Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mitten in der dunkeln Nacht weckte mich ein entsetzlicher Spektakel, ein Klosterhund war unter die Bootshälfte meiner Leute gekrochen, um zu mausen, trat aber dabei zufällig Schukkur Ali auf den Hals und erhielt Prügel. Die Temperatur ging auf +3 Grad herunter. Bei Sonnenaufgang kam Rabsang angeritten. Die Meinigen hatten gefürchtet, daß wir in den Wellen umgekommen seien; er brachte neuen Proviant und ein Postpaket von Thakur Jai Chand, dem britischen Handelsagenten in Gartok, der sich augenblicklich in Gyanima, wo die Jahresmesse stattfand, aufhielt. Er schrieb mir, daß Oberst Dunlop Smith ihn am 27. Juni beauftragt habe, zu versuchen, Nachricht von mir zu erhalten. Guffaru habe seinen Auftrag gut ausgeführt, meine ganze Bagage sei in Gartok in guter Hut und meine umfangreiche Post nach Simla abgeschickt worden. Von Mr. Sherring, der vor einigen Jahren eine Reise nach dem Manasarovar gemacht hatte, erhielt ich einen sehr liebenswürdigen Brief; er hatte auch die große Freundlichkeit, mir sein interessantes Buch über Westtibet zu schicken, während seine Gattin mich mit einem ganzen Paket englischer und französischer Zeitschriften überraschte, einer Lektüre, die mir um so willkommener war, als ich die reichhaltige Bibliothek, die mir O'Connor (Abb. 245) geschenkt hatte, längst ausgelesen und in alle vier Winde zerstreut hatte. Es war ganz eigentümlich, gerade an dem Ort, wo ich Schiffbruch gelitten hatte, so unvermutet wieder mit der Außenwelt in Berührung zu kommen.
245. Major W. F. O'Connor.
Englischer Handelsagent in Gyangtse, gegenwärtig Konsul in Seistan.
Seltsam und warm berührte mich Rabsangs mündliche Mitteilung, daß die Mönche in Tugu-gumpa, als sie das Unwetter über unserem zerbrechlichen Boot losbrechen sahen, Weihrauch vor dem Bild des Seegottes angezündet und ihn angefleht hatten, uns aus den Armen der Wellen zu reißen! Keiner habe sie darum gebeten, sie hätten es aus eigenem Antrieb getan. Sie hatten gesagt, es wäre zu bedauern, wenn wir verloren gingen; sie hatten ein Herz und waren nicht so kalt, als man hätte glauben können. Wenig Sympathiebeweise haben mich so gerührt wie dieser.
In Begleitung Rabsangs stieg ich dann am frühen Morgen den gewundenen Pfad, der nach dem Kloster führt, hinauf. An den Biegungen und auf Vorsprüngen stehen würfelförmige Tschorten und Votivmale, hier und dort flattert ein Wimpel an einem Maste. Eine »Tsamkang«, eine Eremitenwohnung, hängt über einer Grotte, die dadurch entstanden ist, daß vor elf Jahren ein gewaltiges Stück aus der Wand der Geröllterrasse fiel. Ich konnte den Mönchen sagen, daß sie sich auf den Grund, der Gossuls Kloster trägt, nicht gar zu fest verlassen sollten. Sie rechnen zwar auf die Seelenwanderung Millionen Jahre, ihre irdischen Behausungen aber sind nicht für die Ewigkeit erbaut. Sie erwiderten jedoch sehr ruhig, daß das Kloster hier schon 100 Jahre gestanden habe und sicherlich noch so lange stehen werde, als sie dort lebten. Denn im allgemeinen wechseln die Mönche alle drei Jahre und kommen aus dem Kloster Schibeling in Purang, von dem sie auch ihren Unterhalt beziehen, hierher. Es sind ihrer nur drei, aber ich sah auch vier Novizen, sieben, neun, zehn und elf Jahre alt, die so flink wie Mäuse überall umherliefen und die Mönche bedienten (Abb. 264). Ihre Mutter, eine Nonne aus Purang, wohnt auch im Kloster. Sie war verheiratet gewesen, ehe sie »den Schleier nahm«, da ihr Mann aber starb, schenkte sie sowohl sich selbst, wie alle ihre Kinder der Kirche. Später erfuhr ich, daß der eine »Junge« ein Mädchen war. Sie sahen einander so ähnlich, daß ich sie nicht unterscheiden konnte; zuerst waren sie blöde und ängstlich, aber nachdem sie einige Silbermünzen erhalten hatten, wurden sie schnell zutraulich. Sie sahen für ihr Alter klein und verschrumpft aus, aber der Abt sagte, sie hätten sich so über den Tod ihres Vaters gegrämt, daß sie dadurch im Wachstum zurückgeblieben seien. Beinahe den ganzen Tag sah man sie vom See Wasser in Tonkrügen heraufschleppen, die sie in einem Korbe tragen, dessen Riemen sie sich über die Stirn legen; sie tragen also mit dem Kopf und den Halsmuskeln, die sich dadurch so entwickeln, daß der Körper im Verhältnis zu klein erscheint. Aber sie erhalten auch Unterricht und machen ihre ersten unsicheren Schritte auf dem Gebiete der Weisheit; der älteste soll schon ziemlich viel gelernt haben.
