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Fünfundfünfzigstes Kapitel.
Ein neues Kapitel.

Sobald wir fertig waren, stiegen wir zu Pferd und ritten nach Drugub hinunter. Bald zeichnete sich das alte Dorf mit dem Hause, in welchem ich vor sechs Jahren gewohnt, und dem Garten, wo wir im Jahre 1906 Rast gehalten hatten, ab. Auf einer Terrasse unterhalb des Dorfes standen unsere drei gewöhnlichen Zelte und ein viertes. Der Tschamadar Ische, der alte Hiraman, der es noch nie unterlassen hatte, mich zu begrüßen, und der junge Anmar Dschu, auch einer meiner alten Freunde, salamten und stellten mir meine neuen Leute vor. Diese drei hatten vom Tesildar Befehl erhalten, mich nach Schejok zu begleiten.

»Wer ist der Karawan-baschi?« fragte ich.

»Ich«, antwortete ein kleiner, runzliger älterer Mann, der Abdul Kerim hieß und einen großen gelben Pelz trug (Abb. 296).

296. Abdul Kerim, der neue Karawanenführer.

»Wie heißen die anderen?«

»Kutus, Gulam, Suän, Abdul Rasak, Sedik, Lobsang, Kuntschuk, Gaffar, Abdullah und Sonam Kuntschuk.«

»Ihr seid also elf Mann im ganzen, drei Lamaisten und acht Mohammedaner?«

»Jawohl, Sahib.«

»Ich werde eure Namen, euer Alter, Heimatsort, Reisen, die ihr gemacht, die Dienste, die ihr gehabt, und dergleichen später notieren.« – Dabei stellte sich heraus, daß nur sehr wenige von ihnen schon im Dienst eines Europäers gestanden hatten, aber alle waren bei Naser Schah angestellt gewesen, dessen Sohn Gulam Rasul für sie einstand. Vier waren in Lhasa gewesen, die Mohammedaner fast alle in Jarkent, alle sahen angenehm und munter aus und standen im kräftigsten Mannesalter. –

»Wer von euch ist mein Koch?«

»Ich«, erwiderte Gulam (Abb. 297), ein klassisches Kerlchen, dem Rub Das gerade eine Vorlesung hielt, wie mir aufzuwarten sei.

297. Gulam, mein Koch.

»Seid ihr alle Ladakis?«

»Ja, Sahib, alle, außer Lobsang, der ein Tibeter aus Gargunsa ist, sich aber in Leh verheiratet hat und beim Hadschi Naser Schah dient.«

Ich war eigentlich nicht dafür, einen Tibeter mit auf die Reise zu nehmen, bei der es gerade darauf ankam, die Tibeter so lange als irgend möglich hinters Licht zu führen. Wie leicht konnte er mich, wenn Gefahren drohten, seinen Landsleuten verraten! Ich überlegte, ob ich ihn nicht gegen einen anderen austauschen oder ihn einfach zurücklassen solle. Aber wie oft sollte ich später noch Gelegenheit haben, mich darüber zu freuen, daß ich den Gedanken nicht hatte zur Tat werden lassen! Wenn ich die vier russischen Kosaken und Robert ausnehme, war Lobsang der beste Diener, der mich je auf meinen Wildniswanderungen durch Asien begleitet hat. Es war ein prächtiger Mensch, und ich erinnere mich seiner gern und mit warmer Empfindung (Abb. 298).

298. Lobsang.

Alle wurden nun in meinem Dienst willkommen geheißen, wobei ich die Hoffnung äußerte, daß sie ihre Pflicht ebenso treu erfüllen würden wie ihre Vorgänger, und ihnen je 50 Rupien als Extrageschenk versprach, wenn ich mit ihnen zufrieden gewesen sei, und ihnen sagte, daß ich von dem Punkt, wo unsere Reise enden werde, die Kosten ihrer Heimreise bezahlen würde – ganz wie das vorige Mal. Als es in Leh bekannt geworden war, daß ich neuer Diener zur Reise nach Chotan bedürfe, hatten sich Guffaru und alle die von Toktschen aus nach Hause geschickten Leute auch wieder gemeldet und dringend um Wiederanstellung in meinem Dienst gebeten. Aber der alte Hadschi hatte von seinem Sohn strenge Verhaltungsmaßregeln erhalten. Kein einziger meiner früheren Dienerschar dürfe mich diesmal begleiten. Es hätte die Gefahr vergrößert, wenn wir mit Tibetern, die wir schon früher kennen gelernt, wieder zusammengetroffen wären.

