Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir atmeten beim Aufbruch am 30. März alle erleichtert auf, weil es uns gelungen war, aus dem Netz, in dessen Maschen wir beinahe sitzen geblieben waren, noch einmal herauszuschlüpfen. Gerade hier ist der Serpun-lam, der Weg, den der Serpun, der Goldinspektor, auf seiner Reise von Lhasa nach Tok-dschalung durch das innerste Tibet benutzt, eine der größten Heerstraßen des Landes. Ganz sicher waren wir freilich noch nicht, aber eine beruhigende Nachricht hatten wir doch erhalten: Karma Puntso hatte sich nämlich einige Tagereisen nordwärts nach einer Gegend in Tschang-tang begeben, wo er große Schafherden besaß. Die meisten Nomaden in Bongba hatten ihre Schafe und Hirten nach dem Norden geschickt, weil das Gras dort viel besser ist. Für uns war dies von Vorteil, denn in den Zelten befanden sich jetzt bloß Weiber, Greise und Kinder, während die Mehrzahl der erwachsenen männlichen Individuen die Schafe begleitete. Es gehörte zu meiner viel Geduld erfordernden Verkleidung, daß ich nicht den geringsten Verkehr mit den Tibetern haben durfte; durch mein Gestotter hätte ich mich ja auf der Stelle verraten. Ich durfte daher nicht mit ihnen sprechen, ja nicht einmal für sie existieren, mußte aber von meinem verborgenen Platz aus doch die Drähte meiner Marionetten regieren.
Die Wildgänse hatten jetzt mit ihren Zügen begonnen, wir hörten sie unausgesetzt über unseren Zelten schreien. Der Fluß, in dessen oberstem Teil unterhalb des Ladung-la wir Fische gefangen hatten, zeigte uns auch am 30. März einen vortrefflichen Weg nach Süden. Das Land ist sehr offen und flach; zwölf Zelte wurden in einiger Entfernung passiert. Bei dem letzten wurde das Lager 368 aufgeschlagen, und ein schwarzes Pferd gekauft. Wir besaßen jetzt vier Pferde, von denen eines ein Veteran aus Ladak war; ich ritt nunmehr den zuerst gekauften Braunen. Die drei letzten Maulesel und die beiden Yaks vom Tong-tso hielten sich gut. Wenn wir in der Nähe anderer Menschen lagerten, wurde Takkar vor meinem Zelte angebunden, um neugierigen Besuch fern zu halten. Er, der unter Tibetern geboren und erzogen war und nie in seinem Leben andere Leute gesehen hatte, wurde jetzt rein toll vor Wut, wenn er einen Tibeter nur aus der Ferne erblickte. Später mußte ich noch manche Rupie an diejenigen seiner zweibeinigen Landsleute bezahlen, die er in die hosenlosen Beine gebissen hatte, denn ohne ein leichtes Blutvergießen war er bei solchen Gelegenheiten nicht zufrieden.
Noch eine Tagereise weit folgten wir dem Fluß nach Südsüdwest bis an das Lager 369, wo einige arme Nomaden am Rand eines Schneefeldes lagerten. Wieder zeigte sich der Gipfel des Scha-kangscham, jetzt in N 30° O, wo er wie ein riesenhafter Leuchtturm über dem Hochland emporragte. Man teilte mir mit, daß in einer Entfernung von fünf Tagereisen nach Westnordwest der Salzsee Tabie-tsaka liege, von dessen Lage ich mir von der »Tasam« aus vergeblich einen Begriff zu machen versucht hatte. Als ich aber am Nachmittag im Freien saß, um ein Panorama zu zeichnen, streiften die Nomaden spähend umher, so daß wir Wachtposten ausstellen mußten. Am Abend war die Gegend pechfinster, kein Mond, nur dichte Wolken standen am Himmel, unsere Tiere aber waren verschwunden. Da aller Grund vorhanden war, Wölfe und Pferdediebe zu fürchten, mußten acht Leute auf die Suche geschickt werden. Sie nahmen Revolver mit und gaben auch einige Schüsse ab, um eventuellen Friedensstörern zu verstehen zu geben, daß wir Waffen besaßen. Zu frieren brauchten sie wenigstens nicht, denn die Temperatur sank nur auf -7,8 Grad. Am Morgen des 1. April hatten die Tiere sich wiedergefunden. Der einzige, der fehlte, war der graugelbe Hund; er war wohl der Ansicht, daß er sich bei uns in zu schlechter Gesellschaft befinde, denn er hatte während der Nacht seinen Strick durchgenagt und war nach dem armseligen Zelt zurückgelaufen, in dem er bisher gelebt hatte.
