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In früheren Zeiten erstreckten sich die Gletscherzungen des Lunpo-gangri bis in das Tal hinunter, und ich sah davon noch sehr deutliche Spuren, als wir am 16. April nach niedrigeren Gegenden hinunterzogen! Das Tal ist hier voll alter Moränen, die ausschließlich aus Granit bestehen; einige von ihnen sind an der Oberfläche durch feines Material und Moos verdeckt. Wieder zogen wir an der großen Yakkarawane vorbei, die schon nach ganz kurzem Marsch ihr Lager aufgeschlagen hatte. Sie beabsichtigte augenscheinlich, den nächsten Tag auszuruhen, denn die Yaks waren von ihren Lasten befreit und alles Gepäck zu einer Mauer aufgestapelt. Wenn die Tibeter die Absicht haben, am nächsten Tag weiterzuziehen, lassen sie die Yaks mit den Lasten grasen und schlafen, weil das Abladen und Wiederbeladen von 350 Yaks ihnen für eine einzige Nacht zuviel Arbeit macht. Meinetwegen konnten sie gern solange wie nur möglich hierbleiben; wir gewannen dann einen Vorsprung und konnten an Saka-dsong vorüberziehen, ehe wir angezeigt wurden. Doch nein, es war klüger, Saka-dsong ganz zu vermeiden, nicht, um Muhamed Isas Grab nicht wiedersehen zu müssen, sondern um nicht unnötigerweise Argwohn zu erregen. Es war sonnenklar, daß die Behörden sich fragen würden, weshalb eine kleine Schar Ladakis denn auf Schleichwegen gehe, statt auf der großen Tasam zu ziehen, und daß sie uns ins Verhör nehmen würden.
Nachdem die Moränen aufgehört haben, gelangen wir in eine offene Talweitung mit vorzüglichem Gras und Millionen neuer, Verdruß erregender Mauselöcher. Man freut sich ordentlich, wenn Takkar gelegentlich eines dieser lästigen Nagetiere totbeißt. Noch leiden wir keine Not; Tubges versorgt mich mit Rebhühnern, und eine unserer Ziegen liefert mir etwas Milch. Vom Lager 383 aus sehen wir die Gipfel des Lunpo-gangri nur in der Verkürzung (Abb. 325), einer ist so dünn wie ein Schirm. Im Ostsüdosten zeigen sich mehrere Gipfel, die Fortsetzung der Kette, und man kann leicht berechnen, daß der Tschomo-utschong, der isolierte Bergstock auf der Tasam, in der östlichen Verlängerung des Lunpo-gangri liegt. Von jedem Lager aus nehme ich Winkelmessungen der hohen Gipfel in der Nähe vor; die Resultate werde ich später veröffentlichen. Unserm »Schnarchonkel« machen die anderen das Leben sauer. Schon um acht Uhr abends kriecht er in die »Federn« neben den aneinandergebundenen Schafen und beginnt sogleich mit dem Sägen seiner Astknorren. Sofort ruft ihn jemand an; er wacht auf und sagt etwas Lustiges, worüber die anderen lachen müssen, wird aber nie böse. Nach zwei Minuten schläft er schon wieder und sägt ebenso munter drauf los wie vorher, aber nur, um durch neues Anrufen geweckt zu werden. Erst wenn die anderen, einer nach dem anderen, eingeschlafen sind, wird er in Frieden gelassen und kann aus Leibeskräften weiter schnarchen.
Klein-Puppy entwickelt sich vortrefflich, ist lebhaft, vergnügt und anhänglich. Nachts schläft er zu meinen Füßen auf dem Pelz und hilft Takkar beim Wachehalten. Sie sind meine Gesellschafter; es wird mir sehr schwer werden, mich einst von ihnen zu trennen.
