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Zweiundsechzigstes Kapitel.
Unser und der braunen Puppy Schicksal in Nagrong.

Am 6. März machten wir einen neuen Hahnenschritt nach dem Ziele hin! Im Winter reist es sich auf den tibetischen Hochebenen recht schwer – mehr als vier Stunden kann man am Tag nicht marschieren. Der Morgen war klar, aber wir waren noch nicht weit über einen kleinen See hinaus, dessen Eisspiegel Flugsand und Staub bedeckte, als der Sturm so stark wurde, daß ich im Sattel schwankte. Die Staubwolken werden immer dichter, die Tromben sind an der Basis dunkel rotbraun, die heftigsten Windstöße reißen wie ein Pflug Furchen in die Erde, und man sieht auf dem Boden spiralförmig gewundene Figuren, die nur von Wirbelwinden herrühren können. Auf der linken Seite zeigt sich ein See; seine Oberfläche ist teils weiß von Gips und Salz, teils braungestreift von Flugsand; nur an zwei Stellen ist offenes Wasser; es ist die Leiche eines zum Verschwinden verurteilten Sees.

Zwei aufgemauerte Feuerstätten kamen unserem Lagerplatz am Ufer, wo gutes Weideland war, sehr zu statten. Auf der Ostseite des Sees erhebt sich ein mittelhoher, ziegelroter Kamm, den ich malen wollte, um seine wirkungsvolle Tönung im Staubnebel zu verewigen. Ich wartete also mit Kutus und Gulam auf die anderen. Wir hatten aber kaum ein Feuer anzünden können, als der Sturm – um die Mittagszeit – zum Orkan anschwoll. Außer den nächsten Grashügeln verschwand alles, See, Bergkamm und Gegend, in einem undurchdringlichen Chaos. Das Feuer wurde, damit es nicht fortflöge, mit Steinen und Lehmklumpen eingehegt, Sand und kleine Steine sausten trommelnd gegen meinen Pelz, das ganze Gesicht bedurfte des Schutzes, die Haut schmerzte wie von Peitschenhieben, wenn man sie dem Wind nur einen Augenblick aussetzte. Glücklicherweise fanden die anderen uns. Alle Mann mußten beim Aufrichten meines Zeltes helfen. Endlich kam Gulam rückwärts zu mir herangekrochen und brüllte mir ins Ohr, das Zelt sei fertig. Breitbeinig und mit gespannten Muskeln ließ ich mich im Zickzack dorthintreiben und war froh, noch eins der Zelttaue ergreifen zu können, ehe ich umgerissen wurde. Nun war ich unter Dach und atmete auf. Die Hinterwand, auf die der Wind drückte, dehnte und straffte sich nach innen wie ein Ballon und drohte jeden Augenblick mit einem Knall zu platzen. Betäubend sauste der dagegen schmetternde Kiessand. Es war so dunkel wie in der Dämmerung, es pfiff und heulte im Grase. Die Leute versuchten eines ihrer Zelte aufzurichten, aber nachdem es ihnen zweimal wieder umgeweht war, ließen sie es liegen, und bedeckten es nur mit Gepäckstücken, um es vor dem Fortfliegen zu bewahren. Fünf Ladakis hockten wie zusammengerollte Igel im Schutz meines Zeltes; ich ließ sie aber zu mir hereinkommen, wo sie ein paar Stunden stumm und regungslos saßen. Die anderen waren unter die Ruinen ihres verunglückten Zeltes gekrochen. Auch Puppy und Klein-Puppy lagen, sich aneinander wärmend, in einer Ecke. Und dabei zeigte das Thermometer +2,1 Grad; so warm hatten wir es seit drei Monaten nicht gehabt! Ein langer, düsterer Abend! Mit Müh und Not erhielt ich ein Stück Brot, einen Becher Tee und ein Stück Rostbraten. Ich war wirr im Kopf und schwerhörig, als ich endlich in meiner Pelzhöhle Ruhe suchte, während der Sturm da draußen weiterheulte.