Jetzt führte der Weg in südsüdwestlicher Richtung nach dem kleinen, leichten Paß Satsot-la (4856 Meter) hinauf, dessen Gestein roter Porphyr ist und der durch eine Steinpyramide bezeichnet wird. In dem weiten Kesseltal, das wir vor uns hatten, liegt der See Tschunit-tso, an dessen anderm Ufer sich ein roter kegelförmiger Berg erhebt. Wir zogen an einigen Manis vorbei; zur Linken ließen wir einen Miniatursee namens Tschabuk-tso, an dem Tubges zwei Wildgänse schoß. Der gute Jäger versorgte mich oft mit Wildbret. Seine Kameraden nennen ihn nicht bei seinem Namen, sondern ganz einfach Schejok nach seinem Heimatsort; das klingt gerade so lächerlich, als wenn wir unsere Bekannten Jönköping oder Falsterbo nennen wollten.
Wir überschritten eine große, nach Nordwesten gehende Straße, auf der ganz kürzlich Hunderte beladener Yaks marschiert waren, wahrscheinlich eine nach dem Tabie-tsaka ziehende Salzkarawane. Nun passierten wir eine Ringmauer, an der ein einzelner Mann stand, der uns aufmerksam betrachtete; als wir aber dicht bei ihm waren, hockte er sich hinter der Mauer nieder, und wir ließen ihn dort hocken. Auf einer Terrassenhöhe war ein schönes mit Hörnern geschmücktes Mani errichtet; gleich unterhalb machten wir an einem von Quellen gebildeten Eisfeld für die Nacht halt. Kaum hatten wir aber die Zelle aufgeschlagen, so näherte sich von Nordwesten her eine aus mehreren Hundert mit Salz beladenen Schafen bestehende Karawane. Sie hatte nur zwei bewaffnete Führer, die am Tabie-tsaka gewesen waren und wieder nach ihrer Heimat zurückkehrten, dem zwanzig Tagereisen weit im Südosten liegenden Jangtschuttanga. In derselben Himmelsrichtung weideten auf den Berghalden auch 400 Yaks, die dem Gova der Gegend gehören sollten. Am Abend besuchte uns ein Wandersmann, der nach seinem ein wenig weiter südwärts liegenden Zelt wollte. Er versprach uns am nächsten Morgen drei Schafe zu verkaufen.
Und wirklich! Er hielt Wort. Er kam uns mit den Schafen entgegen, als wir am folgenden Tag längs des westlichen Ufers des Tschunit-tso (4747 Meter) südwärts zogen. Am Nordende des Sees tritt eine heiße, schwefelhaltige Quelle zutage. Der Mann erzählte, daß man krank werde, wenn man aus der Quelle trinke; vermische man aber ihr Wasser mit dem einer dicht dabei liegenden kalten Quelle, so heile dieses Getränk allerlei Krankheiten. Kranke Schafe und Ziegen pflege man in dem heißen Wasser zu baden, und sie würden danach sofort wieder gesund. – Die Quelle ist heilig, und ein Mani ist in ihrer Nähe errichtet. Der See war schwach salzhaltig und zugefroren. Zwei kleine, von Westen aus dem Gebirge kommende Bäche ergießen sich in ihn; ein dritter Bach, der Lungnak-buptschu, bildete eine gewaltige Eisscholle. In seiner Talmündung standen zwei Zelte, deren Hunde uns wie ein Unwetter überfielen, aber von Takkar so gezaust wurden, daß sie sich den ganzen Abend nicht wieder sehen ließen.
3. April. Wir ließen das Südende des Sees hinter uns und zogen in einem Tal aufwärts, das uns nach dem kleinen Paß Nima-lung-la hinaufführte; in dessen Nähe lagerten wir auf unfruchtbarem Gelände zwischen Granitfelsen. Eine Steineule saß in einer Felsspalte und rief ihr gellendes, kreischendes »Komm mit!« in die Abenddämmerung hinaus. Lobsang sagte, dieser Vogel werde in Tibet mit großer Ehrfurcht betrachtet, weil er ehrliche Menschen vor Räubern und Dieben warne. Wenn man irgendwo einen Uhu schreien höre, könne man darauf schwören, daß Räuber in der Nähe seien.