Die neuen Pferde sahen prächtig und kräftig aus und standen, Heu und Gerste fressend, in einer langen Reihe neben den Mauleseln und den Veteranen am Fuße einer Mauer (Abb. 295). Sie sollten gut gefüttert werden, denn die Tage der süßen Brote waren bald zu Ende; es würde gut sein, wenn sie Fett ansetzten, von dem sie in bösen Tagen zehren konnten. Alle bestellten Sachen waren in bestem Zustand und in neue haltbare, mit Leder überzogene Kisten verpackt.

295. Die neuen Pferde und Maultiere in Drugub.

Am Morgen des 29. November 1907 kamen drei Tibeter aus dem Rudok-dsong angeritten und schlugen ihr Zelt auf unserem linken Flügel auf. Sieh da, dachte ich, nun geht das Spionieren schon wieder los. Eine Stunde später hörten wir hoch oben im Tale Schellengeläute, das wie Glockenspiel klang. Zwischen den Felswänden wurde der Klang immer stärker, und gewaltiges Klingeln ertönte, als 34 prächtige kleine Maulesel mit Salzlasten an meinem Zelt vorüberzogen. Alle hatten einen Glöckchenring um den Hals, die meisten waren mit roten und blauen Bändern aufgeputzt, und einige hatten vorn an der Brust große rote Quasten hängen, die beinahe die Erde berührten und bei jedem Schritt hin und her baumelten. Es sah hübsch und lustig aus, und das Schellengeläute lockte mich hinaus zu neuen Abenteuern in der Ferne. Im Handumdrehen wurden die Tiere von ihren Lasten befreit und wie eine Herde wilder Esel talaufwärts gejagt, um dort das magere Gras zwischen Graustein und Granit abzuweiden. Die Besitzer mußten Kaufleute sein. Sie kamen nachher in mein Zelt, erhielten Tee und Zigaretten und fragten Abdul Kerim, wohin wir reisen würden. Er antwortete ohne zu lügen: »Nach Chotan«. Ich war es, der log. Doch hätte ich die Wahrheit gesagt, so hätte ich schon nach 14 Tagen festgesessen, und da hätte ich ja ebensogut gleich jetzt nach Hause reisen können.

Wir hatten drei neue Zelte. Die zwei größeren erhielten meine elf Diener, das kleinste, das aber so klein war, daß man unter seiner Firststange nur eben noch aufrecht stehen und ein Bett und zwei Kisten darin unterbringen konnte, wurde das meine. Ich wollte es möglichst klein haben, um es leichter warm halten zu können. Meine ganze Bagage wurde umgepackt. Einige überflüssigen Sachen schenkte ich Robert und dem Pastor Peter in Leh. Die Aussonderung wurde sehr gründlich betrieben, und als dann nur das absolut Notwendige eingepackt war, füllte es bloß zwei Kisten, und dabei enthielt die eine noch zum größten Teil schwedische und englische Bücher, die ich von meiner Schwester Alma und von Oberst Dunlop Smith erhalten hatte. Sowie sie ausgelesen waren, sollten auch sie den Winden geopfert werden. Als ich am Abend mein neues Zeltchen bezog, mich in dem großen Schlafsack mit der Ziegenwolle innen zur Ruhe legte und mir den Lhasapelz noch überdeckte, da lag ich so warm und bequem wie in einem Hotelbett.

Gulam Rasuls Sohn, Abdul Hai, besuchte mich, und mit ihm wurde das Geschäftliche abgemacht. Robert sollte für mein großes Gepäck verantwortlich bleiben, bis er es im Hause des Hadschi Naser Schah abgeliefert hätte. Es bestand aus zehn regelrechten Pferdelasten. In meinen Mußestunden schrieb ich einen ganzen Stapel Briefe, die Robert im Posthaus in Leh abliefern sollte.

