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Einundvierzigstes Kapitel.
Ein kurzer Besuch in Nepal.

Der 22. Juni war es, an dem ich vom Plattformpaß des Kore-la einen verstohlenen Blick auf das Land Nepal werfen und versuchen wollte, zwischen den weißen Wolken einen Schimmer von dem 8130 Meter hohen Gipfel des Dhaulagiri zu erhaschen. Aber der Morgen war trübe, schwere Wolken lagen wie Matratzen über der Erde, und von den umliegenden Bergen war nichts zu erblicken. »Wir warten, bis es sich aufklärt«, war die einzige Instruktion, die ich geben konnte. Doch gerade in dem Moment kam ein Milchmädchen aus einem Lager von 20 Zelten, die wir in der Nähe liegen sahen. Die Leute waren Untertanen von Nepal, lagerten aber auf der tibetischen Seite des Passes. Das Mädchen erzählte, daß wir von den ersten fest angesiedelten Dörfern und Gärten nur eine kurze Tagereise entfernt seien und daß man von hier in zwei Marschtagen nach der Sommerresidenz Lo Gapus gelange.

Da war es entschieden: »Wir können ebensogut die Südseite des Passes hinunterreiten, als hier oben wartend im Winde liegen.« Gesagt, getan! Die Zelte werden zusammengeschlagen, die Tiere beladen, wir reiten längs der östlichen Talseite langsam nach dem Kore-la hinauf, der auf der tibetischen Seite keine Ähnlichkeit mit einem regelrechten Paß hat, denn das bald mit Gras bewachsene, bald aus unfruchtbarer, loser Erde bestehende Terrain scheint völlig eben. Von den Schneebergen der westlichen Talseite ist nur der dunkle Fuß sichtbar; die Wolkenschicht liegt unmittelbar über dem Erdboden – man hat das Gefühl, als ob man sich den Kopf an der Decke stoßen werde. Eine Hausruine, wo vielleicht früher ein Grenzwächter gewohnt hat, ein paar lange Manis, Scherben und lose Blöcke von Konglomerat; eine Karawane kommt von Nebuk aus der Tiefe der Täler heraufgezogen.

Vergebens schauen wir uns nach der Wasserscheide um; erst an der Hand der Rinnsale, die sich vereinigen, um nach Süden zu fließen, finden wir sie. Hier zünden wir ein Feuer an, und ich zeichne (Abb. 235) und messe. Die Aussicht ist staunenerregend, jedenfalls ein Relief, wie wir es lange nicht gesehen haben. Wohl sind die mächtigen Schneeberge im Süden, die noch gestern die Wolken durchbrachen, jetzt verhüllt, aber unsere Täler fallen schroff ab und vereinigen sich zu einem größeren Tal, in dessen Tiefe Rasenplätze und Felder intensiv frühlingsgrün in der ewig grauen, gelben und roten Berglandschaft aufleuchten. Dort unten scheint die Sonne und hinter uns über dem Brahmaputratal ist der Himmel klar; nur hier auf dem Paß und um alle die Schneeberge schweben undurchdringliche Wolken. Von dem westlich unseres Aussichtspunktes liegenden Gebirgsjoch gehen unzählige Täler aus; die Oberfläche der Rücken zwischen ihnen ist beinahe eben oder fällt allmählich nach Südosten ab, die Täler aber sind tief wie Cañons in das Gestein eingeschnitten, und die Frontspitzen stehen querabgehauen am Eingang der Talknoten. Vielleicht erheben sich einige der naheliegenden Himalajagipfel wie Felseninseln aus dem Wolkenmeere – hier und dort scheint ein Reflex sonnenbeleuchteter Firnfelder einen Versuch zu machen, den Wolkenschleier zu durchdringen.

