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Achtundsechzigstes Kapitel.
Seine Exzellenz der Gouverneur von Saka.

Am 25. April ritt die vereinigte Truppe nach dem Eingang eines Tales auf der Ostseite des Tschomo-utschong, das Radak hieß. Sechs Tibeter umgaben mich auf beiden Seiten, und unser Zug hatte infolgedessen eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Gefangenentransport. Jetzt aber brauchte ich nicht mehr abzusteigen, wenn wir an einem Zelt vorüberkamen! Zur Linken hatten wir die große, offene Ebene, in der Raga-tasam liegt. Ein Schuß hallte in der Wildnis wider. Rindor schickte zwei Reiter aus, die sich nach der Ursache erkundigen sollten. Ein Antilopenjäger! Er wurde festgenommen und erhielt Prügel, denn die Regierung hatte, auf Anregung der Geistlichkeit, allen Untertanen für die nächsten drei Jahre verboten, irgend etwas Lebendiges, außer Schafen und Yaks, zu töten. Dabei fiel mir der Vertrag ein, der Europäern während dreier Jahre jegliches Reisen in Tibet verbot!

Ich zeichnete ruhig meine Karte der Route, peilte mit dem Kompaß und zeichnete auch ein Panorama, ohne mich im geringsten zu genieren. Die Tibeter wunderten sich darüber und fragten wohl nach dem Grund, regten sich aber nicht weiter darüber auf. Ich selbst hatte daher reichlich Muße, über die Politik nachzudenken, die ich bei den Verhandlungen der nächsten Tage befolgen müsse. Ich wußte, man würde darauf dringen, daß ich durch Bongba auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war, oder auch auf der Straße, auf der ich im vorigen Jahr nach Ladak gereist war, wieder abziehen solle. Ich selbst hatte nun von Tibet genug; ich sehnte mich nach Hause und wollte namentlich zeitraubende Wege, die ich bereits kannte, vermeiden. Ich hatte daher nur den Wunsch, über Schigatse und Gyangtse nach Indien reisen zu dürfen, und wollte nur versuchen, mir die Erlaubnis zu erwirken, auf bisher unbekannten Wegen nach diesen Städten ziehen zu können. Nach der Aufregung, in der ich solange gelebt hatte, trat jetzt die Reaktion ein; ich war abgespannt, müde und gleichgültig gegen alles, außer dem geradesten Weg nach Haus! Daher schrieb ich nun einen 15 Seiten langen Brief an Lien Darin, berief mich auf sein freundliches Schreiben nach Gartok, berichtete ihm über meine letzte Reise, setzte ihm auseinander, daß keine Großmacht etwas dabei finden würde, wenn ich Tibet über Gyangtse verließe, und versprach ihm als Entgelt Mitteilungen über die Goldfundstellen, die ich gesehen, und über Maßregeln, die zur Entwicklung der Schafzucht getroffen werden könnten, da dies ja natürliche Hilfsquellen seien, die einen Aufschwung in Chinas neuester Provinz, Tibet, herbeiführen könnten. – Und ich schloß mit dem Wunsche, daß es Lien Darin stets wohlergehen und den Gräbern seiner Vorfahren immerdar Ruhe beschert sein möge.

Ich bezweifelte keinen Augenblick, daß er zu einem so billigen Verlangen seine Einwilligung geben werde, und malte mir schon im Geist die komische Szene aus, wenn ich Major O'Connor zuerst in tibetischer Verkleidung meine Aufwartung machen und ihn eine Weile anführen würde, ehe ich die Maske fallen ließe. Aber ich kann es auch ebenso gut jetzt wie später sagen, daß diese lange Epistel an Lien Darin zu den »Briefen, die ihn nicht erreichten«, gehörten, denn sie ist nie abgeschickt worden! Die Taktik des Gegenspielers stachelte mich zu einem Wetteifer an, der ihn in zwei Zügen matt machte. Seltsam, daß alles glückte! Mein Verdienst war es diesmal ebensowenig wie früher; ich war, wie immer, nur eine Marionette, und die Hand, die die Drähte regierte, schwebte oberhalb der Bahnen, auf denen die Wolken und die Sterne ziehen.