Wir hatten nun 21 Maulesel und 19 Pferde, die braune Puppy und einen großen gelben Hund aus Gartok. Alle Maulesel und Pferde, außer meinem und Abdul Kerims Reitpferd, trugen Lasten. Ich ritt meinen kleinen Ladakischimmel (Abb. 305, 306, 307), der sich wieder unglaublich gekräftigt hatte und ebenso munter war als eins der neuen Pferde. Er und noch zwei hatten die ganze große Karawane, die vorigesmal aus Leh ausgezogen war, überlebt. Um sicher zu gehen, daß Abdul Kerim auch genügend Proviant mitnahm, sagte ich ihm, er solle nicht denken, daß ich wie gewöhnliche Karawanen den geraden Weg einschlagen wolle. Es könne sein, daß ich Abstecher nach rechts und links machte und manchmal wochenlang stilläge. Er solle sich daher auf 2½ Monate mit Gerste für die Tiere versehen, und er sei verantwortlich, daß der Vorrat, den wir mitnähmen, auch ausreiche. Es ist aber dumm, sich auf andere zu verlassen! Das ganze große Gepäck aus Simla, das Silbergeld und die Konserven, machten vier Lasten aus; Gulams Küchengeschirrkisten zwei; das Zelt, die Bettsachen und die Habe der Leute waren auch einige Lasten; alle übrigen Tiere sollten mit Reis, Gerste und Tsamba beladen werden. Wir nahmen auch 25 Schafe aus Tankse mit.



305, 306, 307. Mein weißer Ladaki.

In der Nacht zum 3. Dezember hatten wir 23,4 Grad Kälte! Am nächsten Morgen wurde das ganze Gepäck verstaut und von Kulis das Tal hinab nach Schejok getragen. Meine beiden Zeltkisten trugen zwei Leute, die an Kräften wirkliche Bären waren. Die Tiere trugen nur ihre neuen Packsättel. Eine Gruppe nach der anderen zog ab, und zuletzt blieb ich allein zurück. Da schüttelte ich meinem treuen Reisekameraden Robert die Hand, dankte ihm für seine unschätzbaren Dienste, seine Ehrlichkeit, seinen Mut und seine Geduld, bat ihn, die Missionare, Doktor Neve und das warme Indien zu grüßen, nahm auch Abschied von dem redlichen Rub Das und all den anderen, setzte mich in meinem neuen Ladakisattel auf meinem treuen Schimmel zurecht und ritt in Begleitung Anmar Dschus nach dem Schejoktal hinunter. Ich war nun der einzige, der von der ursprünglichen Karawane geblieben war, und war nur von Männern umgeben, die mir völlig fremd waren. Aber auch ich war ihnen fremd, und sie hatten keine Ahnung von den Tollheiten und Abenteuern, auf die ich mit ihnen auszuziehen beabsichtigte! Der Wind jedoch war immer noch derselbe, und auch dieselben Sterne wie damals funkelten noch immer in den stillen, kalten tibetischen Nächten vom Himmel herab. Ganz einsam würde ich also nicht sein!

Nach Schejok sind es wenig mehr als 10 Kilometer, und dennoch nahm die kleine Strecke beinahe acht Stunden in Anspruch. Sechsmal muß man über den Fluß setzen, der sich gleich unterhalb des Dorfes Drugub tief in einen engen Hohlweg zwischen Granit- und Gneisfelsen eingräbt. Der erste Übergang war leicht, dort war der Fluß über Nacht zugefroren, und obwohl das Eis knackte, kamen wir doch auf einem mit Sand bestreuten Fußweg hinüber. Beim zweiten Übergang war der Fluß zwar offen, aber breit und seicht, und die Eisränder seiner beiden Seiten waren mit Sand bestreut worden. Der dritte, wo wir wieder nach dem rechten Ufer hinüber mußten, war schon recht ungemütlich, weil die in der Mitte scharf abgeschnittenen Eisränder überschwemmt waren infolge einer Eisstauung, die weiter abwärts eingetreten war. Man kann sie also nicht mit Sand bestreuen und muß selbst aufpassen, daß man nicht kopfüber aus dem Sattel stürzt, wenn das Pferd mit den Vorderfüßen in das metertiefe Wasser hinabsteigt. Nicht viel angenehmer ist es, wenn es auf den gegenüberliegenden Eisrand hinaufspringt und erst mit den Füßen hin und her rutscht, ehe es auf dem glatten Eis festen Fuß fassen kann.