235. Aussicht vom Kore-la nach Südwesten.

Wir stehen auf der Grenze zwischen Tibet und Nepal. Hinter uns im Norden haben wir das flache, ebene Land am Südufer des Tsangpo. Vom Flusse sind wir nur 96 Meter nach dem Kore-la, dessen Höhe 4661 Meter beträgt, hinaufgestiegen. Und vom Paß geht es Hals über Kopf nach dem Kali Gandak hinab, einem Nebenfluß des Ganges. Wenn man einen Kanal durch den Kore-la grübe, könnte man den oberen Brahmaputra zwingen, ein Nebenfluß des Ganges zu werden! Nordindien bedarf des Irrigationswassers, aber vielleicht wäre der Gewinn gering, da der Brahmaputra in Assam um ebensoviel verringert würde, wie sich der Ganges vergrößerte. Tibet würde dabei verlieren und eine Menge Dörfer an den Ufern des Kali Gandak würden fortgeschwemmt werden. Von Norden her würde sich ein neuer Einfallsweg in Indien erschließen – vielleicht ist es daher für alle Teile das beste, wenn man die Flüsse so läßt, wie sie sind! Die hier angedeutete Veränderung durch menschliche Kunst wird ihrerzeit schon von selbst eintreten. Denn die Fühlfäden des Kali Gandak setzen ihre Erosion im Gebirge nach Norden hin in viel schnellerem Tempo fort, als die Erosion des Tsangpo in seinem Tale fortschreitet. Einmal im Laufe der Zeit, vielleicht in hunderttausend Jahren, wird der am weitesten nach Norden vorgeschobene Fühlfaden des Gangessystems doch das Ufer des Tsangpo erreichen, und dann tritt zunächst eine Gabelung ein, die mit der Zeit in eine vollständige Veränderung des gegenseitigen Verhältnisses der beiden Flußgebiete und ihres Areals übergeht.

Jetzt sind wir in Nepal und gehen zu Fuß die Abhänge hinunter. Hier hat man wenig getan, um den Weg zu verbessern. Gelegentlich ist ein hinderlicher Granitblock beiseite gewälzt worden und dadurch eine lückenhafte Brüstung entstanden; sonst hat der Karawanenverkehr durch sein Austreten der Straße das meiste getan. Es ist ein angenehmes, leichtes Gefühl, bergab nach Süden zu gehen, den immer dichter werdenden Luftschichten entgegen; es wird wärmer und man atmet leichter; das Grün nimmt zu, verschiedenfarbige Blumen prangen im Grase. Wir denken so wenig als möglich daran, daß wir uns alle diese Abhänge auch wieder hinaufarbeiten müssen; hinab, hinab laßt uns ziehen, um, wenn auch nur 24 Stunden lang, ein Sommerleben zu führen und das wüste Tibet zu vergessen. Auf dem Paß wehte es vor einer Stunde eisig kalt, jetzt spüren wir linde Lüfte, die liebkosend über die Höhen hinfahren. Robert atmet die laue Luft in vollen Zügen ein und glaubt das Säuseln eines Willkomms aus Indien zu hören; Tsering und Rabsang werden lebendig und vergnügt; und ich selber trage mich mit dem Gedanken, dem Könige des Südlandes einen Besuch abzustatten.

Drei Reiter reiten langsam die Abhänge hinauf. Zwei von ihnen lassen ihre Gebetmühlen schnurren. Sie machen ein erstauntes Gesicht. Wir fragen, woher und wohin? Sie wollen nach dem Zeltdorf droben auf dem Plateau. Als ihnen ihre Frage, wer wir denn seien, beantwortet worden ist, steigen sie ab und bitten um Entschuldigung, daß sie uns nicht zuerst gegrüßt hätten. Ich verzieh es ihnen gern, denn mittlerweile sah ich ja wie ein zerlumpter Strolch aus. Sie rieten uns, in einem der Höfe Lo Gapus zu übernachten und luden uns ein, sie doch auf dem Rückwege in ihrem Zeltdorf zu besuchen.

Das Gefälle nimmt ab, und wir gelangen in eine Talerweiterung, in der drei Täler zusammenstoßen: Kungtschuk-kong, dem wir gefolgt sind, in der Mitte, Pama im Osten und Damm im Westen. Nur aus dem Dammtal kommt ein kleiner, Stromschnellen bildender Bach. Wir ziehen auf der rechten Seite des Vereinigungstales weiter. Auf derselben Seite mündet ein sehr großes Tal namens Jamtschuk-pu, von dessen Bach ein Bewässerungskanal nach tiefer liegenden Dörfern und Äckern hinabführt. Im Dorfe Jamtschuk sehen wir die ersten Häuser und Bäume! Auf der linken Seite des Tales liegt ein großes Kloster mit Baumalleen und Manihaufen in langen Reihen; es soll Gubuk-gumpa heißen. Die Zahl der Felder, Rasenflächen und Gebüsche nimmt zu. Dann folgt eine Reihe Dörfer auf der linken Talseite. Das Tal ist kaum einen halben Kilometer breit.