17. April. 17,4 Grad Kälte! Wie lange währt doch dieser Winter! Jetzt hat Lobsang sich ausgedacht, die Yakleute würden sichs nicht getrauen uns anzuzeigen, da sie fürchten müßten, zur Verantwortung gezogen zu werden, weil sie uns nicht besser ausspioniert hätten. Wir ziehen talabwärts weiter; wie herrlich, mehrere Tage nur bergab zu gehen! An vielen Stellen sehen wir Sommerlagerplätze; jetzt ist die Gegend aber öde und leer.
Der Fluß führt ungefähr 2 Kubikmeter klaren Wassers in der Sekunde; nur in der Mitte ist er offen, sonst sind seine Ufer noch von zwei Fuß dicken, scharf abgeschnittenen Eisrändern eingefaßt, von deren Kanten Eisstalaktiten herabhängen. Auf den Ufern huschen die Erdmäuse von Loch zu Loch. Das Tal verengt sich, und oft bespült der Fluß steile Schieferfelsen. Die meisten und größten Nebenflüsse kommen von links, von der Kette, die die unmittelbare Fortsetzung des Nien-tschen-tang-la ist. Das Eis wird immer mächtiger, je enger das Tal wird und je länger dort Schatten herrscht. Wir überschreiten es oft, um von einem Ufer nach dem andern zu gelangen; es ist so fest wie eine Brücke. Auf einem Mani ist das Geweih eines Hirsches aufgestellt; woher mag das sein? Das Tal zieht sich ebenso zwischen den beiden Bergketten hin wie das des Buptsang-tsangpo. Auch heute sehen wir weder einen Menschen, noch ein Zelt.
Abends schrie wieder eine Nachteule oberhalb des Lagers; die Ladakis waren nun überzeugt, sie wolle uns vor Wegelagerern warnen. Wenn diese wissen, daß sich ein Europäer und europäische Waffen in einer Karawane befinden, greifen sie nicht an; aber wir sind ja nur Ladakis, und die Tibeter verachten die Ladakis und betrachten sie als Feiglinge.
Am 18. zogen wir südwärts nach dem Punkt (4696 Meter), wo unser Tal in das Rukjoktal einmündet, das von Westnordwesten kommt und in dessen Hintergrund man wieder einige Gipfel des Lunpo-gangri erblickt. Auch hier sahen wir keine Menschen, nur zahlreiche Sommerlager. Zwei Reiter ritten an unserm Lager auf der andern, rechten Seite des Flusses vorüber. Was wollten sie? Waren es Späher? Jetzt hatten wir allen Grund, in jedem menschlichen Wesen einen Spion zu vermuten, der mit List hinter unsere Schliche zu kommen suchte. Doch nein, sie waren Kiangjäger und stammten aus Gertse, waren aber dort durchgebrannt und hatten sich in einer anderen Provinz angesiedelt, weil sie mit dem Gertse Pun aneinander geraten waren, jenem Potentaten, dem wir mit Mühe und Not entwischt waren. Sie sagten uns, wir würden in einem Tag nach Pasa-guk kommen, wo wir im vorigen Jahr gelagert hatten, und seien nur noch drei kurze Tagereisen von Saka-dsong entfernt. Es war bedenklich, so dicht an der Residenz eines Statthalters vorbeizuziehen! Abdul Kerim kaufte das Pferd des einen Reiters für 100 Rupien.
Heute hatte ich einen neuen Ladakianzug zum erstenmal an. Der andere war mir jetzt zu warm, und außerdem stach er durch seine rote Farbe zu sehr von denen meiner Leute ab. Der neue Rock war aus abgenutzter, durchlöcherter Sackleinwand angefertigt, die noch mit Ruß und Asche eingerieben worden war. In ihm unterschied ich mich nun nicht die Spur mehr von den anderen. Jetzt tuschte ich mir das Gesicht jeden Tag regelmäßig an; das mußte schon ein großer Schlaukopf sein, der dahinter gekommen wäre, daß ich kein echter Ladaki war! Wir waren bis jetzt merkwürdig gut durchgekommen und hatten nur noch einen Tagemarsch nach einem Punkt, an dem ich voriges Jahr gewesen war. Aber die nervöse Erregung steigerte sich immer mehr, und jeden Morgen zerbrach ich mir schon den Kopf über die Art der Überraschung, die der neue Tag in seinem Schoße tragen mußte.
