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Zweiundvierzigstes Kapitel.
Auf der Suche nach der Quelle des Brahmaputra.

Jetzt waren wir schon weit nach Westen gelangt; Schritt für Schritt hatte die Macht der Verhältnisse mich gezwungen, immer größere Gebiete des Landes im Norden hinter mir zurückzulassen! Es grämte mich, aber ich wollte wenigstens versuchen, aus der mir aufgezwungenen Lage noch das Bestmögliche zu machen. Bei Schamsang, dem Lahtsang Ryders, waren wir an dem Punkt, wo die eigentlichen Quellflüsse des Brahmaputra von verschiedenen Seiten zusammentreffen. Ich hatte schon lange bei mir beschlossen, nach der unbekannten Quelle selbst vorzudringen, falls mir die Tibeter nicht unüberwindliche Hindernisse in den Weg legten.

Der kenntnisreiche, scharfsichtige Oberst Montgomerie hatte Nain Sing im Jahre 1865 das obere Brahmaputratal hinaufgeschickt. Von unserem Schamsang aus ging der Pundit über den Marium-la und sagt in seinem Bericht, daß die Quellen des Flusses ganz entschieden in der gigantischen Kette lägen, die man im Süden sehe, und von den Gletschern dieses Gebirges gespeist würden. Aber er hat sich nicht hinbegeben, um die eigentliche Quelle selbst aufzusuchen, sondern ist in westlicher Richtung weitergezogen.

Ein Jahr darauf, 1866, machte Thomas Webber von Süden her eine Exkursion in das tibetische Gebiet hinein; seine Route liegt ein wenig südlicher als die Nain Sings. Auf seiner Kartenskizze sieht es aus, als ob er einige Quellflüsse des Tsangpo überschritten habe, aber über die Gegend, wo sie entspringen, gibt er weiter keine Auskunft als: » Snowy ranges unexplored.« Und da er im Text sagt: »Hier waren die Quellen des großen Brahmaputra, der von den Gletschern des Gurla herkommt«, wird die Verwirrung heillos, denn die Quellen des Flusses liegen 100 Kilometer weit vom Gurla, einem Berg, der mit dem Brahmaputra nicht das geringste zu tun hat!

Die politische Expedition, die zu Ende des Jahres 1904 unter Rawlings (Abb. 244) Befehl stand, deren Ziel Gartok war und deren Hauptresultat die bewunderungswürdige Karte des oberen Brahmaputratales ist, die Ryder und seine Gehilfen aufnahmen, zog von Schamsang über den Marium-la und an der Nordseite des Guntschu-tso entlang nach dem Manasarovar. Mir war es daher von der größten Wichtigkeit, südlich von ihrer Route durch ein Land ziehen zu können, das sie nicht berührt hatten. Sie reisten auf derselben Straße wie Nain Sing und ließen die Quelle des Flusses in einer Entfernung von etwa 40 englischen Meilen südwärts liegen. Aus Ryders Bericht könnte man die Anschauung gewinnen, als ob er den Marium-la als die Quelle des Brahmaputra ansehe. Aber in einem Brief, den ich letzthin von ihm erhalten habe, erklärt er, dies sei nicht der Fall gewesen, sondern er habe sich stets gesagt, die wirkliche Quelle müsse zwischen den Schneebergen im Südwesten liegen, deren Gipfel er gemessen und die er auf seiner Karte eingetragen habe.

244. Hauptmann Cecil Rawling, der hervorragende Reisen in West- und Südtibet ausgeführt hat, zuletzt in Gesellschaft von Major Ryder.

Anstatt mich jetzt auf eine weitläufige Diskussion dieses Problems einzulassen, gebe ich hier kleine Skizzen der Karten meiner drei Vorgänger Nain Sing, Webber und Ryder (Abb. 246, 247, 248). Kein anderer Reisender ist je in dieser Gegend gewesen, ich aber wollte unter keiner Bedingung die Gelegenheit versäumen, bis an die wirkliche Quelle des Brahmaputra vorzudringen und ihre Lage endgültig festzustellen.

246. Das Quellgebiet des Brahmaputra.
Nach Nain Sing, 1865.
Seine Route punktiert.
Vgl. die Karte: Das Quellgebiet des Brahmaputra, Satledsch und Indus. Von Sven Hedin.

247. Kartenskizze der Reiseroute von Webber im Jahre 1866.
Aus: The Forests of Upper India. By Thomas W. Webber (London, Edward Arnold, 1902). Webber läßt Indus, Ganges und Brahmaputra vom Gurla Mandatta kommen, was für alle drei Flüsse unrichtig ist.
Vgl. die Karte: Das Quellgebiet des Brahmaputra, Satledsch und Indus. Von Sven Hedin.