Ich erwachte bei der gleichen Musik. Sich zu Pferd in solch ein Wetter hinausbegeben, ist ungefähr so, wie in eiskaltes Wasser springen. Weder Himmel, noch Horizont sind sichtbar, und die Berge treten nur dann und wann aus dem Nebel hervor. Ich breche mit Kutus und Gulam zuerst auf und folge einem begangenen Weg. Dunkel und kalt ist es hier im Lande der ewigen Dämmerung und der bösen Luftdämonen. Nachdem wir 13 Kilometer weit gewandert sind, machen wir halt am Rand eines nach Südwesten gerichteten breiten Eisbandes, eines in mehreren Armen zugefrorenen Flusses. Über die glashelle Eisdecke fegt der Wind, und roter Staub gleitet wie eine feuerfarbene Schattierung schnell darüber hinweg. Auf Kutus gestützt, rutsche ich nach der anderen Seite hinüber; in einer kleinen Talmündung suchen wir Schutz und zünden das übliche Leuchtfeuer an.

Die Karawane langt am Eisrand an. Es ist unmöglich, einen Sandweg zu streuen, denn der Wind fegt ihn sogleich wieder fort. Die Tiere müssen also eines nach dem andern von mehreren Männern hinübergebracht werden. Nichtsdestoweniger fiel ein Maulesel und zog sich dabei eine verhängnisvolle Verrenkung des einen Hinterbeines zu. Nur mit großer Anstrengung konnte er noch nach dem Lager hinaufgebracht werden. Alle sahen grau und entstellt aus, unsere Augen waren voller Sand und Staub und tränten unaufhörlich. Meine Lippen sprangen auf und bluteten, meine Zähne waren schwarz. Der März ist zwar hier stets der schlimmste Monat des Jahres, aber so toll wie diesmal hat er es noch nie getrieben. Was nützt es, sich nach dem Frühling und der Sonne zu sehnen? Die Tage werden ja immer dunkler, je weiter das Jahr fortschreitet!

Der kranke Maulesel hatte sich das Bein verstaucht. Er wurde auf den Rücken gelegt und ein Strick um seine Hufe geschlungen, an dessen anderem Ende alle Mann ziehen mußten. Als es ganz straff gespannt war, schlug Lobsang mit einer Zeltstange gegen den Strick, um dadurch die Verstauchung zu heben! Ich merkte keine Besserung nach dieser Pferdekur. Nein, er war für uns verloren, jetzt, wo wir nicht in der Lage waren, eines unserer besten Tiere entbehren zu können!

Und verloren war er denn auch, am Morgen des 8. konnte er keinen Schritt mehr gehen. Es war mir schwer ums Herz, als ich ihn zum Tode verurteilen mußte; er hatte nichts Böses getan, und es war traurig, das frische, gesunde Blut in einem kräftigen Strahl aufspringen und den wüsten, unfruchtbaren Boden befeuchten zu sehen. Er lag still und geduldig, nach einigen Zuckungen war das Leben entflohen. Er blieb in der Einsamkeit zurück, während wir weiterzogen, unbekannten Schicksalen entgegen.

Vorher aber war ich noch auf einen Hügel gestiegen und hatte Ausschau gehalten. Was war klüger: nach Nordosten oder nach Südwesten zu gehen? Beide Richtungen lagen außerhalb unserer jetzigen Straße. Ich entschied mich für Südwesten und eilte durchfroren nach dem Zelt, wo Gulam gerade das Frühstück auftrug. Die braune Puppy und Klein-Puppy leisteten mir wie immer dabei Gesellschaft, um ihren Anteil zu erhalten. Klein-Puppy war jetzt schon so gewachsen, daß er seine Mama ungestraft behandeln konnte, wie es ihm beliebte. Wenn ich ihr ein Stück Fleisch gab, schoß er wie ein Pfeil darauf los und riß es ihr fort. Ich mußte den kleinen Puppy festhalten, damit die Mutter in Frieden fressen konnte. Als wir aber aufbrachen, entschädigten sich die Puppy und der gelbe Hund für alle Entbehrungen der letzten Zeit, indem sie bei dem getöteten Maulesel zurückblieben, in dessen weichen Halsmuskeln sie eine offene Wunde als Ausgangspunkt hatten. Dort standen sie noch, eifrig schnappend, als wir aufbrachen und dem Eisband des Flusses nach Südwesten folgten.