19. April. Gerade als wir aufbrachen, zogen zwei Männer zu Fuß vorbei und trieben einige Hundert mit Salz beladene Schafe vor sich her. Wir hatten denselben Weg wie sie und mußten mit ihnen zusammentreffen. Während ich unsere eigenen Schafe bergab trieb, hielt Abdul Kerim sein Pferd an und redete mit den beiden, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Aber man sah ihnen an, daß unsere ungewöhnliche Gesellschaft ihr Interesse erregt hatte und daß sie uns genau betrachteten. Ich humpelte im Gehen, weil mir einfiel, daß die Tibeter wohl noch nie einen Europäer hätten hinken sehen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt schon einen gesehen hatten! Mich aber hatten die Leute in Pasa-guk und Saka-dsong vor einem Jahr gesehen, und da hatte ich nicht gehinkt. Es gelang mir, unauffällig an der lästigen Nachbarschaft und ebenfalls an der großen Yakkarawane vorbeizukommen, die zwei Tage lang einen anderen Weg eingeschlagen hatte, jetzt aber wieder in unsere Straße eingebogen war. Dann trafen wir noch eine große Schafkarawane und eine Gesellschaft zu Pferd, eine Dame, die die Gattin des Rukjoker Govas sein sollte. Wer uns entgegenkam, war nicht so gefährlich, wie die mit uns Ziehenden.
Auf der Rechten blieb der Rukjokfluß immer weiter von der Straße liegen; unmittelbar vor uns im Süden erschien der hohe Gipfel, der sich oberhalb des Dorfes Pasa-guk erhebt. Die Salzschafe und die Yaks hatten wir wieder weit hinter uns zurückgelassen und gelangten nun endlich an das Ufer meines alten Freundes, des Tschaktak-tsangpo, der jetzt bedeutend seichter war als in den letzten Tagen des Mai und den ersten des Juni vorigen Jahres. Hier verließen wir die nach Süden führende Heerstraße und zogen nordwärts längs des rechten, westlichen Ufers des Tschaktak-tsangpo, wo wir bald auf einer Wiese das Lager aufschlugen (4634 Meter).
Als Abdul Kerim zurückkehrte, sah er sehr ernst aus. Es war ihm schwer geworden, all die Fragen zu beantworten, weshalb wir hintenherum am Tschaktak-tsangpo entlangzögen, anstatt, wie alle anderen, auf der großen Landstraße nach Saka-dsong zu gehen. Er hatte darauf erwidert, uns sei besonders eingeschärft worden, genaue Erkundigungen einzuziehen, wieviel Schafwolle es im nächsten Sommer hier in der Gegend geben werde. Da hatten die Männer der Salzkarawane gesagt: »Ihr scheint vor Straßenräubern nicht bange zu sein; gerade hier oben in den Bergen halten sie sich auf. Seid ihr gut bewaffnet?«
»Ja, wir haben zwei Flinten und einige Revolver.«
»Ihr werdet sie brauchen. Wir sehen, daß ihr friedliche Leute seid, deshalb warnen wir euch. Vor sechs Tagen ist hier in der Gegend ein Zeltdorf von einer 18 Mann starken Räuberbande überfallen worden, in der jeder Kerl ein Pferd und eine Flinte hatte. Sie haben drei Zelte geplündert, 400 Schafe und gegen 200 Yaks fortgetrieben und sich auf derselben Straße entfernt, auf der ihr jetzt ziehen wollt. Man hat ihnen Militär nachgeschickt, aber sie haben zwei Leute davon erschossen, und die anderen haben Reißaus genommen. Keiner weiß, wo sich die Räuberbande jetzt aufhält. Wenn euch euer Leben lieb ist, paßt nachts gut auf. Werdet ihr überfallen, so laßt euch ruhig ausplündern; ihr seid nur dreizehn und könnt euch nicht wehren.«