248. Das Quellgebiet des Brahmaputra. Nach Major Ryder, 1904.
Der Tschema-jundung wird als Hauptfluß gezeichnet, wogegen der Kubi-tsangpo als kleiner Nebenfluß angegeben ist.
Tatsächlich ist der Kubi-tsangpo der Quellfluß und der Tschema-jundung, der den Marium-tschu empfängt, nur ein Nebenfluß.
Vgl. die Karte: Das Quellgebiet des Brahmaputra, Satledsch und Indus. Von Sven Hedin.

Wie aber konnte dies geschehen? Bei Schamsang vereinigen sich die Quellflüsse, und erst unterhalb dieses Punktes trägt der vereinigte Fluß den Namen Martsang-tsangpo. Ich hatte natürlich zunächst die Wassermenge der Quellflüsse zu messen; wenn sie ungefähr gleich groß waren, mußte man sich damit begnügen, zu sagen, daß der Brahmaputra mehrere Quellen habe.

Mit zehn Mann, dem Boot und den notwendigen Meßinstrumenten begab ich mich daher am 8. Juli zunächst nach der Stelle am Bergfuß der südlichen Talseite, wo zwei Flüsse zusammenfließen, nämlich der Kubi-tsangpo von Südwesten und der Tschema-jundung von Westen. Eine kurze Tagereise weiter westwärts nimmt der Tschema-jundung den Marium-tschu auf, der vom Marium-la kommt. Erst aber wurde noch der ganze vereinigte Fluß gemessen: er führte 44 Kubikmeter Wasser in der Sekunde, unmittelbar darauf der Tschema-jundung, der beinahe 10 Kubikmeter führte. Wenn wir diese von dem Volumen des vereinigten Flusses abziehen, erhalten wir 34 Kubikmeter als Wassermenge des Kubi-tsangpo. Dieser ist mit andern Worten dreiundeinhalbmal so groß wie der Tschema, wobei aber zu beachten ist, daß der Tschema auch das Wasser des Marium-tschu enthält, so daß seine 10 Kubikmeter also die vereinigte Wassermenge zweier Nebenflüsse darstellen.

Als wir am Abend mit der Hauptkarawane zusammen in der Gegend Umbo (4702 Meter) lagerten, wo der Tschema-jundung und der Marium-tschu sich vereinigen, waren die Flüsse sehr bedeutend angeschwollen, und das Wasser, das am Morgen klar gewesen, trübe geworden. Also ließen sich nur die beiden zu gleicher Zeit vorgenommenen Messungen direkt miteinander vergleichen. Ich übergehe aber hier alle später vorgenommenen Detailmessungen. Um nach der Quelle hinzugelangen, brauchte ich nur zu wissen, daß der Kubi-tsangpo unvergleichlich viel größer war, als die beiden andern; seinem Lauf aufwärts in das Gebirge hinein hatte ich also zu folgen, was keiner meiner Vorgänger getan hatte. Auch die Tibeter sagten, der Kubi sei der oberste Teil des Martsang-tsangpo.

Am 9. Juli verabschiedeten wir Guffaru und die Hauptkarawane, die immer der großen Straße folgen und über den Marium-la nach Toktschen gehen sollte, während ich mit Robert, drei Ladakis und drei bewaffneten Tibetern dem Kubi-tsangpo bis an seine Wurzel und Quelle nachgehen wollte. Unser Weg führte nach Westsüdwest. Da wo wir, eine gute Strecke oberhalb des letzten Deltaarms des Marium-tschu, durch den Tschema-jundung gingen, führte der Fluß wenig mehr als 4 Kubikmeter Wasser; der südöstlich von ihm fließende Kubi-tsangpo ist hier also etwa achtmal größer. An der Furt schlugen unsere Tibeter einen Holzpflock mit einem weißen Zeuglappen in den Ufersand ein, »damit der Fluß nicht der Mühe überdrüssig werde, sein Wasser nach den Tälern hinunterzuschicken!«

In Tok-dschonsung, wo wir zwischen einigen Nomadenzelten lagerten, sah der Tschema mächtig aus, aber sein Wasser strömte auch sehr langsam. Die Nomaden der Gegend gehen im Winter nach Tschang-tang hinauf. Auch hier erfuhren wir, wie schon früher bei mehreren Gelegenheiten, daß in Purang die schwarzen Pocken furchtbar wüteten und daß alle dorthin führenden Wege gesperrt seien. Keine Gegend liegt so hoch, daß der Todesengel nicht den Weg dorthin findet!