Unterhalb des linken Nebentales Gurkang-pu bilden die Geröllbetten senkrechte Wände mit zahlreichen Höhlen und Grotten; diese werden augenscheinlich zu Wohnungen benutzt, denn sie stehen mit den vor ihnen liegenden Häusern und Mauern in Verbindung. Weiter unten haben wir das von Gärten umgebene Dorf Nebuk. Die Architektur ist die gewöhnliche tibetische: weißes und rotes Mauerwerk, flache Dächer und als Schmuck Wimpelstangen. Die Vegetation wird reichhaltiger und die Felder größer. Wir kommen oft an Turm- und Mauerruinen vorüber, vielleicht noch Andenken aus der Zeit, als Nepal mit Tibet in Fehde lag. Jetzt trägt das dicht bewohnte und reich angebaute Tal friedliches Gepräge, und keine Grenzwächter hindern uns am Weiterziehen.

Längs der Straße liegen die gewöhnlichen Manis, und ein großer, roter Tschorten oder »Stupa« hat einen Anflug indischer Bauart (Abb. 236). Unterhalb dreier, nebeneinander liegender Dörfer verengt sich das Tal ein wenig. In der Nähe eines einsamen Gehöftes lagerten wir in einem herrlichen Garten mit prachtvoll grünen Bäumen inmitten wogender Kornfelder! Eine Frau klärte uns darüber auf, daß dieser Platz, den sie Nama-schu nannte, dem Lo Gapu gehöre, und daß ohne seine Erlaubnis niemand in dem Garten weilen dürfe. Aber wir richteten uns trotzdem häuslich darin ein, atmeten mit Entzücken die linde, dichte Luft und hörten den Wind in den Kronen der Bäume sausen.

236. Ein Tschorten bei Lager Nr. 182 in Nepal.

Bald stellten sich zwei Männer bei uns ein, die in Lo Gapus Diensten standen, und verlangten Aufklärung über unsere Persönlichkeiten. Sie sagten, wir befänden uns in dem Distrikt Tso und der Fluß heiße Tso-charki-tsangpo. Ein Dorf, das wir gleich unterhalb unseres Lagers liegen sähen, heiße Njanjo; von dort aus habe man nur noch zwei Ausläufer des Gebirges zu überschreiten, um nach Mentang zu gelangen, der Residenz Lo Gapus. Dieser sei ein Grenzhäuptling, der dem Maharadscha von Nepal nicht tributpflichtig sei, aber die Verpflichtung habe, Seiner Hoheit alle fünf Jahre einen Besuch abzustatten. Er habe 500 Untertanen. Noch drei Tagereisen weit südwärts sei die Bevölkerung lamaistisch und spreche einen tibetischen Dialekt, aus dem man jedoch verschiedene indische und persische Worte heraushören könne.

Nachdem der eine alle die Aufklärungen, die er begehrte, erhalten hatte, ritt er talabwärts, um dem Grenzhäuptling Bericht zu erstatten. Während der Zeit hielten wir Rat. Ich hatte nur Robert, Tsering, Rabsang und zwei Tibeter bei mir, und meine Kasse bestand nur aus 24 Rupien! Der Gedanke, noch einige Tage südwärts durch die tiefen, zerklüfteten Täler des Himalaja ziehen zu können, war eine große Versuchung. Hier, im Lager Nama-schu, befanden wir uns auf einer Höhe von 3806 Meter, und waren also vom Kore-la 855 Meter herabgestiegen (Abb. 237). Mit jeder in südlicher Richtung führenden Tagereise würden wir in immer dichtere Luft gelangen und waren schon jetzt nicht mehr weit von den schattigen Nadelholzwäldern. Aber würde es klug sein, noch weiter nach Nepal hineinzugehen? Ich zerbrach mir den Kopf darüber und überlegte die Sache hin und her. Weiter als zwei Tage konnte meine Kasse ja nicht reichen! Unsere Pferde gehörten dem Gova von Tradum, und wir hatten mit ihm vereinbart, daß wir vom Kore-la nur nach Nepal hineinschauen würden; jetzt hatten wir schon die Grenze überschritten und waren in ein Land hinabgestiegen, wo wir uns viel weniger sicher als in Tibet fühlten. Ohne es zu ahnen, konnte ich mich in einer Mausefalle fangen! Lo Gapu konnte uns festhalten und sich von Katmandu Verhaltungsbefehle erbitten. Die größte Gefahr aber war, daß die Tibeter uns durch Blockieren der Grenze den Rückzug unmöglich machen und sagen konnten, daß wir nun, da wir einmal ihr Land verlassen hätten, auch nicht wieder über die Grenze hinein dürften! Und dann würden wir von der Hauptkarawane abgeschnitten sein und meine bisherigen Resultate wären gefährdet. Ich beschloß daher, am folgenden Morgen schon so früh wieder umzukehren, daß Lo Gapus Leute nicht die Zeit hätten, heranzukommen und uns festzuhalten.