Am 4. April hatten wir nur einen halbstündigen Weg bis zur eigentlichen Paßschwelle, dem Nima-lung-la (4882 Meter), von wo aus die Aussicht nach Süden auf den Transhimalaja, eine Reihe dunkler Felsen und schwarzer, mit Schnee gekrönter Gipfel, prachtvoll ist. Zwischen uns und dem Fuß dieses Gebirges breitet sich eine weite, völlig gleichmäßige, an Tümpeln, Sümpfen und Quellarmen reiche Ebene aus. An einem der Quellbäche saßen zwei Tibeter, mit dem Zerlegen eines verendeten Yaks beschäftigt. Sie bestätigten die uns schon früher gemachte Mitteilung, daß wir uns in dem Distrikt Bongba-kemar befänden, eine Tagereise von Bongba-kebjang entfernt seien und einige Tage am Fluß Buptsang-tsangpo stromaufwärts ziehen müßten, um über den Paß Samje-la nach Saka-dsong zu gelangen. Noch hatte ich sehr dunkle, unklare Begriffe von der orographischen Anordnung dieser Gegend. War die Kette, die wir im Süden vor uns hatten, eine Fortsetzung des Nien-tschen-tang-la, den ich im Sela-la, Tschang-la-Pod-la und Angden-la überschritten hatte? Oder war dies eine ganz andere Kette, die nicht mit jener zusammenhing? Die nächsten Tage würden mir wohl Antwort geben. Möchte ich doch glücklich durchschlüpfen und diese außerordentlich wichtige meridionale Profillinie durch das unbekannteste Tibet ganz verfolgen können! Es wäre zu bedauerlich, wenn man mich gerade am Nordfuß des Transhimalaja festnehmen würde!
Das Lager 374 wurde unterhalb eines Taleingangs aufgeschlagen, in dem wieder zwei Zelte standen. Die Nomaden warnten uns vor dem Wasser in den Tümpeln der Ebene; unsere Pferde würden die Haare verlieren, wenn sie davon tränken. »Schnarch-Kuntschuk« jammerte über Zahnweh, wurde aber von zwei beherzten Kameraden im Handumdrehen kuriert. Die Operation wurde mit der Hufzange ausgeführt, die bisher nur zum Beschlagen unserer Pferde benutzt worden war. Um besser ankommen zu können, legten sie dem Patienten einen Stein wie einen Prim in den Mund. »Bringt mich nicht um!« schrie er, als der Zahn herausflog!
Am 5. April legten wir ganze 16½ Kilometer in der Richtung nach Süden zurück. Die Gegend war außerordentlich unfruchtbar und öde, der Erdboden mit lauter rotem Porphyrschutt bedeckt. Eine kleine, von Grasweide umgebene Quelle erschien uns wie eine Oase, und hier schlugen wir dicht neben einer Schafhürde und einem Mani das Lager auf.
Noch eine Tagereise, und wir gelangten an den Buptsang-tsangpo, den »tiefeingeschnittenen Fluß«, und zogen an ihm entlang nach Süden aufwärts. Der Fluß besteht aus mehreren Armen und war schon jetzt ziemlich wasserreich, obwohl meist zugefroren. Sein Tal ist etwa 5 Kilometer breit und hat sehr geringes Gefälle. Die Gegend, in der wir lagerten, nachdem wir an vierzehn Zelten vorbeigezogen waren, hieß Monlam-gongma (4822 Meter). Von hier aus soll der Fluß fünf Tagereisen weit nach Nordnordwesten strömen und sich dann in einen großen See namens Tarok-tso ergießen. Der Gedanke, einen Abstecher dorthin zu machen, hatte für mich etwas Verführerisches, aber es war wichtiger, die meridionale Profillinie ganz zu vollenden, solange das Land uns noch offen lag. Zwei gewaltige Schneegipfel im Südsüdosten, die die Nomaden hier ebenfalls, wie auf der Tasam, Lunpo-gangri, den »großen Eisberg« nannten, sollten rechts von der Route bleiben, auf der wir nach Saka-dsong gelangen würden. Diese Mitteilung war außerordentlich irreführend. Ich sah ein, daß der Lunpo-gangri, dessen Gipfel Ryder und Wood gemessen hatten, keineswegs eine Fortsetzung der mächtigen Kette sein konnte, in der ich drei Pässe überschritten hatte und die weiter nach Osten hin Nien-tschen-tang-la heißt.
