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Zweiundsiebzigstes Kapitel.
Die letzten Tage in unbekanntem Lande.

Wir zogen am 19. Juni nach Nordnordosten das allmählich abfallende Tal des Pedang-tsangpo hinunter, bald dicht an dem nicht unbedeutenden Fluß entlang, bald in einiger Entfernung von ihm.

Zur Rechten hatten wir die Sur-la-Kette mit ihren Schneegipfeln und kleinen Gletscherzungen, und fern im Norden zeigte sich ein gewaltiger Kamm, der Ganglung-gangri, der die Fortsetzung des Sur-la-Gebirges ist. Ich fand, daß diese kolossale Bergkette sich, wie ihre Nachbarn im Osten und im Westen, von Nordnordwesten nach Südsüdosten hinzieht und daß die orographische Anordnung diametral entgegengesetzt ist der Vorstellung, die Hodgson, Atkinson, Saunders und Burrard sich von ihr gemacht haben, da alle diese Herren eine einzige, dem obern Brahmaputra parallele Kette rein hypothetisch auf der Karte verzeichnet haben! In Wirklichkeit gerät man hier in ein Labyrinth von Bergketten hinein, von denen jede nur ein Teil des gigantischen Systems des Transhimalaja ist.

Der Weg ist vorzüglich, und nach einem langen Ritt schlagen wir unsere beiden Zelte am Ufer eines Gletscherbaches auf, während Schneeböen und Regengüsse einander ablösen.

Hier müssen wir einen Tag bleiben, damit die freundlichen Nomaden der Gegend uns den Distriktshäuptling heranholen können. Wir hatten nämlich nichts mehr zu essen und mußten alles kaufen, was nur feil war. Er kam, und ich erstand für volle 50 Rupien Proviant; er selber erhielt 20 für seine Güte. Meine Kasse war jetzt beinah leer, und ich sah mit Beben die Zeit kommen, da wir gezwungen sein würden, wie wandernde Juden Uhren, Revolver und Pferde zu verkaufen, nur um uns am Leben zu erhalten! Denn hier in Rigi-tschangma hatte keiner etwas von Abdul Kerim und seinen Begleitern gehört!

Ich konnte mir nicht erklären, was dies bedeute. Er mußte total verrückt geworden sein! Er hatte 2500 Rupien bei sich; war er damit durchgebrannt, oder hatte man ihn überfallen und ausgeplündert? Dem Gova Parvang schickte ich ein Schreiben, worin ich ihm erklärte: wenn er mir unsere Leute nicht binnen einer Woche zur Stelle schaffe, werde er es mit dem ganzen Devaschung und den Mandarinen zu tun bekommen!

Jedenfalls hatte ich schon eine sehr feine Route durch unbekanntes Land hinter mir, und jetzt galt es noch, auch den Schovo-tso zu erobern, von dem ich schon soviel gehört hatte.

Eigentlich hätten wir über die Pedangkette im Westen direkt nach Selipuk gehen müssen. Der Gova aber war nicht schwer zu überreden, und am 21. Juni hatte er neue Yaks und neue Führer bereit, einen jungen Mann und einen zehnjährigen Knaben in blauem Pelz. Mit ihnen hätten wir überallhin durchbrennen können. Aber ich war reisemüde und sehnte mich heim.

Das Tal des Pedang-tsangpo führte uns nach Norden weiter. Es ist etwas Ungewöhnliches, in Tibet ein so großes Längstal von Norden nach Süden anzutreffen, denn sonst liegen sie fast immer in ostwestlicher Richtung und rufen jenen eigentümlichen Faltenparallelismus hervor, der das Land charakterisiert. Sechzehn Zelte wurden passiert; bei den letzten durchwateten wir den Pedang-tsangpo, der auf einem östlicheren Weg nach dem Schovo-tso geht. Lobsang erregte große Heiterkeit, als ihn ein wütender Hund anfiel und er aus Mangel an Steinen mit seinem blanken Messer nach dem Tiere warf; er traf zwar nicht, aber der Hund nahm das Messer zwischen die Zähne und lief damit zum Zelt seines Herrn!

Darauf ritten wir nach dem Paß Abuk-la hinauf, wo die Aussicht ebenso großartig wie lehrreich ist (Abb. 361).

361. Aussicht vom Abuk-la nach Ost bis Südsüdwest mit der Surla-Kette (drei anschließende Teile).
Nach Aquarellen des Verfassers.