In der Nacht hatten wir 9,2 Grad Kälte, mitten im Juli, aber wir befanden uns im Lager 198 auch auf einer Höhe von 4874 Meter. Vor uns im Südwesten traten die Schneegebirge immer schärfer hervor. Der Tschemafluß schlängelt sich mit langsamem Gefäll; noch ehe wir das Lager in Schärjak erreichten, ließen wir ihn zur Rechten liegen.

Bei heftigem Wind ritten wir am 11. Juli weiter südwestlich. Schon hier passierten wir poröse, schmelzende Schneeflecken. Anstehendes Gestein war nicht mehr sichtbar, alles Geröll bestand aus Granit und grünem Schiefer. Wir folgen einem deutlich erkennbaren Nomadenpfad, der nach dem kleinen Paß Tso-niti-kargang in dem Landrücken, der eine Wasserscheide zwischen dem Tschema-jundung und dem Kubi-tsangpo ist, hinaufführt. Das mächtige Tal des letzteren haben wir jetzt südlich unter uns. Der Kubi-tsangpo hat sehr trübes Wasser, aber an seinem rechten Ufer einen vollkommen klaren Moränensee. Von Südosten her tritt der Nebenfluß Lung-jung aus seinem ausgeprägten Tal heraus. Die Aussicht ist nach allen Seiten hin großartig. Von Nordwesten bis Nordosten zieht sich ein unentwirrbares Meer von Gebirgen hin: die Kämme und Abzweigungen des Transhimalaja, durchschnitten von den nördlichen Nebenflüssen des oberen Tsangpo. Im Süden ein Panorama, das in seiner entzückenden Wildheit und Weiße überwältigend großartig ist. Eine ungleichmäßige Kette mit gewaltigen Gipfeln, zackig, schwarz und zerklüftet, bald spitz wie Pyramiden, bald breit und plump; hinter ihnen sehen wir die Firnfelder, von denen der ewige Schnee langsam herabgleitet, um zwischen schwarzen Felsen Gletscherzungen zu bilden. Im Süden dominiert ein mächtiger Bergstock Ngomo-dingding; von seinen Gletschern kommt ein bedeutender Teil der Wassermenge des Kubi-tsangpo. In Westsüdwest liegt der Dongdong, ein anderer Bergstock mit einem ebenso mächtigen Gletscher; das Gebirge rechts davon heißt Tschema-jundung-pu; in ihm entspringt der Fluß dieses Namens, um dann auf Umwegen nach der Vereinigungsstelle bei Schamsang hinabzuströmen. Im Südosten zeigt man mir die Lage des Nangsa-la jenseits der nächsten Berge, wo der Fluß Gjang-tschu, den wir vor einigen Tagen kennen lernten, seine Quelle hat.

Zwischen Moränen, Granitschutt und Steinblöcken durch geht es steil abwärts. Hier liegen auf verschiedener Höhe drei kleine, klare Moränenseen, Tso-niti genannt. Das Terrain wird dann flacher; wir kommen an einem Mani, einem zwischen dem Schutt rieselnden Quellbach und einem kleinen Tümpel vorüber, bevor wir das Lager 200 in Lhajak am Ufer des Kubi-tsangpo erreichen, wo die Weide vortrefflich ist und wir zahlreiche Spuren von Nomadenlagern sehen. An mehreren Stellen fanden wir große, vom Wind verwehte Stücke dünner, feiner Birkenrinde, die die Stürme losgerissen, aufsteigende Winde aber dann von Süden her über das Gebirge entführt haben.

Unsere drei Musketiere erzählten uns, daß alle Nomaden, die sich jetzt in der Gegend von Schamsang aufhielten, in einigen Wochen hierheraufkommen und hier anderthalb Monat bleiben würden, bis der erste Schnee sie wieder vertreibe. Im Winter liegt der Schnee anderthalb Meter hoch, viele Menschen und Tiere sind in den Schneewehen umgekommen, wenn die Herden zu hoch hinaufgestiegen sind und von frühzeitigem heftigem Schneetreiben überrascht wurden. Im vorigen Herbst weideten, wie man mir sagte, 23 Yaks oben am Fuß des Ngomo-dingding, als es heftig zu schneien begann. Mehrere Hirten eilten hin, um die Tiere nach tiefer liegenden Gegenden hinunterzutreiben, aber der Schnee hatte sich schon in solchen Massen angehäuft, daß sie umkehren mußten, um nicht selber darin umzukommen. Jetzt im Frühling hatte man sich hinaufbegeben und die Gerippe und Häute der umgekommenen Tiere gefunden. Der Gova von Schamsang hatte kürzlich auf gleiche Weise einige Pferde verloren. Nicht einmal die Wildesel können sich vor diesem Frühschnee retten. Sie können nicht laufen, wenn der Schnee tief ist; wenn sie vergeblich versucht haben, sich auf schneefreien Boden zu flüchten, verhungern und erfrieren sie zwischen den Schneewehen. Unsere drei Führer, die selber den Sommer hier oben verleben, versicherten mir, der Wildesel erfriere stehend und das erfrorene Tier stehe oft noch auf allen Vieren, wenn die Sommersonne den Schnee aufgetaut habe. Sie hätten tote Wildesel ganz wie lebende in Herden stehen sehen!