Das war es, weshalb Abdul Kerim so sorgenvoll aussah, und das konnte nicht wundernehmen. Nun mußten wir auch noch riskieren, nachts überfallen zu werden, als ob ich an der zunehmenden Aufregung bei der Durchquerung des verbotenen Landes, in Verkleidung und aus Schleichwegen, nicht schon übergenug hätte! Solange es noch hell war, durften die Tiere frei umherstreifen und grasen, wo sie wollten, in der Dämmerung aber wurden sie nach dem Lager getrieben. Am Abend redeten die Männer von nichts anderm als von Räubern. Nur Lobsang, der selbst Tibeter war, regte sich über die Sache nicht auf. Er sagte, daß es organisierte Banden gebe, die bis zu 100 Mitgliedern zählten und an deren Spitze ein Hauptmann stehe, der anordne, wo und wann ein Raubanfall stattfinden solle. Um diese Zeit des Jahres aber säßen die Bösewichter noch daheim an ihren Feuern und spielten die Unschuldigen; seiner Ansicht nach müsse es erst wärmer werden, ehe sie frech würden. Er behauptete auch, daß, wenn ein Räuber in der Gegend von Gartok gefangen worden sei, der Kopf und der eine Arm als Beweis nach Lhasa geschickt werden müsse. In der Hauptstadt sind die Strafen sehr streng. Einem Dieb werden die Augen ausgestochen und eine Hand abgehauen. Ein Gova oder ein anderer höherer Beamter, der einen gefangenen Räuber abliefert, wird belohnt oder befördert; wer in dieser Beziehung seine Pflicht vernachlässigt hat, bestraft. Wir hörten auch, die Gegend bei Geddo in der Nähe des obern Raga-tsangpo sei als Räubernest bekannt und werde von Berufsräubern aus Naktschu besucht.
In der Dunkelheit sangen die Mohammedaner unter meinen Leuten wieder jene melodische Hymne, die ich in Kisil-unkur zum erstenmal gehört hatte. » Allahu ekbär« hallte es zwischen den Felswänden wider, »er ist mächtig und wird die Rechtgläubigen vor den Schlingen der Heiden bewahren.« Sie waren in aller Eile wieder fromm geworden – in diesem Gelobten Land der Wegelagerer! » Allahu ekbär«, Gott ist groß!
Die Nacht verlief aber ruhig, nur wurde früh am andern Morgen gemeldet, daß sich von Norden fünf Reiter unsern Zelten näherten. Durch das Fernglas betrachtet, schrumpfte ihre Zahl auf zwei Männer, eine Frau und einige Yaks zusammen. Sie machten einen Umweg, als ob sie vor uns Angst hätten, aber Abdul Kerim hielt sie an, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Dann zogen wir am Nordufer des Tschaktak-tsangpo entlang gerade nach Osten. Das Terrain hebt sich sehr langsam, das Tal ist ziemlich breit und reich an Weideplätzen. Zelte sahen wir nicht, aber zahlreiche Sommerlager. Ein Steinmal bezeichnet den Punkt, wo der von N 10° W kommende Tschaktak-tsangpo seinen von Osten kommenden Nebenfluß Gäbuk-tschu aufnimmt. In Nordnordost erheben sich zwei mittelhohe Schneekuppen mit nicht sehr großen Gletschern. Es war klar, daß der Tschaktak-tsangpo aus dem Norden dieser Berge kam, denn man konnte das scharf eingeschnittene Durchbruchstal des Flusses sehen. Der Hauptfluß mochte 7. der Nebenfluß 2 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führen. In dieser Gegend heißt der Fluß Kamtschung-tschu; den Namen Tschaktak-tsangpo (Charta-tsangpo nennt ihn Nain Sing unrichtigerweise) erhält er erst unterhalb des Dorfes Pasa-guk. – In dem Winkel zwischen beiden Flüssen lagerten wir in der Nähe einer Wiese, auf der drei Pferde weideten. Ihre Besitzer, deren Zelte hinter einem Felsvorsprung in der Nachbarschaft standen, waren aus Rukjok; sie hatten im Winter viele ihrer Schafe durch Krankheit verloren und waren nun auf dem Weg nach einer heißen Quelle, um die ihnen noch gebliebenen durch warme Bäder zu retten. Wir befanden uns hier genau fast nördlich von Saka-dsong und waren nur noch zwei Tagereisen davon entfernt. Zwischen uns und der Residenz des Gouverneurs erhob sich aber noch ein Bergrücken, der ein niedriges Glied der Lunpo-gangri-Kette ist. Am Abend und in der Nacht feuerten unsere Wächter, wie gewöhnlich, einige Revolverschüsse ab, um eventuellen Straßenräubern anzuzeigen, daß wir auf unserer Hut seien.