Der blaugrüne See Schovo-tso liegt wie der Poru-tso der Länge nach zwischen Nordosten und Südwesten und wird von mächtigen Bergen umrahmt, von denen einige ewiger Schnee bedeckt. In N 30° O sahen wir die Paßschwelle Ka-la, über die der »Goldweg« führt. Auf der Karte eines der Punditen Montgomeries findet man den Namen Ka-la bei einem einzelnen, freistehenden Berggipfel. In Wirklichkeit ist der Ka-la aber das Gegenteil eines Berggipfels, nämlich eine Einsenkung, ein Sattel in einer Bergkette.

Wir lagerten auf dem Südufer des Schovo-tso, dessen absolute Höhe 4784 Meter beträgt; das Wasser ist salzig, und rings am Ufer erblickt man alte Strandlinien in ungefähr derselben Höhe wie beim Poru-tso.

22. Juni. Als wir die Westecke des Schovo-tso verließen, erblickten wir eine gewaltige Yak- und Schafkarawane, die dasselbe Ziel zu haben schien wie wir. Lobsang erfuhr, daß es »Nekoras«, nach dem Kangrinpotsche ziehende Pilger, seien, und daß wir in dem Besitzer der Karawane Sonam Ngurbu, den Statthalter von Tschoktschu, in höchst eigener Person vor uns hatten! (Abb. 335) Wir ließen aber die Karawane hinter uns zurück und ritten nach dem Tela-mata-la hinauf.

335. Sonam Ngurbu, Statthalter der Provinz Tschoktschu.
Skizze des Verfassers.

Da näherte sich uns ein Reiter im Galopp. Schon von weitem gab er uns Zeichen, anzuhalten. Ich erwartete ihn mit stockendem Atem, fest überzeugt, daß er Nachricht von Abdul Kerim bringe. Weit gefehlt! Es war einer der Soldaten Sonam Ngurbus (Abb. 336), der nur unsere Führer fragen wollte, ob eine gewisse Quelle auf dem Weg nach Selipuk in diesem Jahre sprudle oder nicht.

336. Soldat aus Sonam Ngurbus Eskorte.
Skizze des Verfassers.

Sonam Ngurbus Karawane war vom Tabie-tsaka gekommen und hatte von den Unseren nichts gehört. Es war, als habe die Erde sie verschlungen! Ich hatte ihnen doch befohlen, uns in jedem Fall, was ich auch unternehmen würde, am Buptsang-tsangpo zu erwarten! Sie waren entschieden von Räubern geplündert worden, und ich besaß jetzt nur noch 80 Rupien! Ich segnete den Augenblick, in dem ich beschlossen hatte, alle Karten, Aufzeichnungen, Skizzen und Gesteinproben selbst mitzunehmen, als wir uns bei Kamba Tsenams Zelt trennten! Geld würden wir uns schon durch Verkauf von Wertsachen verschaffen können. Und von Selipuk aus konnte ich ja einen Kurier nach Gartok an Thakur Jai Chand schicken.

Vom Tela-mata-la hatte ich noch einmal die wunderbarste Aussicht über beinahe die ganze Sur-la-Kette und über den Gebirgszug des Lavar-gangri südlich von Selipuk. Mit jeder Tagereise, die wir zurücklegen, erhellt und entwirrt sich der orographische Aufbau; bald fehlt nicht mehr viel daran, daß der weiße Fleck in seinen Hauptzügen ausgefüllt ist.

23. Juni. Wieder -3,4 Grad; noch um die Mittsommerzeit fällt die Temperatur unter den Gefrierpunkt!

Durch ein kleines abschüssiges Tal reiten wir nach dem Tajep-parva-la (5452 Meter) hinauf. Der Erdboden ist so von Mäuselöchern durchzogen, daß das Pferd in zwei oder drei auf einmal hineintritt. Klein-Puppy biß zwei Erdmäuse tot – »das haben sie verdient«, denkt man! Einem Murmeltier, das sich zu weit von seiner Höhle fortgewagt hatte, hätte Takkar beinahe den Garaus gemacht, aber es brachte sich noch im letzten Augenblick in Sicherheit.

Auf dem Paß hielt ich die gewöhnliche Rast zu Beobachtungen und zeichnete ein Panorama der ganzen Gegend. Zwischen Nordwesten und Norden liegt der Horizont in sehr weiter Ferne, und das Land ist flach; nur in N 5° W sieht man eine kleine Schneekuppe, sonst keinen einzigen Gangri.

Die Aussicht über den Nganglaring-tso, den wir gerade unter uns haben, ist großartig (Abb. 362 und buntes Bild auf dem Einband des zweiten Bandes); alle Berge schimmern rosig, das Wasser aber ist intensiv marineblau. Den größeren Teil seiner östlichen Hälfte füllt eine gewaltige Insel, ein aus dem Wasser auftauchender Gebirgsarm mit ebenso unregelmäßiger Uferkontur wie die des Sees selbst, lauter Landspitzen, Buchten und Vorgebirge. Im Nordwesten erblickt man drei kleine Inseln.