Unterhalb dieser Stelle war der vierte Übergang, der schlimmste; hier hatte der ganze Zug haltgemacht. Am rechten Ufer, wo wir uns befanden, war der Fluß breit und tief und hatte eiskaltes, dunkelblaues, kristallklares, sich schlängelndes Wasser, am linken Ufer aber lag ein breiter Eisrand. Suän, ein hochgewachsener, schwarzbärtiger, sehr jüdisch aussehender Mann, untersuchte die Furt mit entblößtem Oberkörper zu Pferd. Dabei geriet er in so tiefes Wasser, daß sein Pferd zu schwimmen begann; er selbst sprang nun auch in den Fluß hinein und schwamm nach dem Rand des Eises hin, wo ihm das Hinaufklettern nur mit großer Mühe gelang. Der arme Kerl! Mich fror, wenn ich ihn nur ansah; er war ganz unter Wasser gewesen.

Vier der anderen versuchten es ein wenig weiter flußaufwärts und kamen hinüber, aber auch bis an den Hals eingetaucht. Darauf wurde die ganze Herde Maulesel und Pferde in den Fluß hineingejagt; die Pferde machten es am besten. Von einem Maulesel glaubte ich bestimmt, daß er verloren gehen werde. Er versuchte es nicht einmal, sich auf den Eisrand hinaufzuschwingen, und entschloß sich erst dazu, als er von unserem Ufer aus mit Steinen bombardiert wurde. Und als er endlich droben war und der Spur der anderen folgte, krachte das Eis unter ihm, er brach wieder ein und lag wie eingegossen da. Alle fünf Leute mußten ihn wieder herausziehen und ihn dann über das Eis schleppen, bis er auf festen Boden kam.

Kaum 100 Meter weiter abwärts ist der fünfte Übergang. Zwischen beiden Ufern steht ein steiler, glatter, vorspringender Felsen, dessen Fuß der Fluß bespült. Man kann jedoch in kleinen Spalten und über einige unbedeutende Vorsprünge hinweg über den Felsen hinüberkommen und so die beiden gräßlichen Furten umgehen. Hier wurde sämtliches Gepäck von den Leuten hinüber getragen, und ich selber legte den Weg über die Felsen barfuß zurück; ein kleines Ende jenseits der Wand trug mich dann ein starker Mann über glattes, überschwemmtes Eis. Hier überlegten wir uns die Geschichte erst gründlich, während die Tiere wieder durch so tiefes Wasser, daß sie beinahe schwammen, nach der anderen Seite getrieben wurden. Keines von ihnen blieb bis zur Schwanzwurzel trocken, den meisten aber reichte das Wasser über den Rücken. Die armen Tiere standen zitternd auf einem Haufen und die ihnen von den Seiten herabhängenden Eisklumpen klapperten wie Kastagnetten. Wir zündeten Feuer an, damit die fünf Leute, die im Wasser gewesen waren, sich auskleiden, trocknen und von Kopf bis zu Fuß anders anziehen konnten.

Dann ging es wieder eine Strecke abwärts bis an einen Punkt, wo der schwere Proviant am Ufer aufgestapelt lag und wo die armen Tiere, ehe sie ihre Körperwärme wieder hatten, von neuem in das eisige Wasser hinein sollten. Hier mußte das Gepäck über den Fluß getragen werden, und zwar von den splitterfasernackten Männern, die mit Stäben in der Hand zwischen den tückischen, rundgeschliffenen Blöcken des Flußbettes durchbalancierten. Ein älterer Mann wurde, als er halb hinüber war, von einem Krampf befallen und konnte keinen Schritt weiterkommen. Zwei mutige Jünglinge sprangen ins Wasser und schleppten ihn ans Land. Ein paar Maulesel, die weder durch Bitten noch Drohungen dazu gebracht werden konnten, freiwillig ins Wasser hineinzugehen, mußten an einem Strick hinübergezogen werden. Ich selbst hatte einen Lotsen vor meinem Pferde, das bis zur Hälfte des Sattels naß wurde. Man muß daher die Beine so hoch hinaufziehen wie irgend möglich; in dieser Stellung ist es recht schwierig, Balance zu halten, wenn das Pferd zwischen den Blöcken die unerwartetsten Kuhsprünge macht! Als ich mit heiler Haut über die letzte Furt gelangt war, riefen die Männer so laut Hurra, daß es von den Bergen widerhallte; die Folgen meines Fußbades neutralisierte ein sprühendes Feuer. Jeder Mann, der frostbebend, triefend und blaugefroren herüberkam, mußte sich sofort ans Feuer setzen. Ich konnte nicht begreifen, daß sie nicht ganz erfroren waren.