264. Klosternovizen.
Skizzen des Verfassers.
Ich ging in den Tempel und studierte ihn recht gründlich – ich blieb über zwölf Stunden da, zeichnete, nahm Messungen vor, erkundigte mich nach allem möglichen und machte Aufzeichnungen. Alles ist hübsch, interessant und gut erhalten; das Lhakang gleicht einem alten Waffensaal, einem Museum voll seltener, schöner Sachen, die von großer Kunstfertigkeit zeugen und mit unendlicher Geduld und wirklichem Geschmack zusammengesetzt, geschnitzt, modelliert und gemalt sind. Der von acht Säulen getragene Saal hat zwei rote Diwans, eine vergoldete Bronzestatue Buddhas und eine Menge anderer Götterstatuen, in Gestellen hängende Trommeln, lackierte Tischchen mit den gewöhnlichen religiösen Geräten und eine große Anzahl Opferschalen von blankstem Messing und ungewöhnlicher, geschmackvoller Form. Auf beiden Seiten der Säulen hängen kulissenartig je vier Reihen »Tankas«, die so lang sind wie Standarten und Siegesfahnen, aber so, daß sie das Tageslicht nicht hindern, auf den Gesichtern der Götter zu spielen. In einer Ecke schimmert wohl eine schwedische Fahne hervor? Ach, es ist nur eine blau und gelbe »Tanka«, aber auf mich wirkt sie doch wie eine Erinnerung an die goldene Zeit unserer Siege und unseres Ruhmes.
Das Lhakang in Gossul ist nach einem anderen Plan gebaut als die gewöhnlichen: ihm fehlt das Oberlicht, und es hat statt dessen drei Wandfenster in der dem See zugekehrten Fassade. Aber die Götter sehen den heiligen See nicht, denn die Fenster sind über einem Gitterwerk von Holzrippen mit Papier verklebt. Weshalb sie die herrliche Aussicht sperren und das Tageslicht ausschließen? Um die drinnen herrschende mystische Götterdämmerung zu verstärken und bei den Pilgern, die halbgeblendet aus dem hellen Tageslicht hereinkommen, größere Ehrfurcht zu erwecken, und damit man nicht sehe, daß das Gold nur vergoldetes Messing ist und die Spuren des Pinsels und Meißels nicht so profan deutlich hervortreten. Je ärmer ein Kloster ist, desto dunkler sind seine Tempelsäle; die Dunkelheit verdeckt die Armut und hilft den Mönchen, den Gläubigen zu imponieren.
Somtschung heißt eine kleine Tempelkammer, die nicht größer ist als eine Kajüte. Auf dem Diwan sind Kissen und Tücher im Kreise aufgestapelt, so daß sie zwei Nester bilden, in denen zwei Mönche während des nächtlichen Gottesdienstes sitzen. Vor der Statue Schakyamunis stehen auf dem Altartisch 40 mit Wasser gefüllte Silberschalen und auf einem anderen Tisch in einer silbernen Kanne einige Pfauenfedern, mit denen man unter dem Ausruf » Om a hum!« die Götter mit Weihwasser besprengt.
In früheren Zeiten hausten hier Räuber und Wegelagerer, die ihre Schlupfwinkel in den Grotten unter dem Kloster hatten. Von dort aus überfielen sie die wandernden Pilger und töteten viele. Da offenbarte der Gott des Tso-mavang sich dem Dschimpa Ngurbu, einem edlen Lama, und befahl ihm, das Kloster zu erbauen, damit es als eine feste Burg den Pilgern Schutz gewähre und die Götter ehre. Sicher ist die Gegend aber auch jetzt nicht. Im vorigen Jahre waren zwei Schurken, welche die Nomaden geplündert hatten, gefangen und hingerichtet worden, und wir selber sahen zehn mit Flinten bewaffnete Gurkhas, die an uns vorbeiritten und versuchen wollten, eine Räuberbande ausfindig zu machen, die ihre Pferde und Schafe geraubt hatte.