237. Landschaft im oberen Nepal.

Aber der Abend war schön und lang, und wir genossen ihn in vollen Zügen unter dem Rauschen der dichtbelaubten Bäume. Ich hatte ein Gefühl vollkommenen Behagens, es atmete sich leicht, das Herz brauchte nicht so angestrengt zu arbeiten wie in Tschang-tang; es fungierte einige Stunden lang ohne Anstrengung; man hatte warme Füße, und die Nacht schliefen wir so schön, wie selten. Denn wenn man in Tschang-tang auch acht Stunden schläft, fühlt man sich beim Aufstehen doch nie erfrischt und ausgeruht; man hat dort nicht den genügenden Gewinn vom Schlaf. Hier dagegen hatten wir nach der Nachtruhe ein uns ganz durchdringendes wohliges Gefühl; die einzige Enttäuschung waren die Wolken, die die gewaltigen Himalajagipfel im Süden und Südsüdwesten verdeckten. Nur gelegentlich traten sie kurz aus den Wolken hervor.

Am 23. Juni saßen wir wieder zu Pferd. Von Lo Gapu hatten wir noch kein Wort gehört. Als der Bote uns verlassen hatte, war er überzeugt gewesen, daß wir talabwärts weiter ziehen würden, und der kleine Potentat wartete jetzt wohl auf unser Kommen. Er mochte warten! Wir ritten langsam wieder bergauf nach dem Kore-la, ließen unsere frühere Straße zur Rechten liegen und lagerten bei Kung-muga.

Ich saß gerade beim Zeichnen, als ein Reiter angeklingelt kam. In der Hand hielt er eine grüne Zeugfahne, also eine Botschaft, chinesisch und tibetisch. Ich war sicher, daß es sich um strenge Maßregeln gegen mich handelte, fand aber, daß es nur ein Ukas aus Lhasa war, an alle Stationen bis Gartok hin: daß man zwei Chinesen, die beauftragt seien, mich ausfindig zu machen, um mit mir zu »reden« und mir einen Brief von Exzellenz Lien Darin zu überbringen, überall Pferde und Lasttiere zur Verfügung zu stellen habe. Man könne sie jeden Augenblick erwarten.

Der Sommertag war so trüb als möglich. Das ganze Land lag in undurchdringlichem Nebel eingebettet, nicht einmal die benachbarten Zelte waren sichtbar. Auch als er sich ein wenig verzogen hatte, blieben die Berge noch unsichtbar. Auf vorzüglichem Wege ritten wir nach Nordwesten und erstaunten über die zahlreichen Manis mit ihrer dichten, feinen Reliefschrift auf violettem und dunkelgrünem Schiefer; andere Gebetsteine haben 3–4 Zentimeter hohe Schriftzeichen, während die allergrößten 20 Zentimeter hoch sind, so daß auf jeder Platte nur ein Schriftzeichen Platz findet. Dann liegen sechs Platten in einer Reihe, um die heilige Formel » Om ma-ni pad-me hum« zu bilden. Auf einigen Opfersteinen waren die Schriftzeichen rot und aus runden Granitstücken mit weißem Grunde ausgehauen. Das größte Mani war 80 Meter lang (Abb. 238).