Nachdem wir vergeblich versucht hatten, unsere entkräfteten Yaks zu verschachern, setzten wir den Weg längs des großen Flusses auf seiner rechten, östlichen Uferterrasse fort. Ein Südweststurm, der schon vor mehreren Tagen begonnen hatte, dauerte noch fort. In der Gegend Amtschung (Lager 376) hatten wir einen Nachbar namens Kamba Dramdul, der uns nicht viel zu erzählen wußte; aber, was er sagte war von großem Interesse: wir hätten nach dem Samje-la hinauf noch eine Tagereise zurückzulegen, zögen immer am Buptsang-tsangpo aufwärts und hätten auf beiden Seiten, rechts und links, Gangris, Schneeberge. Auf dem Paß selber seien wir den Gipfeln des Lunpo-gangri ganz nahe. – Da argwöhnte ich, daß die bedeutende Bergkette, die wir zur Linken, also im Osten, hatten, doch die Fortsetzung des Nien-tschen-tang-la bilde, der Lunpo-gangri aber eine vollkommen freistehende Kette sei, die keinen Zusammenhang mit jener habe.
Die östliche Kette wurde während der folgenden Tage immer mächtiger; zwischen ihren dunklen Verzweigungen erheben sich ziemlich flache Kuppen mit ewigem Schnee. Wir bleiben meistens oben auf der rechten Uferterrasse; sie liegt 15–20 Meter über dem Fluß und fällt steil nach dem ebenen Talgrund ab, in dem der Fluß sich hinschlängelt; hier ist das Tal etwa 3 Kilometer breit. Die Eisschollen des Flusses werden ausgedehnter und dicker, je höher wir gelangen, aber die Steigung ist sehr gering. Vom Lager 377 aus sehen wir die höchste Lunpo-gangri-Spitze in S 23° O. Jede neue Strecke, die wir ohne Abenteuer zurücklegen, stärkt unsere Lage. Die hiesigen Nomaden müssen wohl denken: wenn diese Leute durch ganz Bongba haben ziehen können, ohne angehalten worden zu sein, so können sie keine Schwindler sein!
Am 10. April zogen wir 13,7 Kilometer am Buptsang-tsangpo aufwärts – man wundert sich, oben auf dem abflußlosen Plateau einen so wasserreichen Fluß zu finden! An seinen Ufern schnattern Wildenten und -gänse in großer Zahl. Tubges schoß mehrere – es war unrecht, sie in ihrer Frühlings- und Liebessehnsucht zu stören. Heute zeigten sich keine Menschen; mich überkommt immer ein Gefühl der Sicherheit, wenn ich keine schwarzen Zelte sehe; ich verzichte gern auf sauere Milch, wenn ich durch diese Entsagung Ungestörtheit erkaufen kann. Die Aussicht nach Südsüdosten ist jetzt überwältigend großartig; gegen den rein blauen Himmel heben sich die Spitzen des Lunpo-gangri blendend weiß in hellblauen Schattierungen ab, die Eis anzeigen. Auch im Osten taucht eine ganze Gebirgswelt auf. Unerwarteterweise nehmen sich die Lunpo-gangri-Gipfel von der nördlichen Seite, also vom Plateau aus, viel imposanter und grandioser aus als von der südlichen, dem Brahmaputratal, was wohl darauf beruht, daß man ihnen auf der Südseite zu nahe ist. Hier droben sahen wir sie aus allen möglichen Entfernungen, und mehrere Tage lang hatten wir sie beinahe gerade vor uns.