Mit meinen gewöhnlichen Begleitern ritt ich voraus. Der erstickende, blendende, betäubende Sturm kam uns gerade entgegen. Gulam geht an der Spitze, bleibt plötzlich stehen, blickt durch das Fernglas und gibt mir dann das verabredete Zeichen zum Absteigen. Vor uns haben wir einen vorspringenden Felsen, den der jetzt zugefrorene Fluß bespült.

»Was gibt's?« frage ich Gulam, als wir bei ihm anlangen.

»Ein großes Steinhaus mit einer Mauer und zwei kleinere Hütten! Sie sind augenblicklich im Nebel nicht zu sehen, aber sie liegen ganz nahe am Fuß des Berges.«

»Ja freilich, nun sieht man sie wieder; merkwürdig, daß uns keine Hunde entgegenstürmen!«

»Was nun? Wollen wir nicht lieber umkehren? Hier wohnt gewiß ein Häuptling, der uns bis auf die Haut untersuchen wird.«

»Nein, dazu ist es zu spät, sie haben uns schon gesehen.«

Wie reute es mich, daß wir nicht lieber nach Nordosten gegangen waren! Doch jetzt hieß es, gute Miene zum bösen Spiele machen. Wir zogen an dem festen Dorf in einer Entfernung von nur 100 Meter vorüber und hielten im Schutz des dunkeln Porphyrfelsens, auf dem zwei Tschorten und ein Mani errichtet waren. Wie herrlich, wenigstens eine Weile vor dem Sturm geschützt zu sein! Es war das Gefühl, mit dem man bei einem Platzregen in einem Torweg steht. Tot und öde lag die Gegend, Menschen zeigten sich nicht, nur zwei Dohlen krächzten auf einer schroffen Felswand, und ein Hase eilte so dicht neben uns aus seinem Versteck, daß wir ihn, wenn wir aufgepaßt hätten, mit den Händen hätten greifen können. Kutus und Gulam gehen, um Brennmaterial zu suchen. Ich selbst untersuche mit dem Fernglas diese rätselhafte Umgebung, wo hinter jedem Felsenvorsprung ein Hinterhalt zu lauem scheint. Im Südosten wird es ein wenig heller, hinreichend, um mich 200 Meter von uns ein außergewöhnlich großes schwarzes Zelt entdecken zu lassen. Von einer hohen Stange gehen kreuzweise vier Stricke mit weißen Gebetwimpeln aus. Ich hatte gehofft, daß wir unbeobachtet durch das erste Dorf kommen würden, weil sich keine Hunde sehen ließen, aber unbewohnte Zelte gab es doch wohl nicht! Und die äußere Ausstattung des Zeltes verriet außerdem einen vornehmen Häuptling. Infolge des Staubnebels waren wir ihm gerade in den Rachen gelaufen. Er ließ sich gewiß von lumpigen Ladakilandstreichern keinen blauen Dunst vormachen!

Gulam war nach dem großen Haus gegangen, dessen Hoftor offen stand, und hatte dort in einem Schuppen auf dem Hof eine ganze Menge Brennholz gefunden, eine Strauchart, die die Tibeter Ombo nennen. Nun warteten und warteten wir, die Karawane aus dem Dunst auftauchen zu sehen; als sie aber gar nichts von sich hören ließ, mußte Kutus auf die Suche gehen. Sie hatte sich total verirrt und einen weiten Bogen um die Häuser und das Zelt herumgemacht. Die Führer waren überzeugt gewesen, daß ich unbemerkt an dem Ort vorbeiziehen wolle. Ein Pferd war zusammengebrochen; jetzt hatten wir nur noch zwei und außer ihnen noch fünf Maulesel von vierzig Tieren übrig!