Abends besuchten mich Pemba Tsering und Kamba Tsenam und blieben lange bei mir. Jener war viel gefügiger und freundlicher als im vorigen Jahr, dieser ein großer Spaßvogel, den es gar nicht zu verdrießen schien, daß er die Gelegenheit verpaßt hatte, den Sack zuzubinden, als er mich darin hatte, und nun sehen mußte, wie die Beute anderen zufiel. Sie hatten von meinen abenteuerlichen Bootfahrten auf dem Tsomavang (Manasarovar) gehört und konnten nicht begreifen, daß ich mit dem Leben davongekommen war.

Zwei kurze Tagereisen führten uns über den Paß Kule-la und in das Tal hinunter, in dem Semoku auf dem großen Karawanenweg liegt. Hier standen zerstreut einige Zelte, während sich in einem kleinen steinernen Stationshaus der Gouverneur und sein Amtsbruder einquartiert hatten. In Tibet werden nämlich alle höheren Ämter stets von zwei Herren bekleidet; so regieren z. B. auch in Gartok immer zwei Garpuns oder Vizekönige, ein System, bei dem es darauf abgesehen ist, daß der eine den andern kontrolliert und der andere den einen anzeigt, wenn er sich eine Schurkerei zuschulden kommen lassen sollte. In Sakadsong schien jedoch der eine Statthalter zweifellos von höherem Rang zu sein als sein Kollege, wenigstens leitete er alle Verhandlungen in einer Weise, als ob er größere Machtvollkommenheit habe als der andere.

Sobald wir mit dem Aufschlagen unseres Lagers fertig waren, trat Rindor mit zwei Begleitern in mein Zelt, um mir mitzuteilen, der Statthalter erwarte mich im Stationshaus. Ich antwortete, der Gouverneur möge zu mir in mein Zelt kommen, wenn er etwas von mir wolle. Es dauerte auch nicht lange, so kam eine Männerschar über die 100 Meter, die unsere Behausungen trennten, dahergezogen. Ich ging ihnen entgegen, bat sie einzutreten und sich zu setzen, soweit Platz da sei, setzte mich selber auf mein Bett und hatte nun drei Herren vor mir, nämlich Dortsche Tsuän, den Pun oder Gouverneur von Sakadsong, Ngavang, seinen Amtsbruder, und Oang Gjä, seinen 18jährigen Sohn. Vor der Zeltöffnung drängten sich Diener, Nomaden und Soldaten bunt durcheinander.

Pun Dortsche Tsuän ist ein außergewöhnlich hochgewachsener Tibeter, 43 Jahre alt, sieht sympathisch und distinguiert aus, trägt chinesisches Seidengewand und hat ein seidenes Scheitelkäppchen auf dem Kopf, einen Zopf im Nacken und Samtstiefel an den Füßen (Abb. 279). Er ist ein wohlhabender Mann, der in der Provinz, die er als Statthalter regiert, große Herden und in seinem Heimatort Lhasa ein Steinhaus besitzt; denn er ist ein »Upa« oder Bewohner der Provinz U, deren Hauptstadt Lhasa ist. Dort wohnen auch drei seiner vier Söhne, deren einer ein junger Lama ist. Seine Frau ist seit einigen Jahren tot.

279. Dortsche Tsuän, Gouverneur der Provinz Saka, seine chinesische Pfeife rauchend.

Ngavang, der Mitgouverneur, ist ein kleiner dicker, gemütlicher Herr in tibetischer Kleidung, aber auch mit chinesischer Kopfbedeckung und einem Zopf (Abb. 328). Oang Gjä hat sich das Haar nach tibetischer Sitte frisiert, trägt keine Kopfbedeckung und ist wie sein Vater ein außergewöhnlich angenehmer, liebenswürdiger Mensch (Abb. 280).

328. Dortsche Tsuän und sein Amtsbruder Ngavang.

280. Oang Gjä, Sohn des Gouverneurs Dortsche Tsuän.
Skizze des Verfassers.

»Ich hoffe, daß Sie eine glückliche Reise gehabt und nicht zu sehr unter der Kälte gelitten haben«, begann Dortsche Tsuän.