In der Nacht auf den 11. April hatten wir wieder einmal -18,7 Grad, in den vorhergehenden Nächten -15,7, -10,3 und -8,2 Grad; je höher wir steigen, desto kälter wird es. Wir nähern uns der Talweitung, wo drei Gletscherflüsse sich vereinigen, um den Buptsang-tsangpo zu bilden, und zwar ganz so, wie beim Brahmaputra, und auch ebenso wie bei diesem, auf der Nordseite eines der beiden mächtigsten Bergsysteme der Erde. In unmittelbarer Nähe des Zusammenflusses in Bupjung-ring hatten wir unser Lager Nr. 379 (4911 Meter) aufgeschlagen. Der östliche Quellarm kommt teils vom Samje-la, teils von dem unmittelbar auf der südwestlichen Seite des Passes liegenden Teil des Gebirges. Der mittelste stammt von einem Massiv Jallakmallak; der westliche vom Tschomo-gangri; im Südosten dieser Gebirge haben wir den Lunpo-gangri (Abb. 323, 324), der sowohl von seiner nördlichen wie südlichen Seite sein Wasser nach dem Meere hinsendet. –
323, 324. Die Gipfel des Lunpo-gangri (Transhimalaja) von den Lagern 379 und 381 aus gesehen.
Nach Aquarellen des Verfassers.
325. Die Gipfel des Lunpo-gangri (Transhimalaja) vom Lager 383 aus gesehen.
Nach Aquarell des Verfassers.
Bupjung-ring ist eine der herrlichsten Gegenden, die ich in Tibet gesehen habe. Der flache, von mit Schnee und eisbedeckten Bergen umgebene Talkessel hat üppigen Graswuchs und wird von zahlreichen Wasserläufen durchschnitten. Überall waren Lagerspuren sichtbar; jetzt standen hier freilich nur noch ein paar Zeltdörfer, aber im Sommer, wenn die Nomaden aus dem Norden kommen, herrscht reges Leben im Tal. Wenn während des Sommers die eigentliche Schneeschmelze vor sich geht, und später während der Regenzeit, schwillt der Buptsang-tsangpo so hoch an, daß er sich drei Monate hindurch nicht überschreiten läßt und der Verkehr zwischen seinen beiden Ufern abgeschnitten ist. Von der Quelle bis an den Tarok-tso, in den er sich ergießt, ist der Fluß ungefähr 150 Kilometer lang; er ist möglicherweise der größte Fluß in Tibet, der nicht dem Meere zuströmt. Die einzigen Flüsse, die sich vielleicht mit ihm messen können, sind der Satschu-tsangpo, der in den Selling-tso mündet, und der Soma-tsangpo, der sich in den Teri-nam-tso ergießt. Der Satschu-tsangpo war, als ich ihn im Jahre 1901 während der Regenzeit überschritt, ungeheuer viel größer als der Buptsang-tsangpo jetzt. Aber der Buptsang war sogar im Frühling ein ansehnlicher Fluß, der in der Regenzeit gewiß ebensosehr anschwillt wie der Satschu. Europäern war der Buptsang-tsangpo bisher unbekannt geblieben. Aber auf D'Anvilles Karte aus dem Jahre 1733 finden wir den Tarok-tso und einen von Süden her in den See hineinströmenden Fluß, der ohne Zweifel mit dem Buptsang-tsangpo identisch ist. Die Jesuiten, die sich vor 200 Jahren in Peking aufhielten und vom Kaiser Kang-Hi mit der Herstellung einer Karte über das ganze chinesische Reich beauftragt worden waren, verschafften sich aus chinesischen und tibetischen Quellen also auch von dieser verborgenen Gegend genaue Kunde.
Während der letzten Tage waren unsere beiden Yaks so kraftlos und fußkrank geworden, daß wir uns ihrer um jeden Preis entledigen mußten. Wir blieben daher einen Tag in Bupjung und vertauschten sie gegen neun Schafe, die die Yaklasten übernahmen. Jetzt hatten wir wieder 31 Schafe und einige Ziegen.
Am 13. erreichten wir den Fuß des Gebirges, wo der eigentliche Anstieg nach dem Passe selbst beginnt. Hier standen vier Zelte, deren Bewohner ausschließlich aus Frauen und Kindern bestanden. Die Männer hatten sich vor zwei Tagen nach dem Zelt des Gova Tsepten begeben. Dieser Häuptling ist verpflichtet, eine gewisse Anzahl Leute und Yaks zu stellen, die ungefähr drei Monate lang auf der Tasam stationiert werden und dort unentgeltlich alle Transporte für den Devaschung besorgen müssen. Dies ist eine Art Frondienst, der nicht nur auf dem ganzen Weg zwischen Lhasa und Ladak, sondern auch auf allen größeren Straßen in Tibet geleistet wird. Natürlich schädigt dies ungesunde System die Nomaden, die während der Zeit die Wartung ihrer Herden Frauen und Kindern überlassen müssen, ganz bedeutend. Will sich jemand dem entziehen, so muß er einen Stellvertreter besorgen, ihn bezahlen und mit Yaks und Lebensmitteln versehen. Als wir im vorigen Jahr von Schigatse aus mit gemieteten Lasttieren reisten, nahmen auch wir die Dienste armer Nomaden in Anspruch, aber ich bezahlte sie anständig und gab ihnen noch ordentliche Trinkgelder.