Sobald die drei Zelte in einer Linie dicht nebeneinander aufgeschlagen waren, mußte sich Abdul Kerim mit Kuntschuk nach dem großen Zelt begeben. Wir sahen durch den Nebel einen Mann herauskommen und ihnen entgegen gehen, worauf alle drei im Hause verschwanden, und nun warteten wir anderen in atemloser Spannung. Erst in der Dämmerung kehrten sie mit guten Nachrichten zurück. Im Zelt wohnte ein einsamer, alter Amtschi-Lama, d. h. ein Arzt-Mönch, der zugleich der Seelsorger der Nagrongnomaden ist und nach den astrologischen Büchern die glücklichen oder unglücklichen Tage für Kindtaufen und andere Geschäfte bestimmt, die dabei nötigen geistlichen Verrichtungen übernimmt und den Menschen beisteht, wenn sie krank sind, sterben und schließlich bestattet werden sollen. Er war aus Sera im Gebiete von Lhasa und lebte seit drei Jahren in Nagrong. Das Zelt war ein wandernder Tempel, dessen Inneres mit Götteraltären, brennenden Butterdochten und Opferschalen ausgestattet war, vor denen der Einsiedler den Gottesdienst hält – wir hörten ihn um Mitternacht in aller Einsamkeit eine Tempeltrommel schlagen. Das Zelt gehörte nebst dem großen Hause dem Gertse Pun Bobo, dem Häuptling des Distriktes Gertse, der vor einigen Tagen mit Kind und Kegel und seinen Herden eine Tagereise weit nach Osten gezogen war, aber bald zurückerwartet wurde, weil zwischen einigen seiner Untertanen Streitigkeiten ausgebrochen waren. Vielleicht war es also doch gut, daß wir nach Südwesten gezogen waren, anstatt nach Nordosten, wo wir dem Gertse Pun gerade hätten begegnen können? Im Spätherbst kommt dieser Potentat nach Nagrong, wo er das Steinhaus bezieht, während ringsumher Hunderte von Nomadenzelten aus der Erde wachsen und hier ein Jahrmarkt abgehalten wird.

Der alte Lama hatte keine Diener, aber alle drei Tage brachte ihm ein Mann Brennholz. Wie muß ihm an den langen Winterabenden zumute sein, wenn er draußen den Sturm heulen hört und drinnen Schweigen herrscht bei den Göttern, die seine Gebete und seine Trommelwirbel nur mit mildem Lächeln beantworten!

Vermutlich aber war er Philosoph und fürchtete die Gefahren der Nacht nicht. In dem Zelt lagen mehrere Säcke Tsamba, Gerste, Reis und Butter, aber er war nicht berechtigt, ohne die Erlaubnis des Gertse Pun etwas davon zu verkaufen. Statt dessen beschrieb er die Lage des Zeltes, in dem der Schwager des Gertse Pun wohnte und wo aller Art gute Sachen erstanden werden könnten.