21. April. Als wir gerade mit dem Verpacken der Zelte beschäftigt waren, zogen unsere Nachbarn mit ihren 200 Schafen an unserem Lager vorüber. Ich wandte ihnen den Rücken zu und belud einen Maulesel. Dann marschierte ich wieder mit den Schafen, denn höher oben im Tal standen noch mehrere Zelte; erst als wir wieder durch unbewohnte Gegenden kamen, konnte ich reiten. Auf unserer linken Seite öffneten sich verschiedene Nebentäler, und in ihrem Hintergrund erblickte man dann und wann einen Teil des Kammes der Hauptkette. Vom Aussehen des im Norden dieser Kette liegenden Landes wissen wir rein gar nichts, aber daß sie keine Wasserscheide zwischen dem Plateau und dem Meere sein kann, ist offensichtlich und zeigt sich schon an dem Quertal des Kamtschung-tschu.
Nachdem wir den Fluß zweimal auf porösen Eisbrücken überschritten hatten, lagerten wir bei einer großen Schafhürde, wo eine Menge Dung lag. Die letzten Nomaden hatten uns gesagt, daß wir heute an ein großes Zelt gelangen würden; darin wohne ein einflußreicher Mann namens Kamba Tsenam, der 1000 Yaks und 5000 Schafe besitze. Er wird also unser nächster kritischer Punkt sein. Wenn wir nur erst an ihm vorüber sind, liegt das Land bis Raga-tasam ziemlich offen vor uns. Es ist ein schönes Gefühl, heute wieder 13,3 Kilometer zurückgelegt zu haben, ohne behelligt worden zu sein. Aber wie wird es mir morgen ergehen – das ist die Frage, die ich mir allabendlich vorlege! Allerdings hat es sein Gutes, Schleichwege zu gehen, wo man sich den Beobachtern entziehen kann. Doch wenn irgendein geriebener Gova oder gar der Gouverneur selbst zufällig von uns hören sollte, muß gerade dies ihn argwöhnisch machen; er wird es sonderbar finden und eine peinliche Untersuchung anstellen. Jetzt sind die Salzkarawanen, an denen wir vorübergekommen sind, bereits in Saka-dsong angelangt; allerdings befinden wir uns schon östlich von diesem Ort, aber wir reisen so langsam, daß wir einem militärischen Aufgebot unmöglich entwischen können. Mit jedem Tag wird meine Aufregung größer. Ich bin nun dieser selbstverschuldeten Gefangenschaft gründlich überdrüssig und sehne ihr Ende herbei. Aber was dann? Ja, das weiß ich nicht. Ich bin so weit vorgedrungen, daß wir einer Krisis nicht mehr entgehen können. Die Linie quer durch Bongba hindurch habe ich mir ja erobert, meine nächsten Zukunftspläne aber sind mir noch sehr unklar, alles wird von den Umständen abhängen müssen. –
Der 22. April war einer jener ungemütlichen Tage, an denen man fühlt, daß die entscheidende Krise einen großen Schritt näher kommt. Abdul Kerim, Kuntschuk und Gaffar brachen zuerst auf; um Kamba Tsenams Aufmerksamkeit durch einen Besuch abzulenken, wollten sie bei ihm Lebensmittel und Pferde kaufen. Dann machten wir uns auf den Weg und gingen auf knackenden Eisbrücken zweimal über den Fluß, blieben dann auf dem Nordufer und gelangten an ein Nebental, in dessen Eingang drei Zelte standen. Hier hatten auch die Unseren inmitten einer Gruppe Tibeter, die ihnen Pferde vorführten, haltgemacht. Gulam hatte mir rechtzeitig einen Wink gegeben, so