»O, kalt ist es schon gewesen; ich habe meine Karawane verloren, unsere Kleider sind Lumpen, und unser Proviant ist zu Ende. Aber, wie Sie sehen, lassen wir uns davon nicht anfechten.«

»Während Ihres Besuches in Saka-dsong im vorigen Jahr war ich in Tsonka, aber ich erhielt über alle Ihre Bewegungen Nachricht. Sie waren damals ausgewiesen worden. Weshalb sind Sie zurückgekehrt?«

»Um mir auch die Gegenden anzusehen, an deren Besuchen man mich damals verhinderte. Es tut mir leid, daß ich Ihnen die Mühe einer Reise von Saka-dsong nach Semoku habe verursachen müssen. Ich hoffe indessen, daß wir uns bald über den Weg einigen werden, auf dem ich das Land nun verlassen muß.«

Jetzt galt es, meine Karten gut auszuspielen! Während der letzten Tage war ich ganz anderen Sinnes geworden; ich hatte mich ausgeruht, die Reaktion nach der seelischen Erregung, die eine Folge der Verkleidung gewesen war, hatte aufgehört, und ich war wieder entschlossen, noch einen Versuch zu machen, Neues zu entdecken, ehe ich über die Grenze müßte. Wohl war es mir gelungen, einen sehr wertvollen Zug quer durch Bongba auszuführen, ich war im rechten Winkel über das für Entdeckungsreisende so verlockende Wort » Unexplored« auf der neuesten englischen Tibetkarte (s. Abb. 1 im ersten Band) gegangen – ja, ich war zwischen p und l durchgezogen, so daß ich » Unexp« im Westen und » lored« im Osten meiner Route hatte! Aber zwei gewaltige Lücken des großen weißen Fleckes hatte ich unberührt lassen müssen, und ich träumte jetzt nur davon, Bongba auf noch ein paar Linien zu durchreisen! Allerdings würden vier oder fünf Monate darüber vergehen, wenn ich mit einem nördlichen Zickzackbogen nach Indien zurückkehrte, während ich, wenn ich über Gyangtse reiste, wie ich es vorher beabsichtigte, in ein paar Wochen britisches Territorium erreichen konnte. Doch wenn es mir gelingen sollte, den nördlichen Umweg zu machen, würde ich ein Material heimbringen, das die schon gemachten Entdeckungen vielleicht noch an Wert übertraf. Dortsche Tsuän aber antwortete mit unerschütterlicher Bestimmtheit:

»Hinsichtlich des Rückweges will ich Ihnen zunächst eines sagen: keinen Schritt weiter nach Osten – es kostet meinen Kopf! Hier sehen Sie die Instruktion, die ich vor zwei Tagen vom Devaschung erhalten habe. Ich werde sie Ihnen vorlesen … Im vorigen Jahr reisten Sie ohne Erlaubnis nach Nepal, nach dem Kubi-gangri, über den heiligen See, um den Kang-rinpotsche und nach Jumba-matsen. Ich weiß ganz genau, wo Sie gewesen sind. Dergleichen ist dieses Jahr unmöglich. Wahrscheinlich sind Ihre Reisen nach allen möglichen verbotenen Richtungen hin der Grund, weshalb der Devaschung in diesem Jahr im ganzen Lande Befehle über die Europäer hat bekannt machen lassen. Nach Schansa-dsong sind neulich aus Lhasa zwei Beamte geschickt worden, um darüber zu wachen, daß sich keine Europäer von Naktsang her der heiligen Stadt nähern. Vor einiger Zeit ist ein chinesischer Offizier mit 200 Soldaten in Tingri stationiert worden, um das Land gegen ein Eindringen von Süden her zu bewachen! Nicht einmal Gurkhas und Hindus dürfen jetzt ohne besondere Erlaubnis in Tibet umherreisen. Von dem chinesischen Grenzoffizier in Tingri erhielt ich vor einigen Tagen einen Brief, den ich Ihnen zuerst vorlesen werde … Wie Sie sehen, befiehlt er mir, jeden von Norden her nach Saka kommenden Europäer zum Umkehren zu zwingen und ihn auf seiner eigenen Spur zurückzuschicken. Weigert er sich, mir zu gehorchen, so habe ich einen Eilboten nach Tingri zu senden und erhalte dann innerhalb einiger Tage von den dort stationierten Soldaten Hilfe. Wenn Sie mir also nicht gehorchen und nicht denselben Weg, auf dem Sie gekommen sind, wieder zurückgehen wollen, schicke ich einen Kurier nach Tingri! Aber ich hoffe, wie Sie, daß wir uns ohne Verdruß und fremde Einmischung einigen werden.«