Ich beschloß infolgedessen, den 9. März noch hier zu bleiben. Während dieses Ruhetages suchte Abdul Kerim mit drei Begleitern den Schwager auf, wurde freundlich empfangen und kaufte fünf Schafe, zwei Schafslasten Reis, ebensoviel Gerste und einen Beutel Tabak, nach dem die Leute sich schon solange gesehnt hatten. Den ganzen Tag über war ich Gefangener in meinem eigenen Zelt, meine Freiheitszeit war zu Ende! Und als der Abend kam und seine Schatten sich auf dies seltsame, unheimliche Nagrongtal herabsenkten, konnte ich an nichts anderes denken als an meinen alten treuen Reisekameraden, den ältesten aller derer, die mit mir in Tibet gewesen waren, die braune Puppy! Mit dem gelben Hund war sie gestern bei dem Maulesel zurückgeblieben, der seines verstauchten Fußes wegen hatte getötet werden müssen, und seitdem hatte keiner die beiden wiedergesehen. Wir hatten gehofft, daß sie uns, wie schon unzählige Male, wiederfinden würden. Aber jetzt sah ich ein, daß sie unsere Spur verloren hatten und uns nun, verzweifelt und wahnsinnig vor Angst, über Berge und Täler suchten, aber nur um sich immer weiter von uns zu entfernen. Wenn sie ein einziges Mal über das Eis gegangen waren, würden sie unsere Spur nie mehr finden können. Mich quälte der Gedanke an meine alte Zeltgefährtin mehr als sonst etwas. Noch gestern morgen hatte sie auf ihrer Filzmatte in ihrer gewöhnlichen Ecke gelegen, und wir hatten zusammen gefrühstückt. Wo war sie jetzt, wie ging es ihr in diesem Augenblick? Tag und Nacht würde sie bellend und winselnd über das öde Tschang-tang laufen, mit der Nase am Boden, und unsere verlorene Spur suchen, bis ihre Pfoten wund und zerfetzt waren. Was würde sie tun, wenn die Nacht mit ihrer unheimlichen Dunkelheit und den umherstreifenden Wölfen kam? Würde sie auf dem Gipfel eines Hügels bleiben und uns im Winde zu wittern suchen, oder würde sie auf einer der grenzenlosen Ebenen sitzen und den Mond anheulen? Blieben die beiden wenigstens zusammen oder suchten sie uns auf verschiedenen Wegen und verloren sich gegenseitig? Würde Puppy je bei freundlichen Nomaden landen und es wieder gut haben? Oder würde sie Not leiden und angebunden vor einem armseligen Zelt liegen und, in hoffnungslosem Kummer winselnd, ihres verflossenen Lebens gedenken, das sie von ihren ersten Lebenstagen an, als sie in meinem Zimmer in Srinagar Milch schlürfte, in meiner Karawane verlebt hatte? Auf diese Fragen sollte ich nie Antwort erhalten, denn Puppy und der gelbe Hund hatten ihre Rollen in unserem Roman auf immer ausgespielt. In Zukunft wird ihr Leben sich anders gestalten, und ich werde die folgenden Kapitel ihrer Geschichte nie kennen lernen. Sie war und blieb fort, und ich vermißte sie unbeschreiblich. Ich lag nachts wach im Bett und dachte an ihren Kummer, ich sah jeden Morgen nach, ob sie zurückgekehrt sei und sich in ihre gewöhnliche Ecke gelegt habe, ich glaubte, in der Dämmerung ihre leisen Schritte vor dem Zelt zu hören, ich meinte oft, durch den Nebel hindurch auf einem Hügel oder einem Felsenvorsprung die Silhouette eines einsamen, ausgehungerten Hundes unterscheiden zu können, der mit erhobener Schnauze in den Sturm hineinheulte. Ich litt eine ganze Zeit hindurch förmlich an einer fixen Idee: der Schatten, die ruhelose Seele, die unsichtbare Gespenstergestalt eines Hundes verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Ich fühlte die Nähe eines unsichtbaren Hundes, der mit mir ins Zelt ging, während der ewig gleichen Ritte neben mir herlief, bei mir blieb, wenn ich unter den Tibetern war und stets klagte und um Hilfe flehte; und es peinigte mich, meinem umherirrenden, suchenden Freunde nicht helfen, ja ihn nicht einmal trösten zu können. – Bald aber hatte ich an anderes zu denken; andere Hunde wurden meine Freunde, und mit jedem Tag verwickelte ich mich mehr in einem unentwirrbaren verfitzten Garn von Gefahren, die zu einer Krisis führen mußten und in denen die Sorgen der Vergangenheit vor dem Ernst des Augenblickes verblaßten.

Am 10. März. Ein Tag wie der heutige ist interessant in der Erinnerung, aber hart, solange er dauert. Vor sechs Uhr wurde ich mit der beunruhigenden Kunde geweckt, daß zwei Tibeter sich unsern Zelten näherten. Ich sprang sofort aus dem Bett, kleidete mich an und bepinselte mir Gesicht und Hände mit verdünnter schwarzer Tusche. Unterdessen kamen die Fremden an und wurden gebeten, bei Abdul Kerim einzutreten, wo ich sie in aller Gemütlichkeit von Schafen und Geld reden hörte – es waren also keine Spione. Noch hatte unsere Stunde nicht geschlagen. Der eine Gast war der »Schwager«, der andere einer seiner Nachbarn, der, als er gehört hatte, wie gut wir Schafe bezahlten, sich bereit erklärte, uns die vier, die er mitgebracht hatte, nebst einer munteren Ziege, ebenfalls zu verkaufen. Abdul Kerim war ein für allemal angewiesen, sämtliche Schafe zu kaufen, die zu haben waren, und ging also darauf ein. Die Ziege war ein recht munteres Tier, das uns sofort durchbrannte und sich überhaupt nicht wieder einfangen ließ!