238. Manihaufen bei Kung-muga.

Wir ritten an reichen Zeltlagern mit großen Herden vorüber; Wildesel grasten neben zahmen Yaks. Alle, die uns begegneten, blieben stehen und begrüßten uns. Der Gova von Tradum kam uns entgegen; er machte ein sehr unglückliches Gesicht und zerbrach sich den Kopf, ob Lo Gapu wohl über unsern Besuch in Nepal böse sein werde. Über die kleine Schwelle Tasang-la erreichten wir glücklich Bando in der Nähe des kleinen Sees Tsotot-karpo, wo uns Guffaru mit der Hauptkarawane erwartete.

Am 25. machten wir einen ganz kurzen Marsch nach Tschikum hinauf, von wo aus der Tsotot-karpo noch immer sichtbar war. Wir hatten nur auf einen Tag Proviant, der Gova von Tradum erbot sich aber, uns mehr zu besorgen, wenn wir für die Pferde, die wir mieten müßten, gut bezahlen wollten. Vor den Chinesen, die im Anzug waren, hatte er, wie er sagte, nicht die geringste Angst; sollten sie ihm darüber Vorwürfe machen, daß er uns habe auf dem Südufer des Tsangpo ziehen lassen, so werde er ihnen erwidern, daß es dort leichter sei, uns mit Proviant zu versehen, als auf dem nördlichen. Er war früher Lama in Taschi-gembe gewesen, hatte aber sein Herz an eine Dame verloren; um die Geschichte zu vertuschen, hatte er eine Pilgerfahrt nach dem Kangrinpotsche angetreten, sie war aber doch herausgekommen, und man hatte ihm die Rückkehr verboten. Dann hatte er allmählich doch Karriere gemacht und war nun Häuptling von Tradum und ein ebenso großer Schelm auf profanem Gebiet, als er es auf dem religiösen gewesen war. Mir leistete er jedoch vorzügliche Dienste.

Die Aussicht von unserem hochliegenden Lagerplatz war großartig. Als der Vollmond etwas höher gestiegen war, glänzte der kleine See wie eine silberne Klinge. Die Sonne hatte nur einen Widerschein über dem westlichen Horizont hinterlassen, aber die ganze Brahmaputraebene und die Gebirge von Tschang-tang im Norden traten deutlich in matten, rosigen Farben hervor, die alle feineren Einzelheiten miteinander verschmolzen. Vor dem Mond schwebte eine Wolke mit blendenden, silberweißen Rändern. Ein wenig rechts davon fing eine andere Wolke einen Reflex der Sonne auf und hatte goldene Ränder. Sie waren die Engel des Tages und der Nacht, die um die Herrschaft kämpften. Bald darauf hatte die Nacht gesiegt, und nun glänzte die Mondstraße grell im See; alles andere aber verwandelte sich in gleichmäßigen Nebel.

Als der Tag seine Herrschergewalt wiedererhalten hatte, ritten wir in der Morgenluft durch Wolken von Fliegen, stechenden Mücken und Bremsen bergauf über den Tagu-la und im Tambaktal abwärts. Im Westen entfaltet sich eine großartige Perspektive der nördlichsten Kette des Himalaja, im Nordwesten haben wir die breite offene Ebene des Brahmaputra, durch deren Mitte der Fluß sich wie ein blaues Band schlängelt. Auch an diesem Abend rief das Wiederkehren der Nacht brillante Farbenspiel- und Stimmungseffekte hervor. Leicht, unruhig, dem Auge regungslos erscheinend, aber von höheren Winden wie uralte Gebetswimpel auf einem Paß zerrissen, segelten die Wolken bei Sonnenuntergang am Himmelszelt hin. Der Mond, der Freund aller nächtlichen Wanderer und im Freien Schlafenden, erhellt die Gegend um unsere Zelte herum, zwischen denen der blaue Rauch der Lagerfeuer wie ein Schleier über dem Erdboden liegt. Die Yaks stehen still wie Schatten, nur dann und wann hört man ihre Zähne gegen die Knorpelschwiele des Oberkiefers knirschen. Der Gova von Tradum und seine Diener sagen summend ihre Abendgebete und lassen ihre Gebetmühlen schnurren.