Mein nächster Schachzug bestand nun aus einem Scheingefecht, nämlich darin, daß ich einen Strauß für den Weg über Gyangtse ausfocht; ich wollte mich dann schließlich seinen Wünschen fügen und unter der Bedingung auf Gyangtse verzichten, daß ich nicht durch Länder zu ziehen brauchte, die ich bereits kannte. Ich setzte ihm also auseinander, wie nahe es von hier nach Gyangtse sei und wie leicht und bequem er mich auf diesem Wege los werden könne – aber nichts machte Eindruck auf ihn, er erwiderte nur: »All das ist wahr, aber dieser Weg ist Ihnen verschlossen.«

»Gut, dann werde ich Ihnen zuliebe darauf verzichten, aber nur unter der Bedingung, daß Sie einen Brief von mir an den britischen Handelsagenten in Gyangtse befördern. Sie können wohl begreifen, daß meine Angehörigen sich über mein langes Fortbleiben beunruhigen und sich nach einem Briefe sehnen.«

»Das begreife ich, ich kann aber zu meinem Bedauern Ihre Briefe nicht befördern. Allen Behörden in Tibet ist es streng verboten, Europäern, die nicht berechtigt sind, sich hier im Lande aufzuhalten, irgendwelche Dienste zu leisten.«

»Dann erlauben Sie aber wohl, daß zwei meiner eigenen Diener einen Brief von mir nach Gyangtse bringen?«

»Nein, niemals!«

»Sie können doch wenigstens dem Devaschung meine Ankunft in Semoku mitteilen und die Regierung bitten, Nachricht davon nach Gyangtse zu schicken?«

»Als ich Rindors Schreiben erhielt, schickte ich sofort einen Kurier an den Devaschung. In einigen Tagen weiß man in Lhasa, daß Sie wieder hier sind.«

Es ist mir nie gelungen, eine tibetische Behörde zum Befördern meiner Briefe zu bewegen! Der Umstand, daß Dortsche Tsuän sich weigerte, mir einen an und für sich so unbedeutenden Dienst zu leisten, hatte aber die beklagenswerte Folge, daß meine Angehörigen erst im September sichere Nachrichten von mir erhielten und daher glaubten, daß ich verunglückt sei! Anstatt die Grenze in ein paar Wochen zu erreichen, mußte ich nach dem Innern des stillen Tibet zurück, und die Wellen schlugen wieder hinter meinem Schiff zusammen. Ich hielt es jedoch für ganz selbstverständlich, daß die Nachricht von unserem Erscheinen auf der Tasam sowohl offiziell wie gerüchtweise nach Gyangtse dringen und sich von dort überallhin verbreiten werde. Dies geschah indessen unglücklicherweise nicht, und nachdem wir die Tasam verlassen hatten, wurde mein Geschick wieder in dasselbe undurchdringliche Dunkel gehüllt wie vorher!

»Nein, Hedin Sahib,« rief Dortsche Tsuän aus, »der einzige Weg, der Ihnen offen steht, ist die Straße, auf der Sie von Norden hierher gekommen sind.«

»Den Weg werde ich niemals einschlagen! Es hat gar keinen Zweck, überhaupt davon zu reden.«

»Sie werden es müssen

»Sie können mich nicht dazu zwingen. Erstens werde ich Ihnen nicht mitteilen, auf welchem Weg ich gekommen bin, und ich bin, wie Sie wissen, in Verkleidung gereist.«

»Das hat nichts zu bedeuten! Daß Sie vom Samje-la und vom Kintschen-la herabkamen, ist bekannt. Jenseits dieser Pässe wird sich die Bedeckung, die ich Ihnen mitgebe, von Zelt zu Zelt weiter fragen.«

»Die Nomaden werden aber aus Furcht vor Strafe antworten, daß sie keine Ladakis gesehen haben.«

»Ich werde sie schneller zum Eingestehen der Wahrheit bringen, als Sie glauben!«

»Sie können mich töten, wenn Sie wollen, aber Sie werden mich nie zwingen können, über den Samje-la zu gehen. Bedenken Sie, daß ich ein Europäer und ein Freund des Taschi-Lama bin. Es kann Ihren Kopf kosten

Sehr besorgt beriet Dortsche Tsuän sich flüsternd mit Ngavang und sagte darauf:

»Ich werde ihretwegen so weit gehen, daß ich Ihnen erlaube, nach Ladak auf derselben Straße, auf der Sie im vorigen Jahr dorthin gezogen sind, also über Tradum, Tuksum, Schamsang, Parka und Gartok, zurückzukehren.«