362. Aussicht vom Tajep-parva-la über den Nganglaring-tso und seine Felseninseln.
Nach Aquarellen des Verfassers.

Kloster Selipuk südwestlich vom Nganglaring-tso.
Aquarell des Verfassers.

Der Prior von Selipuk.
Aquarell des Verfassers.

Bisher hatte noch kein Europäer den Nganglaring-tso gesehen, und es ist auch noch kein Pundit dort gewesen. Der Pundit, den Montgomerie 1867 nach Tok-dschalung geschickt hatte, erhielt einige unbestimmte Mitteilungen über den Distrikt »Shellifuk« und den großen See »Ghalaring-tso«, die seitdem auf den Karten über Tibet angegeben sind. Die Gestalt, die der Pundit dem See gegeben hat, nämlich eirund, im Norden und Süden länglich, stimmt durchaus nicht mit der Wirklichkeit überein; der See zieht sich in ostwestlicher Richtung, und seine Kontur ist so unregelmäßig wie möglich. Der Pundit gibt der nördlichen Hälfte des Sees eine kleine Insel und fügt hinzu: » Monastery on Island«. In Wirklichkeit hat der Nganglaring-tso wenigstens vier Inseln, aber kein einziges Kloster.

Am Johannistag lagerten wir in einer Höhe von 4748 Meter an der rauschenden Uferbrandung, und am 25. gingen wir über die letzten hügeligen Ausläufer des Gebirges, die uns noch von Selipuks weit ausgedehntem Flachland trennten. Von ihren Höhen sehen wir wieder den mächtigen Kamm des Sur-la-Gebirges und im Süden den Transhimalaja mit dreiundsechzig Schneegipfeln, die so gleichmäßig hoch sind, daß man an die Zähne einer Säge denkt!

Am 26. ritten wir auf ebenem Gelände nach Westnordwesten. In der Ebene verfolgten zwei Tibeter zu Pferd einen Wildesel, der am linken Vorderbein verwundet war und vier Hunde auf den Fersen hatte. Diese bissen das Tier nicht, sondern jagten es nur in einer bestimmten Richtung vor sich her. Von Zeit zu Zeit waren die Männer ihrem Wild ganz nahe und sprangen aus dem Sattel; sie schossen aber nicht, sondern rührten nur mit den Händen Staubwolken auf, um den Wildesel zu erschrecken und ihn zum Weiterlaufen zu zwingen – damit er sich ihrem Zelt möglichst nähere und sie das Fleisch nicht soweit zu tragen brauchten!

Das Lager Nr. 439 wurde am Ufer des Flusses Sumdang-tsangpo aufgeschlagen, der sich in den Nganglaring-tso ergießt, ohne sich mit den weiter westlich befindlichen Flüssen Lavar-tsangpo und Aong-tsangpo zu vereinigen, die vereint in den westlichsten Teil des Sees hineinfließen.

Hier fing Lobsang einen ganz jungen Wolf, einen kleinen wilden Racker, der Takkars großes Interesse erregte. Aber Takkar hatte vor seinem Erzfeind, dem Wolf, Respekt und biß ihn bloß in den Schwanz. Nach und nach wuchs ihm aber der Mut; als das kleine Geschöpf weder aus noch ein wußte, stürzte es sich in den Fluß, um nach dem anderen Ufer hinüberzuschwimmen. Da heulte Takkar auf, sprang dem Wölflein nach, holte es ein, ertränkte es, indem er es mit den Pfoten unter das Wasser drückte, nahm es dann zwischen die Zähne, schwamm mit ihm ans Ufer und fraß es dort mit Haut und Haar auf!

Am 27. Juni zogen wir am Fluß hinauf und lagerten wieder an seinem Ufer, gerade dem Kloster Selipuk-gumpa (4784 Meter) gegenüber, dessen Abt, ein Kanpo-lama namens Dschamtse Singe, auch in weltlichen Angelegenheiten der Häuptling des Distrikts ist (Abb. 363, 364 und bunte Tafeln S. 328 und 348). Weder er, noch sonst jemand wußte etwas von Abdul Kerim, aber er hatte die große Güte, in seinen heiligen Büchern zu blättern, um den gegenwärtigen Aufenthalt meiner Leute ausfindig zu machen; und er kam zu dem Resultat, daß sie sich irgendwo im Süden aufhielten, und daß wir innerhalb der nächsten zwanzig Tage entweder mit ihnen zusammentreffen oder sichere Kunde von ihnen erhalten würden!