Dann ritten wir in der Dämmerung bergauf und bergab über die Halden, und es war pechfinster, ehe freundlich lodernde Feuer uns anzeigten, daß wir uns in der Nähe des Dorfes Schejok befanden. Um sie versammelten wir uns in der Reihenfolge, in der wir ankamen, und erfreuten uns an der von ihnen ausstrahlenden Wärme. Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, daß wenn mich jetzt Verfolger von der englischen Seite her suchten, sie wenigstens ein recht abkühlendes Bad nehmen müßten, ehe sie mich fänden!

In der Nacht hatten wir nur -9,2 Grad, aber wir befanden uns hier auch nur auf einer Höhe von 3769 Meter. Am 5. Dezember blieben wir in Schejok, um die Packsättel zu trocknen und damit die Tiere sich nach dem anstrengenden Tage ausruhen konnten. Am Abend hatten die Leute ein Abschiedsfest veranstaltet – denn Schejok war das letzte Dorf in Ladak. Sobald die Trommeln und Flöten riefen, kamen alle Frauen und Mädchen der Gegend zum Tanz.

Am 6. Dezember sagten wir unseren letzten Freunden Lebewohl und zogen die Halden hinunter nach dem Grund des Schejoktales, einige 20 Meter tiefer als das Dorf; es war der tiefste Punkt, den wir auf lange hinaus berührten. Denn von hier aus stiegen wir nördlich das Tal hinauf, das der große Nebenfluß des Indus ausgegraben hat. Von Weg und Steg kann nicht die Rede sein; hier gibt es nichts als Schutt und rundgeschliffene Blöcke, aber die Landschaft ist wunderbar schön, und riesige Granitfelsen erheben sich auf beiden Seiten. Fünfmal überschritten wir noch den Fluß, der etwa 12 Kubikmeter Wasser führen mochte und Eisränder hatte, deren Breite wechselte. Ein einsamer, ausgehungerter uns begegnender Wanderer aus Jarkent erhielt eine Tsambamahlzeit. Zwischen den in Sand eingebetteten Büschen von Tschong-jangal, wo ich schon im Jahre 1902 zu Gast gewesen war, schlugen wir in 3744 Meter Höhe das Lager auf.

Jetzt waren wir ganz unter uns. Nur noch ein nicht zu uns Gehörender befand sich bei der Karawane, der Schejoker Tubges (Abb. 300), der während der ersten Tagereisen die Aufsicht über unsere Schafe, besonders bei den Furten, führen sollte. Abends hatte ich eine Unterredung mit Abdul Kerim, Kutus (Abb. 299) und Gulam. Jetzt sagte ich ihnen, daß ich nicht auf der gewöhnlichen Straße nach Chotan ziehen wolle, weil sie mir schon bekannt sei. Wir würden einen östlicheren Weg einschlagen, und es handle sich jetzt nur darum, je eher je lieber auf das Plateau hinaufzukommen. Sie antworteten, daß Tubges die Gegend genau kenne. Er wurde zur Beratung zugezogen. Wie wäre es, wenn wir durch das Tschang-tschenmo-Tal nach Pamsal und dem Lanek-la hinaufzögen? »Nein,« antwortete er, »das ist unmöglich, bis Oro-rotse kann man kommen, dann aber wird das Tal so eng wie ein Korridor, und Eiskaskaden und Blöcke bedecken den Talboden. Auch ohne Lasten können Tiere dort nicht durch.« Nun war es klar: ich mußte im Schejoktal aufwärts gehen und eine Gelegenheit abpassen, um nach Osten abzuschwenken.