Dies war der »Ausweg«, den ich gerade gefürchtet hatte! Wenn es in ganz Tibet eine Straße gab, die ich um jeden Preis vermeiden wollte, so war es die Heerstraße nach Ladak. Ich antwortete:

» Niemals! Keinen Schritt auf der großen Karawanenstraße nach Ladak!«

»Aber weshalb denn nicht? Sie sollten uns für ein so großes Zugeständnis doch dankbar sein.«

» Die Gesetze meines Landes verbieten, daß jemand auf seiner eigenen Spur zurückgeht! Schneiden Sie mir den Hals ab, aber dazu bringen Sie mich nicht.«

»Sie müssen in Ihrem Lande aber sonderbare Gesetze haben! Darf ich mich erkundigen, auf welchem Weg Sie denn eigentlich abzuziehen wünschen?«

»Ich habe es ja schon gesagt, über Gyangtse. Sie haben es mir abgeschlagen und ich verstehe Ihre Gründe. Sie haben darauf bestanden, daß ich wieder nach Norden gehen solle. Auch in dieser Hinsicht werde ich mich nach Ihren Wünschen richten, aber nur unter der Voraussetzung, daß ich nicht auf meiner eigenen Spur zurückzukehren brauche. Ich will über einen anderen Paß, östlich vom Samje-la, nordwärts nach dem Terinam-tso und von dort in westlicher Richtung Tibet auf dem geradesten Wege verlassen.«

»Das ist undenkbar! Doch regen wir uns einstweilen noch nicht darüber auf! – Wollen Sie jetzt auf meinen Vorschlag eingehen, mich nach Kamba Tsenams Zelten zu begleiten, wohin wir vier Tagereisen haben? Sie sind ja schon dort gewesen, und ehe wir da anlangen, werden wir uns schon über den Weg geeinigt haben.«

»Ja, gern.«

Der Widerstand reizte mich. Nun wurde es Ehrensache, eine neue Schachpartie zu gewinnen! Meine Stellung war sehr stark. Die Tasam war ausgeschlossen. Wenn man mir nur erlaubte, den Transhimalaja auf einem östlicheren Paß zu überschreiten, würde ich mir den Teri-nam-tso, Mendong-gumpa, den unteren Buptsang-tsangpo, den Tarok-tso, Selipuk und einen achten Transhimalajapaß schon durch die eine oder andere Kriegslist erobern können!

Wenn je, galt es jetzt, die Karten gut auszuspielen! Noch war ich des Spieles nicht müde. Noch fühlte ich mich jung und stark! Die politische Verwicklung, die mich in Tibet von allen Seiten verfolgte, erschwerte zwar die Eroberung der großen Entdeckungen, stachelte aber auch meinen Ehrgeiz an. Daher erinnere ich mich mit besonderer Sympathie aller derjenigen, die mir kraft ihrer vergänglichen irdischen Macht Hindernisse in den Weg legten!

Nachher unterhielten wir uns über alles mögliche. Dortsche Tsuän bat mich, unsere Waffen ansehen zu dürfen, und fragte, ob er nicht einen Revolver von mir kaufen könne.

»Nein, aber ich werde ihn Ihnen schenken, mit Patronen und allem, was dazu gehört, wenn Sie mir erlauben, auf dem Weg abzureisen, den ich vorgeschlagen habe.«

»Hm!«

»Sie müssen mir aber erst all den Proviant, dessen wir auf zwei Monate bedürfen, verschaffen, sowie auch neues Schuhzeug, Anzüge, Tabak, Pferde, Maulesel und Yaks.«

» Sehr gern! Setzen Sie nur von allem, was Sie brauchen, eine Liste auf

Dies geschah sofort. Mehl, Tsamba, Tee, Zucker, japanische Zigaretten, die man, wie mir gesagt wurde, hier bekommen konnte – alles sollte aus Tsongka herbeigeschafft werden, wohin noch heute Reiter auf der Straße über den Tsangpo und den Nevu-la geschickt werden sollten. In einer Woche würde alles dort Bestellte in meinen Zelten liegen! Das übrige konnte aus Saka-dsong besorgt werden. Gegen Abend machte ich meinem ritterlichen Freunde Pun Dortsche Tsuän einen langen Gegenbesuch, und spät abends opferte ich den Brief an Lien Darin den Flammen. Ich zog es jetzt vor, zu passen – nur keine chinesische Einmischung in unsere schwedisch-tibetische Politik!