daß ich unbemerkt hatte absteigen können, und nun ging ich als Treiber mit unseren letzten Eseln. Sobald eine Uferterrasse uns wieder verdeckte, konnte ich wieder reiten. Lange währte die Freude aber nicht, denn beim nächsten Nebental auf der Nordseite mußte ich eines neuen Zeltes wegen wieder absteigen, während eine Schar bissiger Hunde von Takkar und Klein-Puppy empfangen wurde; Klein-Puppy – man denke sich – wollte uns verteidigen, mußte aber im Nacken gepackt und in Sicherheit gebracht werden. Hier verließen wir Kutus und Tubges, die bei dem Zelt blieben, und setzten nun, so dezimiert, unsern Weg nach Osten fort.
An einem Bergvorsprung auf der Nordseite des Tales lagen zwei schöne Manis und neben dem einen war eine Wimpelstange errichtet. Schon seit acht Uhr fiel sehr dichter Schnee, aber das Tal war so eng, daß wir trotzdem nicht ungesehen an allen Zelten vorbeigelangen konnten. Gerade bei jenem Vorsprung mündet ein ansehnliches Tal von Norden her in das unsere ein – man ahnte es mehr, als daß man es sah, denn das Schneetreiben verhüllte alles. Gulam ging ein wenig voraus und gab mir das Zeichen, abzusteigen. Unmittelbar diesseits des vorspringenden Berges lagen vier Zelte, eine kleine Steinhütte, vor der ein Mann stand und uns angaffte, und ein Häuptlingszelt von so kolossalen Dimensionen, daß ich seinesgleichen noch nie gesehen hatte – es war so groß wie ein Haus. Hier verloren wir Lobsang und Abdul Rasak aus den Augen, und noch mehr dezimiert, zogen wir ostwärts weiter. Die Hauptmasse des Gäbuk-tschu kommt aus dem nördlichen Tal; in unserm Tal, das uns, wie wir wußten, nach dem Gäbuk-la hinaufführte, floß jetzt nur noch ein Bach. Auf der Terrasse, im Eingang eines nördlichen Nebentales, schlugen wir unsere Zelte auf. Das ganze Land war kreideweiß, und von der nächsten Umgebung sahen wir überhaupt nichts.
Unsere drei Zelte standen, wie immer, dicht nebeneinander; meines mit der Öffnung talaufwärts, nach Osten. Nach und nach trafen die Nachzügler ein und erstatteten mir der Reihe nach Bericht. Sie hatten auf zwei Tage Lebensmittel erstanden und erfahren, daß die Gegend Gäbuk-jung hieß. Morgen würden wir über den Gäbuk-la gehen und am Fuß des Kintschen-la lagern, von dessen Paßhöhe wir am nächsten Tag dann Raga-tasam sehen könnten. Natürlich war es riskant gewesen, daß drei Partien der Unseren auf einmal drei so dicht nebeneinander liegende Zelte besucht hatten, denn die Tibeter fragten stets nach unseren Wegen und Plänen, und unsere Leute konnten im Eifer des Gespräches einmal verschiedene Antwort geben. In dem großen Zelt war Lobsang aufs Glatteis geführt worden, hatte aber dreist geantwortet, wir kämen vom Gertse Pun und dieser habe uns geraten, die Nebenstraße zu wählen, weil man auf ihr Raga-tasam zwei Tage früher erreiche als auf dem Weg über Saka-dsong. »Sehr richtig«, hatten die Tibeter geantwortet und ihn wieder vor Räubern gewarnt, da dreizehn Ladakis nur ein Bissen für eine ordentliche Bande seien und die ganze Gegend unsicher sei. »Ein Glück, daß ihr gute Waffen habt«, hatten sie gesagt.
