wertvolle Auskunft. Bei solchen Gelegenheiten pflegte Kuntschuk sich verstohlen alle geographischen Namen aufzuschreiben. Unter anderem erfuhren wir jetzt, daß wir, falls wir noch sieben Tagereisen weiter nach Süden gingen, einen reichen Kaufmann aus Lhasa treffen würden, der Tsongpun Taschi hieß und sich im Winter mitten in der Provinz Bongba aufzuhalten pflegte, um den Nomaden Tee zu verkaufen. Ich konnte mir sagen, daß die Nachbarschaft seines Lagers unser nächster kritischer Punkt werden würde.

Um diese Zeit schliefen Lobsang und zwei wetterharte Ladakis schlecht, weil es ihnen, wie sie sagten, im Zelt zu heiß war! Lobsang hatte nur einfaches Unterzeug und darüber nur einen Anzug von dünnem Wollstoff. Dies Kostüm hatte er seit Drugub getragen und darin bei 40 Grad Kälte, mit nur zwei Säcken zugedeckt, geschlafen; denn seinen Pelz hatte er schon am Anfang der Reise einem der Kameraden verkauft. Nur ein Tibeter kann dergleichen aushalten.

Am 23. März arbeiteten wir uns nach dem Tschaklam-la hinauf, den wir auch Amtschen-la hatten nennen hören. Ein steiler Weg führt bergauf, und es ging verzweifelt langsam. Die Schafe und die beiden Yaks überholten uns bald. Von den letzten Zelten aus übersah man den ganzen Weg bis nach dem Paß hinauf, und ich mußte daher zu Fuß gehen. Ich wäre vor Herzklopfen und Atemnot gestorben, wenn nicht Lobsang mich hinaufgeschoben hätte! Zwei Maulesel, die während der letzten Tage schon kaum mehr atmen konnten, wurden lebendig zurückgelassen, da die Nomaden sie sich natürlich holen würden. Mit einem Rappen ging es ebenfalls zu Ende, und das neugekaufte Pferd mußte dessen Last übernehmen. Mein Grauer war auch nicht mehr viel wert. Der Tschaklam-la mit seinen 5285 Metern war uns infolgedessen ein großer Stein des Anstoßes, und ebensowenig erfreulich war die Aussicht, die sich im Süden aufrollte: ein Labyrinth von Gebirgen, aus dem man jedoch deutlich entnehmen konnte, daß alle Ketten sich in ostwestlicher Richtung hinzogen. Von dem Paß ging es steil nach dem Fluß Sangtschen-tschu hinab, der nach Westen fließt und an dessen Ufer wir lagerten. Jetzt begann Takkar, sich in sein Schicksal zu finden. Allerdings verdroß es ihn, daß er immer an seiner Zeltstange liegen mußte, aber er fand auch wieder, daß er bei uns doch gutes und reichliches Essen erhielt und daß wir alle sehr nett zu ihm waren. Nur Kuntschuk bellte er stets an; ihm konnte er nicht verzeihen.

Als wir am 24. März aufbrachen, schwankte ich zwischen Südwest und Südost, denn im Süden erhoben sich hohe Berge. Gingen wir nach Südwesten, so würden wir uns Karma Puntso zu sehr nähern; wir wählten also den Weg nach Südosten. Zuerst mußten wir über die 120 Meter breite Eisfläche des Flusses hinüber, auf die ein Sandweg gestreut wurde. Auch hier mußten die Schafe wieder einzeln an den Hörnern hinübergezogen werden, und die Yaks ließen sich erst dann zum Betreten des Eises bewegen, als sie gesehen hatten, daß es Pferde und Maulesel trug. Gulam marschierte zu Fuß an der Spitze und war wie gewöhnlich beauftragt, mir ein Zeichen zu geben, wenn sich Zelte oder Hirten zeigten. Wir waren noch nicht weit, als er schon die Hand nach links ausstreckte, was bedeutete, daß ich absteigen, mit den Schafen gehen und daß Abdul Kerim mein Pferd besteigen müsse. Diesmal war es nur ein Hirt mit seiner Herde. Sobald die Gefahr vorüber war, tauschte ich wieder mit dem Karawanenführer.