Der Schnee, der während des Winters in den Gegenden um die Quellflüsse des Brahmaputra herum fällt, schmilzt im Frühling und bildet nebst dem Flußeis eine Frühlingsflut, deren Dimensionen viel bedeutender sein sollen als die der durch Regengüsse verursachten Sommerflut. Dies wird wohl für den obersten Tsangpolauf richtig sein, weiter abwärts aber ist sicherlich die Regenflut mächtiger. Im allgemeinen sind die Oszillationen im Wasserstand in den höheren Gegenden ausgeprägter, denn je weiter es flußabwärts geht, desto mehr gleichen die Fluktuationen sich aus.

»Ist unser Land nicht hart und grausam zum Leben? Ist nicht das Land des Bombo Tschimbo (Indien) besser?« fragten meine Tibeter.

»Das will ich nicht behaupten; in Indien hat man mit Tigern, Schlangen, giftigen Insekten, Hitze, Fieber und Pest zu kämpfen, was alles hier oben in der frischen Luft nicht vorkommt.«

»Ja, aber das ist doch noch besser als der ewige Wind, die scharfe Kälte und das vergebliche Warten auf Regen. Dieses Jahr haben wir nur ein paar leichte Schauer gehabt und verlieren unsere Herden, wenn nicht noch mehr Regen kommt.«

»Nun, dann ist also der Sommer in Tibet recht gut, wenn es regnet, in Indien ist er aber dann erstickend; der Winter in Tibet hart und grausam, dagegen in Indien behaglich.«

»Sagt uns, Bombo Tschimbo, seid ihr es, der mit seinen Glas- und Meßmaschinen dies Jahr den Regen zurückhält? Um diese Zeit regnet es sonst heftig. Aber ihr zieht wohl klares Wetter vor, um das Land sehen zu können und damit die Wege nicht aufweichen?«

»Nein, ich sehne mich ebenso nach Regen wie ihr; meine Tiere magern ab und werden von dem jämmerlichen Gras, das hier noch vom vorigen Sommer steht, nicht satt. Nur die Götter haben Macht über das Wetter; die Menschenkinder müssen Regen und Sonnenschein hinnehmen, wie er ihnen von oben gegeben wird.«

Sie sahen einander fragend an. Es war nicht das erstemal, daß sie mir ebenso große Macht wie ihren eigenen Göttern zuschrieben. Und es wäre mir schwer geworden, sie aus diesem Irrtum zu reißen.

Um Mitternacht hörten die Leute ein »einjähriges Kind« am Ufer des Kubi-tsangpo weinen, jammern und um Hilfe rufen. Erstaunt weckten sie einander, und Rabsang und zwei Tibeter gingen in dem Glauben, daß es ein Spuk sei, mit einer Flinte hin. Als sie in die Nähe kamen, hörten sie das Kind ganz deutlich weinen, unsere Helden aber erschraken darüber so, daß sie es für das klügste hielten, sich schleunigst wieder aus dem Staube zu machen. Als ich sie fragte, woher sie denn wissen könnten, daß es gerade ein einjähriges Kind gewesen, antworteten sie, es könne dem Tone nach weder jünger noch älter gewesen sein. Als ich hinwarf, daß es ja auch ein junger Wolf gewesen sein könne, da es doch keine Menschen in der Gegend gebe, versicherten sie, es müsse ein friedloser Geist gewesen sein, der am Ufer umherirre.