300. Tubges.

299. Kutus.

Am 7. ging es also zwischen herrlichen Berggiebeln weiter, stumm und feierlich, wie ägyptische Pyramiden, wie Dome oder Festungstürme. Zwischen ihnen stürzen die Schuttkegel nach dem Talboden ab, wo ihre Basis vom Hochwasser der Sommerflut angefressen und zu senkrechten Wällen abgeschnitten wird. Es muß ein prachtvolles Schauspiel sein, wenn die trüben, donnernd einherrollenden Schmelzwasser des Karakorum, die sich mit ungeheurer Gewalt einen Weg nach dem Indus hinab suchen, dies ganze Tal anfüllen. Ein wohl 2000 Kubikmeter mächtiger Block ist abgestürzt; er ist beim Fall geborsten, als wenn ein Riese ihn mit seiner Axt gespalten hätte; man glaubt oben auf den Höhen die durch ihn entstandene Lücke zu erkennen. Viermal ging es wieder über den Fluß, der ziemlich enge Eingang des Tschang-tschenmo-Tales blieb auf der rechten Seite liegen. Wir lagerten zwischen Dünen von Kaptar-chane. In der Nacht sank die Temperatur auf -16,4 Grad.

Der Weg ist entsetzlich anstrengend; nur Geröll und Blöcke von grauem Granit, an denen die Pferde sich die Hufeisen abnutzen. Wieder gingen wir zweimal über den Fluß und schlugen die Zelte in der Oase Dung-jeilak auf, wo eine erschöpfte Karawane aus Chotan sich bereits niedergelassen und einen Boten nach Nubra geschickt hatte, um Hilfe beim Transport zu erhalten, da mehrere ihrer Pferde verendet waren.

Solange es noch Weide gab, konnten wir die Sache mit Ruhe ansehen und kurze Tagesmärsche machen; bald genug würde das Gras ja aufhören, und dann konnten wir uns ein wenig mehr beeilen. Wir ruhten also einen Tag aus, als der Kaufmann Muhamed Rehim aus Chotan mit seiner Karawane in der Oase ankam. Er blieb aber nur eine Stunde – er sehnte sich nach wärmeren Gegenden und war froh, daß er den Kara-korum-Paß hinter sich hatte. Er gab mir den dringenden Rat, mit dem Übergang bis zum Frühling zu warten, da der Schnee auf dem Paß höher als gewöhnlich liege. Auch einer seiner Karawanenleute trat an mich heran und schenkte mir eine Handvoll gedörrter Pfirsiche. »Kennt der Sahib mich noch?« fragte er. »Freilich, du bist ja Mollah Schah!« Der gute Kerl, der jetzt 57 Jahre alt und dessen Bart noch mehr ergraut war, hatte sein Heim in Tschertschen nicht wieder besucht, seit er im Frühling 1902 aus meinem Dienst getreten war. Welch seltsames Wanderleben voller Arbeit und Anstrengung führen doch diese Asiaten! Er bat mich flehentlich, ihn doch wieder anzustellen, ich aber sagte ihm, er solle froh sein, nach Ladak hinunterziehen zu können, statt jetzt mitten im eisigen Winter nach dem scheußlichen Paß zurückzukehren. Es wäre allerdings angenehm gewesen, einen alten bewährten Reisegefährten bei mir zu haben. Aber nein, er paßte nicht zu meiner Ladakigesellschaft. Mollah Schah erzählte mir auch noch zu unserer Ermutigung, daß eine große Karawane aus Chotan auf dem Paß 52 Pferde verloren und den größten Teil der Waren dort habe zurücklassen müssen!

Noch argwöhnte keiner meiner Leute meine wirklichen Pläne. Solange wir uns auf der großen Winterstraße nach Ostturkestan befanden, mußten alle glauben, daß Chotan mein Ziel sei. Dies hatte auch den Vorteil, daß alle, denen wir begegneten, in Ladak erzählen würden, daß sie uns auf der großen Heerstraße gesehen hätten; es würde also kein Verdacht entstehen können.

10. Dezember. Es wird kälter, das Minimum beträgt jetzt -19,1 Grad. Mein Curzonhut wurde im Morgenfeuer verbrannt. Statt seiner setzte ich eine große Pelzmütze auf, die mir Muhamed Isa noch genäht hatte, und umwand sie mit einer Binde als Schirm gegen die Sonne. Ruhig fließende, abgeschnürte Flußarme sind mit glänzendem Eis bedeckt, sonst ist der bedeutend kleiner gewordene Fluß beinahe offen. Beim Lager in Tscharvak stürzt ein Quellbach in hellklingender Kaskade die Felswand herab; aber die Kälte tut, was sie kann, ihn zum Schweigen zu bringen. Die Tiere wurden die Abhänge hinaufgetrieben, wo das Gras besser war. Ein riesiges Feuer wurde angezündet als der Tag auf die Neige ging und eine dünne Mondsichel am Himmel stand. Wo die Tiere bergauf gegangen waren, gab es aber in der Nacht einen donnernden Bergrutsch, einige Blöcke rollten sogar so, daß sie zwischen unseren Zelten liegen blieben. Es war ein gefährlicher Platz.