Schließlich stellte sich auch Abdul Kerim mit seinen Einkäufen ein. Er hatte erfahren, daß alle Zelte, die wir heute gesehen hatten, dem Kamba Tsenam gehörten, der selber in dem großen Zelt wohne, aber gegenwärtig in Saka-dsong sei, wo eine Versammlung wegen des bevorstehenden Besuches eines hohen chinesischen Beamten stattfinden und entschieden werden solle, was für ein Geschenk man ihm bei der Ankunft überreichen wolle. Kamba Tsenam besitze 35 Pferde, die jenseits des Gäbuk-la weideten; wenn der reiche Nomade heute abend zurückkehre, würden wir ganz gewiß einige von ihm kaufen können.
»Ihr sagt,« hatte ein älterer Mann in Kamba Tsenams Diensten geäußert, »daß ihr ein Tsongpun (Kaufmann) aus Ladak seid. Weshalb zieht ihr denn aber auf diesem gefährlichen Schleichweg durch das Land? Hier findet ihr doch keine Handelsgelegenheit? Wie habt ihr euch überhaupt hierhergefunden? Warum reist ihr gerade im Winter? Und weshalb fragt ihr nach den Namen der Täler?«
»Ich muß mir alle die Namen aufschreiben,« hatte Abdul Kerim geantwortet, »um im Sommer wieder denselben Weg finden zu können, da ich dann in allen diesen Tälern Wolle aufkaufen soll.«
»So, das ist schön; ihr könnt dann bei uns die Wolle einiger Hundert Schafe bekommen. Ich werde euch morgen einen Führer mitgeben; ihr müßt ihm eine Rupie für zwei Tage bezahlen. Ohne ihn findet ihr den Weg über den Gäbuk-la nicht, am allerwenigsten jetzt, wo Schnee den Erdboden bedeckt.«
Abdul Kerim hatte ihm für seine Freundlichkeit gedankt und sich dann entfernt, um mich aufzusuchen. Wir hielten gerade weisen Rat, als zwei mit Flinten bewaffnete Reiter auf unsere Zelte lossprengten. Sie waren schon dicht bei uns, als sie aus dem Schneenebel erst auftauchten. Wir konnten nur gerade noch mein Zelt zumachen und Takkar vor dem Eingang anbinden. Der ältere Mann war Abdul Kerims Freund aus dem großen Zelt, der andere ein Jüngling, der uns als Führer angeboten wurde. Sie banden ihren Pferden die Vorderfüße zusammen und gingen ganz ungeniert in Abdul Kerims Zelt hinein. Hier nahmen sie Platz, plauderten wohl eine Stunde mit dem Karawanenführer und boten ihm einen großen hübschen Schimmel für 127 Rupien an. Abdul Kerim kaufte ihn, worauf sie ihn fragten, wieviel Geld er bei sich habe und ob er nicht fürchte, überfallen zu werden. Dann gingen sie einmal um die Zelte herum und sahen sich unser Lager an; als sie endlich mit dem einen Pferd im Schneetreiben verschwanden, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus.
Nun berieten wir wieder über die Lage. Wenn wir für den Führer dankten, würde ein solches Ablehnen sehr verdächtig aussehen, da der Schnee bereits fußhoch lag und der Saumpfad, das einzige, wonach wir uns richten konnten, verschneit war. Aber noch gefährlicher war es, zwei Tage und eine Nacht einen Fremden, einen Spion, in der Karawane und in den Zelten zu haben. Als Kutus und Sedik eine Weile später nach dem großen Zelt zurückgingen, um saure Milch zu holen, wurde ihnen also aufgetragen, dort zu sagen, daß unser »Tsongpun« den Führer nicht haben wolle, weil wir wahrscheinlich entweder hier oder im nächsten Lager einen Tag liegen bleiben würden. »Euer Tsongpun redet mit zwei Zungen, er weiß selbst nicht, was er will«, hatte der Mann geantwortet.