Die Mönche erzählten, der See friere gewöhnlich im Januar zu; bei stürmischem Wetter breche das Eis zwar wieder auf, aber wenn das Wetter ruhig und scharfer Frost sei, friere der ganze See an einem einzigen Tage zu und ebenso breche er auch, wenn Sturm herrsche, an einem einzigen Tage wieder auf. Leider sind die Aufklärungen, die man über den Wasserstand und den Abfluß erhält, sehr unzuverlässig und widersprechend. Ein 35jähriger Lama, der sich jetzt hier aufhielt, hatte schon als Kind am Tso-mavang gelebt. Er erinnerte sich noch sehr gut der Zeit, als so viel Wasser aus dem See nach dem Rakas-tal geströmt sei, daß ein Reiter nicht ohne Gefahr durch den Flußarm, der Ganga geheißen, habe reiten können. Nun aber seien schon neun Jahre vergangen, seit dieser Kanal aufgehört habe überhaupt Wasser zu führen. Man zeigte mir, wo die Uferlinie sich im vorigen Herbst hingezogen hatte, nämlich fünf Klafter weit seeeinwärts, so daß der See damals 57 Zentimeter höher gewesen ist. Man zeigte auch einen gelben Steinblock, bis wohin das Wasser vor zwölf Jahren gereicht haben sollte, welcher Punkt 3,15 Meter über dem jetzigen Spiegel des Sees lag. Ein Fallen in solchem Tempo ist indessen unwahrscheinlich, wenn auch diese Angabe mit der, die ich in Tugu-gumpa erhalten hatte, so ziemlich übereinstimmte. Die Schwelle der einen Grotte lag jetzt 6,88 Meter über dem Wasser, die der anderen, 36,7 Meter vom Ufer entfernten, 5,75 Meter über dem Wasser. Man sagte mir, daß, als das Kloster vor 100 Jahren erbaut worden sei, der See bis an diese beiden Grotten gereicht und nur einen schmalen Strandweg, der zu den Grotten führte, freigelassen habe. Die Zeitbestimmungen der Tibeter sind jedoch außerordentlich unklar, und um zu sicheren Schlüssen zu gelangen, müssen wir uns an die Angaben halten, die europäische Reisende gemacht haben. Darüber werde ich später ein paar Worte sagen. Als ich einen der Mönche fragte, wo denn all das Wasser bleibe, das sich in einer Menge Bäche und Flüsse in den Tso-mavang ergieße, antwortete er:
»Wenn es auch noch so sehr regnet und wenn alle Zuflüsse zum Überlaufen anschwellen, ist dem See doch nichts anzumerken, weil ebensoviel Wasser austrocknet wie hineinfließt. In unseren heiligen Büchern steht geschrieben, daß, wenn auch alle Zuflüsse versiegen, der See doch nie sinken und nie verschwinden wird, denn er ist ewig und die Wohnstätte hoher Götter. Jetzt aber sehen wir mit eigenen Augen, daß seine Oberfläche immer mehr sinkt, und verstehen nicht, was dies zu bedeuten hat.«
Folgendes Merkzeichen kann irgendein künftiger Forschungsreisender benutzen: der untere Rand der massiven Holzschwelle des Hauptportals in der Fassade von Gossul-gumpa lag am 8. August 1907 gerade 37,40 Meter über dem Spiegel des Sees, wie ich mit Hilfe des Nivellierspiegels festgestellt habe.