Am 28. blieben wir in schönster Ruhe liegen und besuchten einander stundenlang. Die beiden Statthalter saßen auf der an der Wand angebrachten Bank, Rindor und Oang Gjä auf ihren Teppichen auf der bloßen Erde und alle vier – knobelten! Die beiden Würfel wurden in einer hölzernen Schale geschüttelt, die dann schnell umgekehrt auf ein rundes Stück Leder gesetzt wurde. Die Spielmarken bestanden aus kleinen indischen Muscheln. Nachher spielten sie mit chinesischen Dominosteinen. Dabei tranken sie Tee, rauchten ihre Pfeifen, sangen, summten eine Melodie, scherzten, lachten und schoben die Steine mit unglaublicher Fingerfertigkeit und Eleganz. Ngavang gewann zehn Tengas und war sehr zufrieden. Auf diese Weise vertreiben sie sich die Zeit, wenn sie mit der Tagesarbeit fertig sind. Rindor war der Privatsekretär des Statthalters; auf einer Bank und einem Tisch lagen ganze Stapel von Akten und Briefen auf grobem chinesischem Papier, das schichtenweise zusammengefaltet wird. Alle Postsendungen an den Gouverneur kennen jetzt nach Semoku; seine tägliche Arbeit mußte ihren Gang gehen. Seine Provinz Saka ist ziemlich groß, und er erzählte mit einem gewissen Stolz, daß seine Macht sich nach Osten hin bis Sangsang, nach Süden bis an den Nevu-la, westwärts bis an den Marium-la und im Norden eine Tagereise weit über Kamba Tsenams Zelt hinaus erstrecke.

Über meinen Anzug amüsierten die vornehmen Herren sich sehr. »Sie sind ein Sahib,« sagten sie, »Sie sind sechs Wochen lang der Gast des Taschi-Lama gewesen, Sie ruinieren eine Karawane nach der anderen und lassen überall eine ganze Menge Geld zurück, und dennoch sind Sie ärmlicher gekleidet als der geringste Ihrer Diener!«

Abends wurden die Pferde und Maulesel der Eskorte von Soldaten nach dem Stationshaus getrieben. Wir hätten die gleichen Vorsichtsmaßregeln treffen sollen, denn in der Nacht überfielen Wölfe unsere Pferde. Der Braune, den wir vor 14 Tagen für 100 Rupien gekauft hatten, wurde nachts mit den beiden rechten Beinen zusammengebunden, damit er nicht fortlaufen könne. Auf ihn, der sich nicht durch die Flucht retten konnte, konzentrierten die Wölfe ihren Angriff, fraßen ihn ganz auf und nahmen seinen Kopf mit! Wenigstens fehlte dieser am Morgen an dem ziemlich reinabgeschälten Gerippe!

Am 29. April zogen wir zusammen das Tal des Semoku hinunter, der sich in den oberen Brahmaputra ergießt. Wir ließen den Fluß und auch die Tasam links hinter uns und ritten nun das Tal hinauf, in dem das kleine Dorf Uschy mit seinen Steinhütten und Gerstenfeldern liegt. Seine 150 Einwohner halten sich nur während der Saatzeit und Ernte im Dorfe auf; sonst werden sie ihre Schafe bald hier, bald dort. Vom Dorf aus gingen wir am folgenden Tag nach dem Uschy-la hinauf; der Weg wird durch eine Reihe schöner Manis und Tschorten und der Paß selbst durch einige Stangen bezeichnet, die so dünn sind, daß man sie von fern gar nicht sieht; die Wimpel, die an den Schnüren hängen, gleichen einer Schar aufgespießter Vögel. Eine Strecke weiter nach Nordwesten überschritten wir den Gjä-la, von dem aus der Tschomo-utschong ein wunderschönes Bild darbot, und eine Weile später befanden wir uns oben auf dem Hauptpaß desselben Namens. Von einem Hügel in seiner Nähe beherrscht der Blick den ganzen Horizont in der Runde, die Gletscher und Gipfel des Himalaja, die zum Transhimalajasystem gehörenden Ketten, den Tschomo-utschong und ganz in der Nähe im Südsüdosten das Brahmaputratal und den sich in mehreren Armen hinschlängelnden Fluß. Wir lagerten am Ufer des Satschu-tsangpo, der sich westlich von Saka-dsong in den Tschaktak-tsangpo ergießt. Auch hier liegt ein Votivblock von einem grünen, harten Gestein, der mit Opfergaben, Butterklumpen und Wimpeln bedeckt ist.