Nach 18,2 Grad Kälte in der Nacht ritten wir am 14. April nach dem Paß hinauf; der Saumpfad führte teils über Hügel, teils zwischen ihnen durch, und wir überschritten den Bach, der vom Samje-la seinen Wasserbeitrag nach dem Buptsang-tsangpo führt. Das anstehende Gestein war unzugänglich, aller Schutt und alle Blöcke bestanden aber aus grauem Granit; nur selten sah man ein Porphyrstück. Auf dem Paß wurde die gewöhnliche Rast für Beobachtungen gehalten und das Siedethermometer abgelesen. Die Aussicht über den Lunpo-gangri war großartiger als je, jetzt hatten wir seine Gipfel ganz nahe. In Nordnordwesten verschwand das scharf ausgeprägte Tal des Buptsang-tsangpo in der Ferne. Im Südosten aber war nichts anderes sichtbar als eine flache Schwelle, die mich argwöhnen ließ, daß wir uns noch nicht auf dem wirklichen, wasserscheidenden Paß befänden. Wir hatten auch auf der Spur der Karawane erst eine kleine Strecke zurückgelegt, als wir einen Bach sahen, der, aus Südosten kommend, noch zum System des Buptsang-tsangpo gehörte. An seinem Ufer, wo auch wir haltmachten, lagerte eine aus acht Leuten und 350 Yaks bestehende Karawane, die Salz nach Saka-dsong brachte, wohin sie noch sechs Tagereisen hatte. Die Leute konnten nicht begreifen, weshalb wir, die wir doch Kaufleute aus Ladak seien, uns einen Weg wie diesen ausgesucht hätten, und fragten immer wieder, wie wir uns nur hierhergefunden hätten. Wir tischten ihnen die gewöhnliche Geschichte vom Wollhandel im Sommer auf, und sie bedauerten, daß sie uns nicht mit ihren Yaks zu Diensten stehen könnten, da sie der Regierungstransporte wegen an die große Heerstraße gebunden seien. Ich fragte mich, ob sie dem Statthalter in Saka-dsong wohl mitteilen würden, daß sie auf der Heimreise eine Gesellschaft Ladakis getroffen hätten, und ob mir dies wohl nachteilig sein werde? Vielleicht wäre es das beste, überhaupt nicht nach Saka-dsong zu gehen?
Am 15. April handelte es sich zunächst darum, der Yakkarawane einen Vorsprung abzugewinnen. Ehe sie mit dem Beladen ihrer Tiere begann, brach ich mit den Schafen auf und kam rechtzeitig an die Paßpyramide des Samje-la mit ihren Wimpelstangen. Obgleich wir auf dem ganzen Weg vom Lager der Yakleute aus zu sehen waren, mußte ich die Höhe des Passes doch um jeden Preis feststellen, und die Entfernung war auch so groß, daß sie nicht sehen konnten, was ich tat. Nach der Siedepunktbestimmung, die eine Höhe von 5527 Meter ergab, zeichnete ich sogar noch das Panorama. Im Osten und Südosten eine Welt von Bergen, die teils zur Kette des Lunpo-gangri gehörten, die wir im Süden hatten, und teils zum Nien-tschen-tang-la, der auf unserer Nordseite lag. Wir befanden uns also auf der Wasserscheide selbst, zwischen zwei gigantischen Bergketten, die beide Mitglieder der Familie Transhimalaja sind! Und dieser Paß, der Samje-la, hat in hydrographischer und orographischer Hinsicht den allerhöchsten und vornehmsten Rang, den ein Paß in Asien überhaupt haben kann; er scheidet nämlich das Wasser zwischen dem abflußlosen Plateau im Norden und dem unendlichen Weltmeer im Süden. Er hat also denselben Rang wie der Sela-la, der Tschang-la-Pod-la und der Angden-la und einen weit vornehmeren Rang als der Tseti-latschen-la, der nur eine Wasserscheide zwischen dem Satledsch und dem Indus ist, und als der Dschukti-la, der das Wasser zwischen den beiden Indusarmen teilt. Auf dem Samje-la hatte ich nun das