Ehe noch die Sonne am 23. April aufging, brachen wir von dieser kritischen Stelle auf; ich ging mit den Schafen voraus, um schon fort zu sein, falls unsere Nachbarn uns etwa einen Morgenbesuch abstatten sollten. Die Luft wurde klarer, und die Sonne zeigte sich wieder; der frisch gefallene Schnee verdunstet dann schnell. Weiter oben bedeckte eine zusammenhängende Eisscholle den ganzen Talgrund. Vor uns war der Paß Gäbuk-la sichtbar. Dort ging ein kleiner alter Mann und trieb zehn Stuten vor sich her. Er tat, als sehe er uns nicht, wurde aber bald von Abdul Kerim und Kuntschuk eingeholt, die ihm dann fast den ganzen Tag über Gesellschaft leisteten. Mit Lobsang rastete ich eine halbe Stunde auf dem Paß, dessen Höhe 5175 Meter beträgt. Nach Osten und Südosten hin hatten wir wieder ein Gewirr von Bergen und Tälern; ohne den so glücklich gefundenen Pferdetreiber wäre es uns einfach unmöglich gewesen, den Weg über die Reihe einander folgender kleiner Schwellen zu finden. Im Südsüdosten erhob sich im Sonnenglanz das Schneemassiv des Tschomo-utschong; im Norden hatten wir einen mächtigen Kamm, den ich, wie Ryder, für den Hauptkamm und die Wasserscheide des Transhimalaja hielt; dies erwies sich später aber als Irrtum.
Der Pferdetreiber führte uns auf eine Schwelle zweiter Ordnung, an deren östlichem Fuß sich ein tief eingeschnittenes Tal hinzieht; es kommt von N 10° O und ist der obere Teil des Tales, durch das ich im vorigen Jahr gezogen bin und das bei Basang mündet, wo ich Muhamed Isa zum letztenmal unter den Lebenden sah. Hier hatte der Pferdetreiber sein Zelt. Um ihn über Nacht nicht als Nachbarn zu haben, zogen wir weiter, nachdem er uns den Weg gezeigt hatte. In einer kleinen Talmündung auf dem nach dem Kintschen-la hinaufführenden Weg stand unser Lager 390, wo uns ein wahnsinnig dichtes, anhaltendes Schneetreiben überfiel.
Der Führer, der sich so glücklich im richtigen Augenblick gefunden, hatte den Unsern erzählt, er sei Kamba Tsenams Bruder und ein großer Yaktöter. Im vorigen Jahr habe er in Saka-dsong einen Europäer gesehen, dessen Karawanenführer, ein großer, starker Kerl, sich überall, wo er sich gezeigt, Respekt verschafft habe. Doch plötzlich sei dieser kräftige Mensch in Saka gestorben, und seine Kameraden hätten ein längliches Loch in die Erde gegraben, in das er hineingesteckt worden sei. Er finde es seltsam, daß Ladakis, die doch denselben Glauben hätten wie die Tibeter, mit den verhaßten Europäern zusammenreisen und ihnen sogar dienen könnten! –
Ich beschloß, unsere Vorsichtsmaßregeln künftighin noch mehr zu verschärfen. Zwei oder drei Ladakis sollten stets eine dunkle Brille tragen, damit ich mit der meinen nicht gar zu sehr gegen die anderen abstäche. Sobald wir wollenen Stoff kaufen könnten, sollten alle andern neue Anzüge erhalten, damit ich mit meinem zerlumpten wie der ärmste und geringste unserer ganzen Gesellschaft aussähe!