Am Morgen kam ein schnell vorüberziehender Regenschauer, am Vormittag noch einer; wir beobachten alle Anzeichen am Himmel und sehnen uns ebensosehr wie die Tibeter nach Regen, aber nicht nur unsertwegen, sondern auch um der leichtfüßigen Antilopen, der Wildesel und der Bergschafe willen. Über den Gebirgen im Süden sind die Wolken blauschwarz, und von ihnen hängen hübsch geschweifte Fransen und Draperien von eitel Regen herab. Man glaubt zu hören, wie er auf den Steinplatten plätschert und wie neugeborene Gewässer klingend durch die Täler rieseln. Das bißchen Regen, das in unsern Gegenden gefallen ist, vermag die Erde nur auf kurze Zeit anzufeuchten. Es klang gemütlich, als seine Tropfen auf dem Regenschirm des Govas von Tradum und meinem Curzonhut trommelten. Dumpf und feierlich wie das Echo einer Posaune des jüngsten Gerichtes rollte der Donner ringsumher in den Bergen.

Dann überschreiten wir den Närung-tsangpo, kommen auf die gewaltige Talebene des Brahmaputra hinaus und lagern in einer von zahlreichen Nomaden bewohnten Gegend. Der Gova von Nagor war ein hochgewachsener, angenehmer Mensch, der uns Tsamba, Tschang und Gänseeier verschaffte, eine angenehme Abwechslung in unserer ewigen Schaffleischkost. Robert und Schukkur Ali fingen auch Fische. Der Gova erzählte mir, seine Eltern, die in Kham zu Hause seien, hätten einst eine Pilgerfahrt nach dem Kang-rinpotsche gemacht und dabei ihn, ihren kleinen Sohn, entweder aus Vergeßlichkeit oder absichtlich hier zurückgelassen. Der Junge war in den Zelten der wilden Nomaden aufgewachsen und jetzt, obwohl ein Fremdling, Häuptling der Gegend!

Am Morgen des 28. ritten wir nach Namla-gumpa auf den Felsenvorsprung hinauf, von wo aus die Aussicht ebenso umfassend wie lehrreich ist. Am östlichen Fuß des vorspringenden Berges liegt das Dorf Namla (Abb. 239, 240), ein paar elende Steinhütten; hier tritt der Fluß Pung-tschu, der aus dem See Udscham-tso kommt, in die Ebene hinaus. Das Kloster hat einige vergoldete Bronzegötter und sieben Mönche, von denen ein Sechziger schon 50 Jahre in diesen Mauern lebt. Sie sind arm und betteln, erhalten aber auch freiwillige Gaben von den in der Umgegend lebenden Nomaden.

239. Weiber im Dorf Namla.

240. Einwohner des Dorfes Namla.

Über eine Ebene von rissigem Lehmboden, die in der Hochwasserzeit überschwemmt wird, gelangten wir nach dem Lager am Ufer des Tsangpo; der Fluß gleicht einem See; daß dies auch im Spätherbst der Fall ist, geht aus Ryders außerordentlich gewissenhafter und korrekter Karte hervor. Die Breite belief sich hier auf 890 Meter, die größte Tiefe betrug aber nur 0,74 Meter. Man durchreitet ihn daher ungehindert, und die Yakkarawanen gehen ruhig quer durch das Wasser – wie anders weiter abwärts im Osten, wo der zwischen steilen Bergen eingezwängte Fluß reißend und tief ist. Im Spätsommer aber läßt er sich hier oben nicht durchwaten, und man wagt sich nicht einmal mit einem Boot hinüber, der tückischen, beweglichen Sandbänke wegen. Während der Flußmessung, die wir vornahmen, konnten die Ladakis über den Fluß gehen, mit Stangen und Seilen die Breite messen und das Boot stillhalten, als ich die Geschwindigkeit der Strömung untersuchte. Als die Arbeit beendet war, sollte Rehim Ali Robert ans Land tragen, glitt aber auf dem schlüpfrigen Tongrunde aus; beide nahmen ein unerwartetes Bad und wir anderen erhielten Veranlassung zu herzlichem Gelächter.