Der 1. Mai wurde durch den Zug über den Lamlung-la (Abb. 331 und 332) gefeiert, der ein mühsam zu erklimmender Paß ist, aber auf dessen 5118 Meter hohem Sattel man wieder durch eine herrliche Aussicht über dieses unentwirrbare Gebirgsmeer belohnt wird. Man sieht die sieben dominierenden Gipfel des Tschomo-utschong in einer dichten Gruppe; der mittelste ist ein sehr regelmäßiger Kegel und bis unten hinunter kreideweiß; die andern bestehen zum großen Teil aus schwarzen Felsen und Vorsprüngen, zwischen denen kleine bläulichschimmernde Gletscher hervortreten (Abb. 314). Die Längsrichtung des Massivs stimmt mit der des Lunpo-gangri, dessen Fortsetzung es ist, überein.

331. Aufbruch zum Lamlung-la.

332. Seine Exzellenz der Herr Gouverneur von Saka unterwegs.

314. Tschomo-utschong, am 1. Mai 1908.
Nach Aquarellen und Skizzen des Verfassers.

In dem Tal Namtschen bildete unser gemeinsames Lager ein ganzes Dörfchen, denn alle Häuptlinge der Gegend waren zur Beratung herbeigerufen worden. Hier war es auch, wo sich Rindor und Pemba Tsering mit allem einfanden, was ich aus Saka-dsong bestellt hatte. Zwei Tage blieben wir dort liegen. Das Wetter war rauh und unfreundlich, und die Kälte sank noch immer auf 13,2 Grad. Von Frühling konnte man also noch nicht reden. Aber die Wildgänse zogen schon über uns, und als Tubges einmal an einem in der Nähe des Lagers fließenden Bach einen Gänserich schoß, kam Oang Gjä zu mir, um sich darüber zu beklagen. Er war ganz außer sich über den scheußlichen Mord und konnte nicht begreifen, daß meine Leute so herzlos und grausam sein könnten!

»Sie haben recht,« erwiderte ich, »auch mir tut es um die armen Gänse leid. Doch Sie müssen bedenken, daß wir Reisende und als solche mit unserem Unterhalt auf das angewiesen sind, was das Land bietet. Oft leben wir ganz von Jagd und Fischfang.«

»Hier in der Gegend habt ihr Schafe in Hülle und Fülle.«

»Ist es nicht ebenso unrecht, Schafe zu töten und ihr Fleisch zu essen?«

»Nein,« rief er mit leidenschaftlicher Energie aus, »das ist etwas ganz anderes! Sie wollen doch wohl nicht Schafe und Wildgänse vergleichen? Zwischen beiden ist ein ebenso großer Unterschied wie zwischen Schaf und Mensch, denn die Wildgänse verheiraten sich und gründen eine Familie gerade so wie die Menschen! Und wenn Sie durch einen gedankenlosen Schuß ein solches Verhältnis zerstören, so haben Sie dadurch Unglück und Kummer verschuldet. Die Gans, der Sie eben den Gatten geraubt haben, sucht ihn nun vergeblich Tag und Nacht und weicht nicht von der Stelle, an der er ermordet worden ist; ihr ganzes Leben ist nun öde und leer geworden, sie schließt nie eine neue Ehe, sie bleibt Witwe und stirbt bald vor Gram! Kein Weib kann tiefer trauern als sie, und die Menschen, die ein so großes Leid verursachen, ziehen dadurch eine Strafe auf sich selbst herab!«

Der prächtige Oang Gjä war ganz untröstlich. Wir könnten soviel Antilopen, Wildschafe und Rebhühner schießen, als wir nur wollten, aber die Wildgänse müßten wir in Frieden lassen! Ich hatte nördlich, im Loplande, schon ähnliche Geschichten erzählen hören von dem Gram der Schwäne, wenn ihre Ehe durch den Tod gelöst würde. Es war rührend, Oang Gjäs Feinfühligkeit und seine große Liebe zu den Wildgänsen so sichtbar hervortreten zu sehen. Ich hegte die größte Hochachtung vor ihm. Manch edles, feinfühliges Herz schlägt ganz gewiß auch in Tibets kalten, öden Tälern.


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