Allerdings begaben sich die beiden Tibeter nun nach dem Zelt des Lamas, um dort Tee zu trinken. Aber noch war die kritische Spannung nicht vorbei, denn es war wahrscheinlich, daß sie wiederkommen und unserer Abreise zusehen würden. Daher ging ich, während die Zelte noch standen, mit Tubges, »Klein-Kuntschuk« und »Schnarch-Kuntschuk«, wie wir Sonam Kuntschuk wegen seines angestrengten Holzsägens im Schlaf zu nennen pflegten, als diese drei unsere 31 Schafe talabwärts trieben. Als wir abzogen, standen die Tibeter im Freien und gafften uns an, ohne etwas zu merken. Um dem Entdecktwerden zu entgehen, hatte ich mich in aller Eile in einen Schäfer verwandelt (Abb. 321) – Priester im ersten Akt und Räuber im letzten! Aber ich kam bald dahinter, daß es mir zu diesem ebenso windigen, wie Geduld erfordernden Gewerbe an jeglicher angeborenen Begabung fehlte. Ich selber fand freilich, daß ich meine Ladakis so getreu wie nur möglich nachahmte, genau so wie sie rief, pfiff und mit den Armen in der Luft fuchtelte, wenn ein Schaf sich von der Herde trennte. Aber mir gegenüber zeigten die Tiere keine Spur von Disziplin, sondern gingen, wenn ich bei ihnen war, nur da, wo sie wollten. Nach einstündigem Treiben gerade gegen den Wind hatte ich genug, und während die beiden anderen mit den Schafen weiterzogen, ruhten ich und Kuntschuk uns in einer Schlucht aus, wo wir vom Lamazelt nicht mehr gesehen werden, selber aber das ganze Tal überblicken konnten.

321. Der Verfasser als Schafhirt verkleidet.

Endlich kamen die übrigen, Abdul Kerim zu Pferd an der Spitze. Unsere Pelze und Turbane hatten die gleiche Farbe, so daß zufällig spionierende Tibeter sich nicht so leicht darüber klar werden konnten, ob ich oder Abdul Kerim der Reiter war. Jetzt nahm ich daher das Pferd und ritt mit meinen gewöhnlichen Begleitern voraus. Um elf Uhr wurde die Heftigkeit des Sturmes zur tollsten Wut. Der Flugsand fegt in dicken Streifen am Boden hin, man erstickt fast und glaubt selber still zu stehen, während der Erdboden sich mit Schwindel erregender Schnelligkeit bewegt. Wir gehen quer über das Tal, um auf der linken Seite weiterzuziehen. Die Staubwolken steigen zur Sonne empor, es wird dunkel, alles verschwindet, was über 20 Meter entfernt liegt, und ein Chaos umgibt uns. Wir halten Rast, um Atem zu schöpfen und die anderen nicht zu verlieren. Als sie aber wie Gespenster im dichten Staubnebel auftauchen, setzen wir unsern Weg fort. Viele Sandstürme habe ich in der Takla-makan und in der Lopwüste aushalten müssen, aber wohl kaum einen, der schlimmer gewesen wäre als dieser! In Turkestan lagert man einfach, wenn der Sturm kommt; aber was würde es hier nützen, auf das Aufhören eines Sturmes warten zu wollen, der dreißig Tage anhält? Wir irren zwischen kleinen Dünen umher, und obgleich das Tal sich in unserer Wegrichtung senkt, ist es, als arbeiteten wir uns nach einem hohen Paß hinauf – eine Folge des Winddrucks. Die andern entschwinden uns wieder aus dem Gesicht. Der Flugsand schmettert gegen meinen trocknen, harten Pelz, der durch die beständige Reibung stark mit Elektrizität geladen wird. Ungefähr alle zwei Minuten entlädt sie sich, und ich fühle unbehagliche, oft schmerzhafte Schläge, hauptsächlich in den Fußsohlen, Händen und Knien. Bei jedem solchen Schlag fährt auch das Pferd zusammen und wird nervös. Als mein grauer Tikse schließlich nicht weiter wollte, wir außerdem die anderen ganz verloren hatten und unsern eigenen Weg nicht mehr sahen, machten wir halt und kauerten uns an der Erde nieder, dem Sturm den Rücken zukehrend. Die elektrische Entladung dauerte auch jetzt fort, aber nicht mehr so stark. Wenn ich eine Fingerspitze der Hand Gulams oder Kutus' näherte, so hörte und sah man einen kleinen Funken, und wir fühlten beide den Stoß. Sie waren außerordentlich erstaunt und glaubten, daß Zauberei dabei im Spiel sein müsse.