Am nächsten Tag wurde das empfindliche Gepäck mit dem Boote hinüberbefördert (Abb. 241), alles übrige auf gemieteten Yaks, die plump und schwarz durch das trübe, grauschmutzige Wasser stampften. Auf dem Nordufer ritten wir dann durch eine ungewöhnliche Landschaft. Hier gab es Seen und Sümpfe, die aus Flußarmen entstanden sind und in einem Labyrinth von bis zu 8 Meter hohen Dünen liegen. Wir gehen in allen möglichen Richtungen, um Sanddünen oder tiefere Buchten zu vermeiden, oft aber reiten wir quer durch unangenehme Becken, deren Boden nachgibt; in einigen spürt man eine schwache Strömung, andere haben stillstehendes Wasser. Hier und dort sehen Sandinseln aus dem Wasser heraus, einige sind unfruchtbar, andere tragen Gras und Stauden. Es ist eine gründlich zerrissene, aber abwechslungsreiche und ganz vergnügliche Landschaft. Mücken verfolgen uns in wahren Wolken. Einige Männer gehen als Lotsen voran. Manchmal geraten sie in zu tiefes Wasser und müssen schnell umkehren. Das Hochwasser spült den größten Teil des Flugsandes fort, um ihn weiter unten an den Ufern des Brahmaputra wieder abzusetzen. Wenn aber der Fluß fällt, häuft sich wieder neuer Sand an, und es entstehen neue Dünen. Der Flugsand hat also hier nur eine Raststelle auf seinem Weg nach Osten. Wir lagerten am letzten Ufersee und hörten die Fische im Wasser plätschern. Das ganze Land erinnert an Lop, das Sumpfgebiet in Ostturkestan, und seinen ewigen Kampf zwischen Flugsand und fließendem Wasser. Die Gegend heißt Dongbo. Hier erwarteten mich der Gova von Tuksum und andere Häuptlinge. Der erstgenannte hatte Nachricht erhalten, daß die Chinesen, von deren Nahen wir schon gehört hatten, aus Saka-dsong abgereist und nun auf dem Weg hierher seien. Er glaubte, daß sie noch vor Abend eintreffen würden.

241. Beladen des Boots mit Kisten beim Passieren des Brahmaputra, auf der Reise nach Tuksum.

Am 30. Juni zogen wir einen großen Teil der Tagereise auf der Tasam hin, auf der schon Nain Sing und die englische Expedition gereist waren. Denn ich durfte Tuksum, das in meinem Paß verzeichnet stand, nicht umgehen. Den größeren Teil des Weges begleiteten uns schöne, regelmäßig halbmondförmige Dünen, die mit dem vorherrschenden Wind ostwärts über die Ebene wandern. Sie sind ephemere Erscheinungen, die leben und sterben, aber immer wieder durch andere ersetzt werden. Die Hörner ihres Halbmondes sind stark in der Richtung des Windes vorgeschoben, und das Gefälle der Windseite ist sehr steil, bis zu 17 Grad; die vor dem Winde geschützte Seite ist so steil, wie es der herabrieselnde Sand nur zuläßt.

Auf einem isolierten Hügel, westwärts vom Gandschu-la, erhebt sich Gandschu-gumpa; es steht unter dem Kloster Brebung und hat ein Lhakang mit zwölf Säulen und vier Diwanreihen, nebst zwei großen Trommeln. Die Götterstatuen schauen mild lächelnd auf die Huldigungen herab, die ihnen von Nomaden und Wanderern dargebracht werden. Nur fünf Mönche und ebenso viele Hunde sind in Gandschu zu Hause.

Die ganze Einwohnerschaft Tuksums kam uns vor dem Dorfe entgegen. Mit dem Gova (Abb. 229) wurde vereinbart, daß Guffaru und die Hauptkarawane nach Schamsang ziehen sollten, während ich mit ein paar Begleitern auf unerlaubten Wegen die Südseite des Flusses abstreifte. Am Abend machte mir eine Deputation unserer Ladakis ihre Aufwartung, um anzufragen, ob ihnen Muhamed Isa nicht von seinem ausstehenden Lohn ein Fest geben könne! Das aber fand ich denn doch zu frech, das Geld gehörte ja der Gattin des Verstorbenen; ein Fest könnten sie immerhin veranstalten, und zwar auf meine Kosten, aber es werde nichts weiter als Schaffleisch, Tschang und Tee geben.

229. Weib in Njuku. Skizze des Verfassers.

Und am Morgen des 1. Juli machte mir wieder jemand seine Aufwartung, nämlich fünf junge Betteldirnen, zerlumpt und schwarz, mit Bündeln in Holzgestellen auf dem Rücken und großen Wanderstäben in den Händen. Sie waren, wie so viele andere, am Kang-rinpotsche gewesen und rechneten auf die Rückreise nach Kham, wo ihre Heimat war, noch ein volles Wanderjahr. Sie betteln sich auf dem ganzen Wege von Zelt zu Zelt durch – es muß für die Nomaden eine drückende Last sein, die zahlreichen Pilger zu unterhalten, die auf dieser Straße wandern.