363. Selipuk-gumpa.

364. Innerer Hof von Selipuk-gumpa.

Am 28. Juni, ½10 Uhr abends, wurde das Land durch ein Erdbeben erschüttert, das einzige, das ich je in Tibet erlebt habe. Es hatte jedoch keinen nachteiligen Einfluß auf das gute Verhältnis, das zwischen mir und den Mönchen, sowie zwischen mir und dem Statthalter Sonam Ngurbu bestand, der ebenfalls als Gast im Kloster weilte (Abb. 360), und einen vornehmen Lama aus Tschoktschu in seinem Gefolge hatte (Abb. 365, 366 und bunte Tafel S. 328). Der Gouverneur schenkte mir so viel Tsamba, Reis und Gerste, daß wir im Notfall damit nach Toktschen kommen konnten; er erhielt zum Dank eine Uhr. An Geldmitteln besaß ich jetzt nur noch zwei Rupien! Nie war ich so in der Klemme gewesen! »Treffe ich Abdul Kerim jemals wieder,« dachte ich, soll er haben, was ihm gebührt, und eine tüchtige Portion obendrein!«

360. Sonam Ngurbus Soldaten mit Gabelflinten.

365. Der Prior von Selipuk (mit unbedecktem Kopf)
nimmt Abschied von seinem Gast, dem vornehmen Lama aus Tschoktschu.

366. Der vornehme Lama aus Tschoktschu zu Pferd.

Als wir aber am letzten Juni auf der südlich von Selipuk liegenden Ebene Rartse gerade unsere Zelte aufgeschlagen hatten, meldete Lobsang in der Dämmerung, daß sich vier Männer und vier Maulesel dem Lager näherten! Es waren Abdul Kerim, Sedik, Gaffar und ein Tibeter!

Sehr kleinlaut und schüchtern trat mein Karawan-baschi mit tiefen Verbeugungen in mein Zelt, und ich hielt es für besser, ihn erst über seine Amtsführung berichten zu lassen, ehe ich ihm den Standpunkt klar machte.

Er erzählte, daß sie zur festgesetzten Zeit an dem verabredeten Treffplatz angelangt, dort aber von sechs Govas sehr bedrängt worden seien, darunter vom Gova Parvang, der das Wort geführt und ihnen befohlen habe, augenblicklich sein Gebiet zu verlassen und nach dem Tarok-tso zu ziehen. Da sie keinen Paß aus Lhasa hätten, könnten sie keine Nachsicht erwarten, habe er gesagt. Sie hätten sich infolgedessen nach dem Nordufer des Tarok-tso begeben, wo sie vierzehn Tage geblieben seien, weil dort gutes Weideland gewesen sei und niemand sie behelligt habe. Von uns hätten sie allerlei widersprechende Gerüchte gehört. Schließlich sei ein Nomade am Seeufer gestorben und der Totengebete wegen einer der Mönche von Lunkar-gumpa gerufen worden. Mit ihm seien sie zusammengetroffen, und er habe ihnen mitgeteilt, daß wir vor neun Tagen an seinem Kloster vorübergezogen seien. Da hätten sie schnell zusammengepackt und früh am nächsten Morgen unseren Spuren folgen wollen. In der Nacht aber hätten ihnen aufmerksame Pferdediebe einen Besuch abgestattet und mein graues Tiksepferd und einen Maulesel aus Sakadsong gestohlen! Durch dieses Abenteuer hätten sie zwei Tage verloren und die gestohlenen Tiere doch nicht wiedererhalten. Während Suän, Abdullah, Abdul Rasak und Sonam Kuntschuk langsam nachkämen, hätten die drei anderen sich in Eilmärschen westwärts auf die Suche nach uns begeben, und nun seien sie endlich hier und brächten auch die ganze Reisekasse mit! Abdul Kerim kam bei mir daher verhältnismäßig leichten Kaufs davon, aber ich hörte nachher, wie die anderen ihn auszankten.

In Kjangrang stießen auch die Nachzügler wieder zu uns, und nun waren alle dreizehn Mann wieder beisammen, als wir am 8. Juli über den 5885 Meter hohen Ding-la ritten, über den höchsten auf der ganzen Reise durch Tibet überschrittenen Paß, von dort weiter an dem zum Flußgebiet des Aong-tsangpo gehörenden kleinen See Argok-tso vorbeizogen und am 12. Juli über den Surnge-la gingen, dessen Höhe 5276 Meter beträgt. Zwei Tage später erreichten wir Toktschen, wo uns eine neue politische Verwicklung volle neun Tage fest hielt! Doch darüber kann ich hier nichts mehr erzählen, denn schon beim 64. Kapitel hatte ich die Grenze des mir zur Verfügung stehenden Raumes erreicht, und – mein Verleger wird ungeduldig!


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