Drei Stunden warteten wir so und machten uns schon auf eine ungemütliche Nacht gefaßt. Endlich aber fand Kutus die Nachzügler, und zwar gerade in dem Augenblick, als sie alle Versuche, uns noch vor der Nacht zu finden, aufgeben wollten. Wir lagerten zwischen den Dünen, und in ganz kurzer Zeit verschwanden alle Sachen, die in meinem Zelt lagen, unter einer dicken Sandschicht.

Am Morgen des 11. hatte der Sturm sich ein wenig gelegt; fröstelnd und müde nach den Abenteuern des Abends setzten wir unseren Weg nach Süden fort und lagerten bei einer leerstehenden Schafhürde. Schon um neun Uhr sah man dichte Tromben sich wie gespenstische Pinien langsam über die Ebene hindrehen, und dann war der Sturm wieder in seiner gewöhnlichen Stärke da. Wir hatten nur für einen Tag Tsamba, aber das spielte, solange wir noch so reichliche Fleischvorräte besaßen, keine Rolle. Es war ein beruhigendes Gefühl, sich vom Gertse Pun zu entfernen; in diesem Flugsand war es unmöglich, unsere Spur zu finden – war es doch unseren eigenen Hunden unmöglich. Klein-Puppy vermißt seine Mutter nicht, im Gegenteil, er kommt sich wichtig vor, spielt sich als alleiniger Herr im Hause auf und bellt unsere friedfertigen Schafe an. Für uns ist es eine riskante Sache, gar keine nächtlichen Wächter zu haben, obendrein in Gegenden, wo wir ihrer am allernötigsten bedürfen. Wir müssen sehen uns möglichst bald neue Hunde anzuschaffen.

Am 12. März legten wir in einem schönen, breiten Längstal die üblichen 10 Kilometer zurück und lagerten in einer schutterfüllten Schlucht. Die drei Zelte wurden jetzt immer so dicht nebeneinander gestellt, daß ich, wenn ein Fremder unerwartet in mein Zelt treten sollte, in Abdul Kerims Zelt hinüberkriechen konnte, ohne von außen gesehen zu werden. Mein Ladakitschapan begann einen mich immer mehr befriedigenden Farbenton anzunehmen, aber ich tat auch, was ich konnte, um ihn einzuschmutzen und ihm Ruß- und Fettflecke beizubringen. Klein-Puppy unterstützte mich dabei gütigst, indem er nach meinen Ärmeln schnappte und so zerrte, daß sie schon in Fetzen hingen; lange konnte es nicht mehr dauern, bis ich wie ein leibhaftiger Strolch aussah!

Die ganze Nacht schneite es leise und dicht, und am Morgen lag der Schnee so hoch und so dicker Schneenebel verhüllte das Land, daß wir es für das klügste hielten, im Lager zu bleiben. Immer weiter entfernen wir uns von der braunen Puppy; vergebens wird sie unsere Spur im Schnee suchen. Vielleicht war es so bestimmt, daß sie und mein Schimmel rechtzeitig von der Bildfläche verschwinden mußten, damit ich nicht durch sie verraten würde. Denn die Tibeter haben einen unglaublich scharfen Blick für Tiere und kennen jedes wieder, wenn sie es auch nur ein einziges Mal gesehen haben. Diese Gefahr war also geschwunden, alle Veteranen waren fort. Vielleicht hatte Puppy sich selbst geopfert, damit ich mein Ziel erreichen könnte? Aber immer noch sah ich sie im Geiste verirrt und verzweifelt auf den öden Ebenen im Norden umherstreifen.


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