Wir stiegen auf das Dach des Klosters Gossul-gumpa. Es ist flach, wie die meisten Klosterdächer, hat einen Rauchfang, eine Brüstung und Wimpel. Keine irdische Sprache verfügt aber über Worte, die fähig wären, die Aussicht, die man von hier aus über den See hat, zu beschreiben. Sie war freilich ungefähr dieselbe, die ich schon von andern Punkten des Ufers aus gesehen hatte, aber die Beleuchtung war so zauberisch und das Farbenspiel so wunderbar, daß man sein Herz schneller schlagen fühlte, wenn man aus dem Dunkel der Tempelsäle auf die freie Dachplattform hinaustrat. Tundup Sonam sagte in seiner einfachen Weise, der See und die ihn umkränzenden Gebirge sähen aus wie der Himmel mit seinen leichten Wölkchen. Auch ich selber wurde das Opfer einer Täuschung, die mich beinahe nach der schützenden Brüstung greifen ließ. Ich fragte mich, ob es wohl ein Schwindelanfall sei? Ich hielt nämlich den Gebirgsrahmen am Ostufer für einen Streifen leichter Wölkchen und die Oberfläche des Sees für einen Teil des Himmelsfeldes. Der Tag war vollständig windstill und der See wie ein Spiegel, in dem sich der Himmel beschaute; beide hatten genau dasselbe Aussehen und dieselbe Farbe, und die Gebirge, die infolge der Entfernung zu einer etwas dunkleren Nuance verschmolzen, glichen einem Wolkengürtel. Die Luft war nicht klar, alles trat in matten, gedämpften Tönen hervor, von Farben konnte man kaum reden, Himmel, Erde, Wasser, alles war grau mit einem Stich ins Blaue, ein Märchenland aus Glas mit Dekorationen von weißer Gaze, gesehen durch einen dünnen, blauen, berauschenden, vom Altar des hohen Seegottes aufsteigenden Weihrauchschleier!
Wo ist die Erde geblieben, wenn alles aus Himmel und Wolken besteht?! Total behext sind wir ja nicht, denn wir stehen auf dem Dach des Klosters und lehnen an seiner Brüstung. Was vor uns schwebt, ist ein Traumbild in verschwindenden leichtesten Tönen. Wir scheinen auf einem Vorgebirge zu stehen, das hinausragt in den unendlichen Weltenraum, der unter uns und vor uns gähnt. Und wo ist nun der heilige See, der uns gestern beinahe das Leben gekostet und auf dem es so gestürmt hat, daß ich noch jetzt den Boden unter den Füßen schwanken fühle? Hat sich das Kloster Gossul durch eine göttliche Laune in ein Luftschiff verwandelt, das mit uns nach einem anderen Planeten fährt? Regungslos hängen seine Wimpel an ihren Stangen, von Gebirgen, Land und Erdboden ist nichts zu sehen.
»O doch, wenn Sie sich ein bißchen über die Brüstung beugen«, sagt ein Mönch lächelnd. Ja freilich! Da verschwand die Illusion, und ich vermißte sie schmerzlich; ich hätte gern noch eine Weile unter ihrem Zauber geträumt. Gerade unter uns zieht sich der schmale Uferstreifen mit seinem schwarzen Ton- und Algendamm, seinen länglichen Lagunen hin. Durch das kristallklare Wasser sehen wir den gelbgrauen Lehm auf dem Seegrund, den dunkeln Algengürtel und die dann folgenden dunkeln großen Tiefen. Es ähnelt einem gewaltigen, mit einer Spiegelglasscheibe bedeckten Aquarium. Zwei Gänseschwärme schwimmen auf dem Wasser und rufen pfeilförmige Wellensysteme hervor. Und die Möwen und Seeschwalben sieht man wirklich aus der Vogelperspektive. Alles ist so unbeschreiblich still, so duftig, durchsichtig und flüchtig, so fein und empfindlich, daß man kaum zu atmen wagt. Nie hat ein Gottesdienst, ein Hochzeitsmarsch, eine Siegeshymne oder eine Beerdigung einen mächtigeren Eindruck auf mich gemacht!