Auf dem Wege nach Julgunluk hatten wir einen kalten Marsch. Wenn dichte Schneewolken den Himmel verdecken, der Wind dem Wanderer gerade ins Gesicht weht und die Temperatur um ein Uhr -9,5 Grad beträgt, dann fühlt man die Kälte und bindet ein dickes Halstuch ums Gesicht. Das Tal lag tot und verlassen. Nur einen Hasen, einen Adler und einen Raben sahen wir bisher; der Rabe begleitete uns von Lager zu Lager! Sechsmal überschritten wir den Fluß; die braune Puppy wird hinübergetragen, aber der gelbe Hund kann sehen, wie er hinüberkommt; jedesmal, wenn er in das kalte Wasser hinein muß, heult er jämmerlich.

Auch in Julgunluk, auf 4101 Meter Höhe, lagerten wir einen Tag. Jetzt ging aber die Nachtkälte schon auf -21,2 Grad herunter! Dies war die letzte wirklich freundliche und angenehme Oase, die wir berührten. Während des Ruhetags hörten wir die Pferde behaglich auf den Weideplätzen wiehern und die Schafe vergnügt blöken. Die Proviantlasten wurden schon kleiner; wir konnten daher vier Pferde mit gutem knorrigem Brennholz beladen. Auf der rechten Talseite erhebt sich ein schneeiger Kamm; schon um zwei Uhr verdeckt er die Sonne, aber sie beleuchtet den Schnee noch lange, nachdem das Tal schon in tiefem Schatten liegt; der Himmel ist wolkenlos blau. Abends singen die Leute am Feuer genau dieselben Melodien wie ihre Vorgänger. Die Wintertage sind kurz, aber sie erscheinen dem, der sich in Sehnsucht und Ungewißheit verzehrt, doch unendlich lang. Schon um acht Uhr wird es im Lager still; um neun bringt mir Gulam das letzte Kohlenbecken, nachdem ich die meteorologischen Instrumente abgelesen habe. Wie sehne ich mich aus diesem eingeschlossenen Tal nach dem Plateaulande hinauf! Hier gehen wir nach Nordnordwesten, und ich sollte doch nach Osten und Südosten ziehen!

Könnten wir nur in einem der östlichen Täler einen Weg nach Tschang-tang hinauf finden, so würden wir Zeit und manchen Schritt sparen.

Auch am 13. Dezember spähten wir vergeblich nach einem solchen Weg aus. Noch zweimal überschritten wir den Fluß auf seiner Eisdecke. Bei der zweiten Furt kam die ganze Karawane trocknen Fußes hinüber, nur mein kleiner Schimmel brach ein, und ich erhielt dabei ein Fußbad. Nach einem dritten Übergang lagerten wir in öder Gegend, dem Tale Schialung gerade gegenüber (Abb. 308). Es sah vielversprechend aus. Tubges und Kutus wurden talaufwärts geschickt, um das Gelände auszukundschaften. Spät abends kehrten sie mit dem Bescheid zurück, daß man zwar ziemlich weit talaufwärts ziehen könne, das Tal dann aber wegen tiefer Bassins, vielen Eises und großer Felsblöcke, ganz wie im Drugubflusse, unpassierbar werde! Wir mußten also unseren Weg nach dem Kara-korum-Paß noch fortsetzen. Dies vergrößerte das Risiko der Karawane, denn es vergrößerte die Länge des Weges; aber es verringerte die Gefahr der Entdeckung, denn wir konnten, wenn wir einmal nach Tibet hineingelangt waren, die nördlichsten Nomaden ganz umgehen.

308. Berg bei Sschialung im Schejoktal.
Skizze des Verfassers.

Nun bat Tubges, ob er mich nicht bis zu Ende begleiten dürfe, und seine Bitte wurde von allen anderen eifrig befürwortet. Ich nahm ihn um so lieber mit, als er ein geschickter Jäger sein sollte. Ich hatte jetzt zwölf Leute und war selbst der dreizehnte in der Karawane, aber wir waren nicht abergläubisch!


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