Als wir etwas weiter marschiert waren, merkte ich plötzlich, daß ich mein Zigarettenetui, das auch einige unaufgezogene Familienphotographien und ein Stück schwarzes Heftpflaster enthielt, verloren hatte. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn ein Tibeter es fände! Ein solches Ding konnte nur einem Europäer gehören. Lobsang und Kutus kehrten daher um und suchten unsere Spur ab, während ich mich auf einem Abhang ausstreckte, um ihre Rückkehr zu erwarten. Glücklicherweise fanden sie das Etui und erhielten jeder eine Zigarette zur Belohnung! Wir blieben noch eine Weile rauchend sitzen, während Abdul Kerim mit Kuntschuk und Tubges nach einem Zelt ging, wo er aber nur Frauen traf und einige Lebensmittel kaufte. Im heutigen Lager herrschte wieder Schneesturm, und in der Nacht sank die Temperatur auf -17,8 Grad. Jetzt hatten wir nur noch 21 Schafe und mußten also darauf bedacht sein, entweder unsere Herde zu vergrößern oder, noch lieber, ein Dutzend Pferde zu kaufen. Hier und überhaupt in Bongba war das Schafkaufen schwierig gewesen. Überall klagten die Nomaden, ihre Herden seien durch Kälte, Stürme und Schnee dezimiert worden, und überdies war auch das Gras erbärmlich, nachdem der Regen im vorigen Spätsommer ausgeblieben war. Die Schafzucht ist ihre Existenz; verlieren sie ihre Herden, so verarmen sie gänzlich, und es bleibt ihnen nichts übrig, als an den Zelten der Reicheren zu betteln. Sie haben infolgedessen eine ausgesprochene Abneigung gegen jede, sozusagen nicht naturgemäße Verminderung ihrer Stückzahl; die Herde muß sich verbessern und im Gleichgewicht halten, sich in guten Zeiten vergrößern und in schlechten zusammenschrumpfen, darf aber nicht durch Verkauf verkleinert werden. Daher weigern sie sich selbst dann zu verkaufen, wenn ihnen das Doppelte des Wertes geboten wird. Noch schwieriger ist es in Bongba aber, Pferde zu erhalten.

Während der Nacht liefen unsere Tiere wieder einmal nach dem vorigen Lager zurück. Während Lobsang und Kutus sie holten, verging der größte Teil des Tages, und wir blieben daher im Lager 363. Kuntschuk und Tubges spürten unterdessen in einem südlichen Tal ein Zelt auf, wo sie Reis, Gerste, Tsamba, Milch und »Tschura«, eine Art Käse, kauften, so daß die Lebensmittel wieder mehrere Tage reichten. So fristeten wir unser Dasein von Zelt zu Zelt. Unsere eigene Schafherde war ja schon auf 21 Köpfe zusammengeschmolzen, die alle als Lasttiere benutzt werden mußten.

Eine einsame Wildgans flog schreiend über unser Lager. Hatte sie sich verirrt oder kam sie als Abgesandte, um nachzusehen, ob das Eis auf den Seen im Norden schon aufgebrochen sei? Ohne Zweifel kehrte sie bald zu ihren Stammverwandten zurück, um Bericht zu erstatten. Meiner Ansicht nach war sie etwas zu früh ausgeschickt worden.

Vom 24. Februar bis zum 24. März hatten wir nur 290 Kilometer zurücklegen können, woran der mörderische Sturm, Verluste an Lasttieren und in letzter Zeit das schwierige Terrain schuld waren. Es gelang uns nur selten, den Tagesmarsch auf 10 Kilometer zu bringen.

Es ärgert mich, daß am Nordfuß aller unserer Pässe immer ein Zelt liegt wie ein Wachthaus, ein Spionenauge. Ich muß daher den ganzen Weg zu Fuß hinaufgehen. So auch am 26., als wir nach dem Santschen-la hinaufkletterten, auf dessen 5356 Meter hohem Sattel ein kleines Steinmal steht. Nach Süden hin immer neue Gebirge. 30–40 Kilometer entfernt, erhob sich in N 60° O der höchste Gipfel des Scha-kangscham, ein großartiges Bild in dem schönen Wetter, da auch nicht das kleinste Wölkchen die Aussicht trübte. Mit gewandten, elastischen Sprüngen flohen fünf Ammonschafe über die Höhen, und auf den Abhängen der Südseite, wo wir uns im Geröll vorsichtig hinabbewegten, sprang eine Herde kleiner, geschmeidiger Goaantilopen umher. Pantholopsantilopen zeigten sich in diesen Gegenden nicht.