Sollte mein Geschick mich zwingen, mein Leben in einem der Klöster Tibets zu verbringen, so würde ich ohne Besinnen Gossul-gumpa wählen! Dort würde ich an festen Merkzeichen die Oszillationen des Seespiegels und den Jahreslauf der Temperaturkurve beobachten. Wie ein Wächter würde ich dort oben sitzen und über den See blicken und sehen, wie sich in den zwölf Monaten sein Antlitz mit jeder Stunde verändert. Ich würde dem Heulen der Herbststürme lauschen, an windstillen Novembertagen aber beobachten, wie der Streifen Ufereis von Tag zu Tag Terrain gewönne, wenn auch nur, um im Laufe des Tages wieder zu schmelzen. Immer mehr würde der Eisring sich der Mitte des Sees nähern, aber von neuen Stürmen immer wieder zerstört werden und seine Fesselungsarbeit von frischem beginnen müssen. Und endlich an einem Januartag, wenn die Wassermenge durch und durch abgekühlt wäre und kein Wind in der Luft herrschte, würde ich den Gott des Tso-mavang ein hellklingendes Glasdach über sein grünes Schloß spannen sehen. Winterstürme bestreuten es dann mit weißem Puder und jagten den wirbelnden Schnee in dichten Wolken über das Eis, dessen dunkelgrüne, glatte Bahn nur noch hier und da hervorschimmerte. Und an windstillen Tagen läge der See dann wie eine weiße Ebene tot und einsam unter seinem Leichentuch, und ich säße an der Bahre meines Freundes und sehnte mich nach dem Frühling! Vergeblich kämpfen dann wieder die ersten Frühlingsstürme mit der Festigkeit des Eises, es leistet tapferen Widerstand, aber schließlich kommt die Sonne den Winden zu Hilfe und macht das Eis brüchig und morsch. Nach allen Richtungen entstehen Rinnen und Waken, und der nächste Sturm, der über den See eilt, duldet keinen Widerstand mehr; er wälzt die Eisschollen beiseite, türmt sie wie Steinmale aufeinander, treibt sie nach den Ufern hin, jagt Sturzseen über sie hinweg und zwingt sie, einander in der rollenden Dünung zu zernagen, sich zersplittern, pulverisieren und zu Wasser schmelzen zu lassen. Dann würde ich mich über den Sieg des Sturmes, die Befreiung des Tso-mavang und sein Wiedererwachen zum Leben freuen und würde wieder dem Lied der Wellen und dem Schreien der Wildgänse lauschen! –
Vielleicht ist nur während einer einzigen Stunde des Jahres die Stimmung möglich, in der ich an der Brüstung Gossuls stand. Diese Stimmung erfordert eine bestimmte Temperatur, einen bestimmten Prozentsatz an Feuchtigkeit, Windstille, vorhergegangenen Regen und eben beendeten Nordoststurm. Wie selten werden alle diese Bedingungen zugleich erfüllt sein? Höchstens einmal im Jahr, und gerade in dieser Stunde, der Stunde aller Stunden stand ich auf dem Tempeldach und sah den blauen See von seinem Spiele ausruhen.
Wunderbarer, hinreißend bezaubernder See! Schützling der Sage und der Legende, Tummelplatz der Stürme und der Farben, Augapfel der Götter und der Menschen, Ziel der Sehnsucht müder Pilger, heiligster und herrlichster aller Seen der Erde, so bist du, Tso-mavang, der See aller Seen! Mittelpunkt der Protuberanz des alten Asiens, zwischen deren Bergriesen vier der berühmtesten Flüsse der Erde, der Brahmaputra, der Indus, der Satledsch und der Ganges, ihre Quellen haben; umgeben von einer Welt von Bergen, von denen der Kailas der berühmteste der Welt ist, denn er ist Hunderten von Millionen Hindus heilig. Zentrum eines Kranzes von Klöstern, auf deren Dächern jeden Morgen die Stöße des Muschelhorns über den See hinschallen, sobald die Sonne aufgeht; Achse und Scheibe des Rades, das ein Bild des Lebens ist und dessen Kreis die Pilger auf dem befreienden Wege nach dem Land der Vollkommenheit umwandern. Das ist der Manasarovar, die Perle aller Seen der Erde! Schon zu uralten Zeiten, als die Vedabücher geschrieben wurden, haben seine blauen Wogen im Lauf der Jahrhunderte unzählige Scharen gläubiger Hindus und Tibeter an seine Ufer kommen sehen, um dort zu trinken, zu baden und Ruhe für ihre Seele zu finden. Es gibt gewiß schönere Seen auf Erden. Der Nachbar im Westen, der Langak-tso, ist zum Beispiel malerischer. Aber es gibt keinen, der mit der Naturschönheit eine solche Macht über das Glaubensleben, die Geisteswelt der Menschen verbindet, wie dieser. Daher liebt man auch das Rauschen seiner Wellen mehr als das anderer und bleibt nur zu gern lange an seinen Ufern. Und wenn man droben auf dem Klosterdach steht, während die ganze Umgegend in Schweigen versunken ist, dann glaubt man unzählige herannahende Wanderer zu hören, das Echo ihrer stolpernden Schritte auf dem heiligen Pfade um den See. Und man wirft einen verstohlenen Blick in die Nacht verronnener Jahrhunderte, von deren Sehnen und vergeblichem Suchen nach einer eingebildeten Seligkeit nichts übrig geblieben ist. Aber der Tso-mavang ist derselbe geblieben, der er schon damals war, und sein azurblaues Auge sieht immer neue Geschlechter in die Spur der alten treten.