Am 2. Juli sagten wir also Guffaru und seinem Gefolge Lebewohl, ritten in südwestlicher Richtung über die Ebene und schlugen das Lager 191 auf dem linken Ufer des Tsangpo auf, der hier 56 Kubikmeter Wasser führte. Am nächsten Morgen wurde das Gepäck hinübergebracht, und wir hatten zugleich die Ehre, einem vornehmen Lama, den ich in Taschi-lunpo kennen gelernt hatte, über den Fluß zu helfen (Abb. 242). Er trug ein gelbes Gewand mit rotem Mantel und hatte einen kleinen, gelben Holzhut, der wie Metall glänzte. Seine Diener waren mit Flinten und Säbeln bewaffnet und brachten ihr ganzes Gepäck auf Yaks über den Fluß. Sie hatten jedoch das Pech, daß die Yaks in zu tiefes Wasser hineingerieten und zu schwimmen begannen, wobei sämtliches Gepäck natürlich durch und durch naß wurde. Wir halfen auch einem Hirten und einigen Lämmern nach der anderen Seite hinüber, und wären wir noch länger geblieben, so hätten wir wohl den ganzen Tag mit unserem Boot Fährdienste leisten können.

242. Vornehmer Lama in meinem Boot auf dem Tsangpo.

Nun setzten wir über noch zwei Arme, so daß sich für den ganzen Brahmaputra hier 92 Kubikmeter Wasser ergaben. Die Werte, die man erhält, wenn man die Flüsse so nahe an ihrer Quelle mißt, haben jedoch nur untergeordnete Bedeutung, besonders wenn gerade die Schneeschmelze ernstlich begonnen hat. Denn teils steigen gegen Abend, wenn das Schmelzwasser des Tages in das Haupttal hinuntergelangt, die Quellflüsse ganz bedeutend, teils hängt die Wassermenge in hohem Grade vom Wetter ab. Bei den ersten Regengüssen bleiben die Flüsse ziemlich gefühllos; wenn aber der Boden erst durchfeuchtet ist, rinnt das Wasser ab, und die Flüsse schwellen nach einem einzigen Regentag ungeheuer an. Wenn der Himmel bewölkt ist, ohne daß es regnet, fallen sie, bei vollkommen klarem Wetter taut aber die Sonne den Schnee auf und bringt die Flüsse wieder zum Anschwellen.

Es wurde eine lange Tagereise, denn in mehreren Zelten weigerten sich die Leute, uns die Unterstützung, deren wir bedurften, zuteil werden zu lassen, und wir zogen daher weiter nach dem von Süden kommenden großen Nebenfluß Gjang-tschu, der selber mehrere Nebenflüsse vom nördlichsten Kamme des Himalaja aufnimmt.

Ich habe hier keine Zeit, über die Geographie dieser Gebiete auf der Südseite des Brahmaputra zu berichten. Es sei nur gesagt, daß uns während der folgenden Tage niedrige Berge vom Hauptfluß schieden und daß wir erst am 6. Juli in der Gegend Tschärok wieder an seinem Ufer lagerten. Wir hatten mehrere Nebenflüsse hinter uns gelassen, der Hauptfluß führte nur noch 44 Kubikmeter Wasser.

Nach einer kurzen Tagereise vereinigten wir uns wieder mit Guffarus Truppe in Schamsang (4697 Meter) an der großen Heerstraße, wo jetzt 21 Zelte lagen. Die Häuptlinge der Gegend waren sehr entgegenkommend; sie hatten gegen meinen Plan, nach dem Kubi-gangri hinaufzugehen, dessen Schneegipfel im Südwesten sichtbar waren und in dem die Quellen des Brahmaputra liegen sollen, kein Wort einzuwenden. Sie besorgten uns Proviant auf zwölf Tage; wir hatten lange nicht so freie Hand gehabt wie jetzt. Hier hatte man von chinesischen oder tibetischen Verfolgern aus Lhasa noch nichts gehört.


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