Als wir in Nema-tok lagerten, stand dicht bei uns ein Zelt, dessen Bewohner uns eine Schaflast Reis verkauften. Ein älterer Mann, den meine Leute familiär »Ava« oder Vater nannten, machte uns einen Gegenbesuch, um sich den Rappen anzusehen, den wir gern verkaufen wollten, weil er nicht danach aussah, als ob er noch lange leben werde. Aber der Alte versicherte, daß er für das Pferd nicht einmal eine Nähnadel geben würde! Er erzählte, die Nomaden würden sich in neun Tagen aus allen Tälern nach dem Ort begeben, wo Karma Puntso wohne, um Tee zu kaufen und ihre Steuern dort zu bezahlen. Der Teehändler Tsongpun Taschi sei ein sehr gebieterischer, einflußreicher Herr, meinte unser Alter. Ich hatte bei dem Gedanken, daß wir uns diesem Handelspotentaten näherten, ein Gefühl des Unbehagens und zunehmenden Respekts. Er erfreut sich eines besonderen Privilegiums, das ihm der Devaschung erteilt hat. Den Nomaden verkauft er Tee auf Kredit. Wenn sie im Sommer ihre Schafwolle auf der Tasam verkauft haben, bezahlen sie ihre Schulden in Tengas oder in Naturalien. Tsongpun Taschi macht also gute Geschäfte, und es liegt in seinem eigenen Interesse, mit dem Devaschung in gutem Einvernehmen zu bleiben. Wenn er, der in dem Ansehen steht, viel geriebener und klüger als die einfachen Nomaden zu sein, uns jetzt unbehelligt passieren läßt, wird der Devaschung ihn zur Verantwortung ziehen, und er wird vielleicht sein Privilegium verlieren! Wir näherten uns also einem kritischen Punkt erster Ordnung.

Aber für nichts ist nichts! Wollte ich den weißen Fleck, in dessen Herzen ich mich gerade jetzt befand, erobern, so mußte ich mir mancherlei Widerwärtigkeiten gefallen lassen und mich großem Risiko aussetzen. Aber für einen leidlich intelligenten Menschen kann es ja eigentlich kein Vergnügen sein, wie ein zerlumpter Strolch zu Fuß durch öde Gegenden zu wandern und eine Schar widerspenstiger Schafe zu treiben! Ich war dieses Gewerbes, zu dem mir alle Anlagen fehlten, schon herzlich überdrüssig. Jeden Morgen mußte ich mein Gesicht schwärzen, um wie ein Mohr auszusehen, saß folglich mit dem Pinsel vor dem Spiegel und strich mich dreimal an, um eine gleichmäßig dunkle Hautfarbe zu erzielen. Die Augen versteckten sich hinter einer großen, runden tibetischen Brille, hinter deren Gläsern meine eigenen geschliffenen befestigt waren. Diesmal war die Verkleidung sehr viel sorgfältiger ausgedacht als im Jahre 1901, wo ich als Mongole nach Lhasa zu dringen suchte, aber von Kamba Bombos starken Armen festgehalten wurde. Mein Turban war noch zu weiß, er wurde daher in eine Flüssigkeit gelegt, die aus verdünnter, mit Butter und Asche aufgekochter Tusche bestand, und erhielt wirklich schnell ein recht heruntergekommenes Aussehen! Meine weichen Lederstiefel waren schon so zerrissen, daß die Zehen vorn herausguckten. Ein Glück, daß ich hier nicht Gefahr lief, Bekannten aus Stockholm oder – London zu begegnen!

Aber aufreibend und qualvoll war diese Reise. Tag und Nacht schwebte ich in der größten Aufregung, entdeckt und mit Schimpf und Schande entlarvt zu werden. Je weiter wir nach Süden vordrangen, desto quälender wurde der Gedanke. Würde es mir glücken oder würde man mich gar zum Rückzug zwingen, wenn erst die Hälfte der Linie durch den weißen Fleck zurückgelegt war? Würde ich den Transhimalaja nicht noch einmal übersteigen dürfen? Mit jedem neuen Sammelpunkt, den wir erreichten, steigerte sich daher unsere Wachsamkeit und Vorsicht, aber auch unsere Erregung. Ich durfte mich nie vergessen, nie auf dem Marsch eine Zigarette in der Hand halten. Das Kartenbuch und den Kompaß trug ich verborgen auf der Brust, um sie stets zur Hand zu haben. Wenn ich in der Nähe eines Zeltes eine Gesteinprobe nehmen, mit dem Kompaß peilen oder eine Aufzeichnung machen wollte, mußte Lobsang mich decken. Er wurde mit der Zeit erstaunlich geschickt und gewandt in diesem Sport. Die Sonnenhöhe konnte ich nur nehmen, wenn wir ganz sicher waren, daß kein Tibeter das Instrument sehen konnte. Hinter dem Guckloch meiner Zeltwand saß ich, wenn ich ein Panorama zeichnete. Die Schafe waren jedoch meine rettenden Engel; mit ihnen brach ich stets zuerst auf und brauchte mich nicht am Packen oder Beladen zu beteiligen. Im Gegensatz zu 1901 hatte ich auch nicht nötig, nachts unsere Tiere zu hüten. Immerhin war ich tatsächlich ein Gefangener in meinem eigenen Zelt, wo mir die Abendstunden recht lang wurden. Nichts strengt den Kopf so sehr an und macht so nervös, als die Aufregung, wenn man verkleidet reist und jeden Augenblick auf eine verhängnisvolle Krisis gefaßt sein muß.


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