Nach einer solchen Stunde erscheint alles andere alltäglich; erst als das Abendrot mit seinem Purpurschein den See überflutete, konnte ich wieder nach meinem Lagerplatz am Ufer hinabgehen. Noch einmal wandte ich mich dem Tso-mavang zu und rief ein lautes, gedehntes » Om a hum!« Rabsang sprach nicht, aber ich konnte ihm ansehen, daß er sich fragte, ob ich der jüngste Adept der lamaistischen Kirche geworden sei. Um so mehr, als ich von Anfang an darauf bestanden hatte, daß wir die Wanderung um den See in orthodoxer Richtung machten: südwärts auf dem Ostufer und nordwärts auf dem Westufer.
Drunten waren im Sande noch die Spuren von 120 Yaks zu sehen, die am Morgen mit Ziegeltee beladen nach Norden gezogen waren. Ein alter Hindu, der seine Umwanderung des Sees in derselben Richtung wie die Tibeter ausführte, bat, bei uns lagern zu dürfen, weil er sich vor Räubern fürchte; wir bewirteten ihn mit Tee, Brot und Tabak, wogegen er uns bat, eine Handvoll Reis anzunehmen. Seltsamerweise scheinen auch die Hindupilger Ehrfurcht vor den lamaistischen Klöstern zu hegen. Wenigstens sah ich, daß sie sich in Tugu-gumpa vor den lamaistischen Göttern verneigten und eine Handvoll Reis in die Schale legten, die ein Mönch ihnen hinhielt.
Nach nur 6,6 Grad in der Nacht erschien die Morgenluft ordentlich warm. Eine frische östliche Brise rief merkbaren Seegang hervor, und die Wellen hatten sonnenbeglänzte Schaumköpfe, aber der Tag war herrlich, man freute sich seines Lebens und ich sehnte mich wieder auf den See hinaus. Der alte Hindu erklärte, daß er beschlossen habe, seine Wanderung aufzuschieben und mich im Boot zu begleiten! Aber ich versicherte ihm, daß wir beschlossen hätten, keinen unnötigen Ballast mitzunehmen. Als wir in der Uferbrandung nach dem an der alten Feuerstelle leicht erkenntlichen Lager Nr. 213 hinruderten, begleitete er uns aber am Ufer, und als wir von dort seewärts steuerten, gerade auf Tugu-gumpa los, das wie ein weißer Punkt im Südosten sichtbar war, war der Mann so erpicht mit uns zu kommen, daß er ins Wasser lief, bis es ihm bis zur Mitte des Körpers reichte; erst da kehrte er wieder um. Er war wohl ein bißchen verrückt; den ganzen Abend hatte er Unsinn geredet, obwohl ihm keiner zugehört hatte.
Die neue Lotungslinie hatte die Nummer vier auf meiner Karte des Sees, ihre größte Tiefe betrug 76 Meter. Beim neunten Lotungspunkt verwickelte sich leider die Lotleine in die rote Metallscheibe des Strommessers. Diese wurde aus ihren Schrauben gehoben und ringelte sich wie ein Bumerang in seltsamen Windungen 63 Meter tief durch das kristallklare Wasser hinab, um bis zum Jüngsten Gericht im Bodenschlamm des Tso-mavang zu schlafen! Glücklicherweise war sie leicht zu ersetzen.
Als wir am Kloster landeten, waren alle die Unseren und die Mönche und Pilger am Ufer, um uns zu empfangen. Der erste, den wir aber erblickten, war der verrückte alte Hindu. Seine Landsleute hatten es für selbstverständlich gehalten, daß wir im Sturme untergegangen seien, und waren daher sehr erstaunt, uns lebendig zurückkommen zu sehen. Da ich nun aber wieder kam, meinten sie wohl, daß sie doch auch Nutzen daraus ziehen könnten und baten mich, ihnen samt und sonders neue Hosen zu schenken, ein Verlangen, das ich recht unpassend fand!
Am 10. August saß ich in meiner Zelttür und malte den Kailas in verschiedener Beleuchtung (s. bunte Tafel). Sein weißer Gipfel zeichnete sich kalt und kahl auf einem hellblauen, fleckenlosen Himmel ab, der See war intensiv und blendend marineblau. Als eine Brise über den See hinfuhr, schillerte er ganz hinten wie klarer, grüner Malachit. Nach Sonnenuntergang war der Himmel brandgelb, und der ebenso brandgelbe See spiegelte die schwarzen Umrisse der Berge in zitternden Serpentinen wider. Am Abend vorher hatte der ganze westliche Horizont in blutroten Flammen gestanden.