Hauptziel meiner Sehnsucht erreicht, ich hatte den Transhimalaja zwischen dem Tseti-latschen-la und dem Angden-la übersteigen und noch einen Punkt auf der gigantischen Grenzlinie erobern können, die im Norden die Wasserscheide der großen indischen Flüsse ist! Es war mir jetzt gelungen zu konstatieren, daß der Transhimalaja sich vom Angden-la noch 490 Kilometer ohne Unterbrechung nach Westen hinzieht! Außerordentlich großes Interesse hatte auch die Entdeckung, daß der Angden-la und der Samje-la, obgleich sie als Wasserscheide genau gleichwertig sind, durchaus nicht in derselben Bergkette liegen. Der Angden-la liegt in der westlichen Verlängerung der Kette, die auf dem Südufer des Tengri-nor steht und unter dem Namen Nien-tschen-tang-la bekannt ist; aber der Samje-la liegt in einem Längstal zwischen dieser Kette und dem Lunpo-gangri. Damit konnte ich für immer ein großes schwarzes Kreuz über die fortlaufende, ununterbrochene Bergkette machen, die Hodgson und Saunders am Schreibtisch konstruiert haben und die sich, nach ihnen, im Norden des oberen Brahmaputra hinziehen soll. Hier begann ich auch über den Namen nachzudenken, den man künftig diesem kolossalen Gebirgssystem, das mit dem Himalaja parallel läuft, würde geben müssen. Der Name Lunpo-gangri war mindestens ebenso berechtigt wie der Name Nien-tschen-tang-la, aber beide waren doch auch wieder gleich ungeeignet, da sie nur gewisse Ketten innerhalb eines ganzen Systems bezeichneten und folglich nur lokale Berechtigung hatten. Da durchfuhr es mich wie ein Blitz – Transhimalaja ist der Name, den ich künftig diesem gigantischen Gebirgssystem geben will!
Während ich noch über diesen großen Sieg nachdachte, den ich an diesem Tage ohne eigenes Verdienst errungen hatte, rief Lobsang mich in die gegenwärtige Situation zurück mit der Meldung, die schwarzen Linien der Yaks bewegten sich nach dem Paß hinauf. Nun erhoben wir uns und gingen zu Fuß die Abhänge hinab, die mit mühsam zu passierendem Schutt und Granitblöcken bedeckt waren. Bald sammelten sich aus dem Boden aufsprudelnde Quellen zu einem Bächlein. Mit besonderem Wohlbehagen betrachtete ich seine klaren, geschmeidigen Sprünge zwischen den Blöcken und lauschte seinem melodischen Rieseln. Es war die gewöhnliche Melodie; ich hatte sie eben noch von den Bächen des Buptsang-tsangpo singen gehört. Und dennoch glaubte ich einen Unterton anderer Art herauszuhören, einen Klang im Wasser, der neues Sehnen in mir erweckte. Die Fluten des Buptsang-tsangpo sind zu ewigem Untergang im Tarok-tso und Tabie-tsaka verurteilt, wo sie verdunsten und mit allen Himmelswinden wieder verfliegen. Aber der Bach, an dessen Ufer wir jetzt hinziehen, der ergießt sich in den Tschaktak-tsangpo und den Brahmaputra, und sein Ziel ist der Indische Ozean, über dessen salzige Wogen der Weg nach meiner Heimat führt! –
Wir waren eben mit dem Aufschlagen der Zelte fertig, als die Yaks schon in dichten Haufen anmarschiert kamen, begleitet von ihren pfeifenden und singenden Treibern. Sie machten einen Umweg, um nicht zu nahe an uns vorbeiziehen zu müssen. Fürchteten sie sich vor uns, oder hegten sie schon Verdacht? Was würden sie wohl in Saka-dsong von uns erzählen? Waren sie eine Wolke, nur so groß wie eine Manneshand, aus der seinerzeit ein verheerendes Unwetter über meine kleine Karawane losbrechen würde, die das verbotene Land nun zum zweitenmal ohne Erlaubnis durchzogen hatte?