Gespukt mag es in der Gegend aber doch wohl haben, denn ich selber träumte in jener Nacht, daß alle die Birkenrindenstücke, die wir bei Tag während des Rittes gesehen hatten, Einladungskarten des Maharadscha von Nepal seien, daß ich die Einladung angenommen hätte und daß ich jetzt im Halbschlaf auf einem weichen Rasenteppich läge und dem Sausen der warmen Winde in den Zedern des Himalaja lauschte. Der Traum war so lebhaft, daß ich den ganzen Tag kaum an etwas anderes als an das warme, herrliche Land hinter den Bergen denken konnte. – – –

Schon im Lager Nr. 200 war es mir ziemlich klar, wie es sich mit der gesuchten Quelle verhalten mußte, aber noch waren wir nicht an sie gelangt und zogen daher am 12. Juli nach Südwesten weiter. Der Fuß der Schneegebirge schien ganz nahe zu sein. Der Fluß ist breit und teilt sich wieder in mehrere Arme, zwischen denen Schlamminseln liegen. Auf der linken Talseite, auf der wir hinziehen, steht in ein paar kleinen Wänden grüner und schwarzer Schiefer an. Sonst besteht alles aus alten Moränen. Wir überschreiten einen Fluß, der aus der Gegend unterhalb des Dongdong kommt und sich in den Kubi-tsangpo ergießt. Der Tse-tschung-tso ist ein kleiner Moränensee. Der Talboden hebt sich allmählich, besteht aus weichem Material und hat nur spärlichen Graswuchs. Gelegentlich sieht man einen kleineren erratischen Block von grauem Granit. Auf den Sommerlagerplätzen liegen Lumpen, Dung und Knochenstücke. Schließlich wird der Fluß so breit wie ein kleiner, von Moränen und Flugsand umschlossener See.

Wir lagerten an der Steinmauer von Schapka, einem Hauptquartier der Nomaden. Hier erhebt sich am rechten Ufer des Kubi-tsangpo ein mittelhoher, dunkelvioletter Bergrücken mit Schneestreifen, die im Lauf des Sommers auftauen. Der Boden am Fuß dieser kolossalen Gebirge ist merkwürdig flach, statt eines Schuttkegels findet man einen seeartig angeschwollenen Fluß. Das Schmelzwasser hat eben alles feste Material weggeschwemmt.

Als wir das Lager 201 erreichten, das 4864 Meter hoch lag, verschwanden gerade die Gipfel in Wolken; aber unmittelbar vor Sonnenuntergang klärte es sich auf, und die letzten Wolken glitten leicht und weiß wie Dämpfe über den Ngomo-dingding-Gletscher hin, dessen herrlicher Bau mit den höheren Seitenmoränen und konzentrischen Ringen von grauen hügeligen Stirnmoränen deutlich hervortrat (Abb. 212). Hier und dort gähnen große blaue Spalten im Eis, dessen Oberfläche im übrigen durch Schnee und die poröse, schmelzende Eiskruste weiß aussieht.

Als die Sonne untergegangen war, zeichneten sich die neun Gipfel, die man von Südosten nach Südwesten sieht, mit außerordentlicher Schärfe ab. Aus den kreideweißen Schneefeldern sehen rabenschwarze Felsspitzen, Vorsprünge und Rücken hervor und zwischen kolossalen Propyläen treten die Gletscherzungen heraus. Ein ganzes Dorf himmelstürmender Zelte! Die Quelle des Brahmaputra konnte nicht durch eine großartigere, herrlichere Hintergrunddekoration verschönert werden. Heilig, dreimal heilig sind diese Berge, aus deren kaltem Schoß der seit unvordenklichen Zeiten in Sagen und Liedern gefeierte Fluß, der Fluß Tibets und Assams, der »Fluß« par préférence, der Sohn des Brahma, entsprossen ist und genährt wird. Eine Generation schwarzer Tibeter nach der anderen hat während der Jahrtausende seinem Rauschen zwischen den beiden höchsten Bergsystemen der Erde, dem Himalaja und dem Transhimalaja, gelauscht, und eine Generation der verschiedenen Völkerschaften Assams nach der anderen hat ihre Felder mit seinen lebenspendenden Fluten bewässert und von seinem gesegneten Wasser getrunken. Aber wo die Quelle lag, das wußte keiner! Drei Expeditionen haben ihre Lage annähernd bestimmt, aber keine ist dort gewesen. Keine Geographie hat uns je etwas von dem Lande um die Quelle des Brahmaputra herum mitzuteilen gehabt. Nur eine geringe Anzahl Nomaden begibt sich alljährlich dahin, um ein paar flüchtige Sommermonate zu verweilen. Hier ist es, hier an der Front dreier Gletscherzungen, wo der den Hinduvölkern so heilige Fluß seinen fast 3000 Kilometer langen Lauf durch das großartigste Bergland der Erde beginnt, von wo aus seine trüben Wassermassen sich zuerst nach Osten wälzen, dann südlich ein zerklüftetes Tal durch den Himalaja sägen und schließlich nach Südwesten hin Assams Ebenen durchströmen. Der obere Brahmaputra, der »Tsangpo«, ist in Wahrheit Tibets Hauptpulsader, denn innerhalb seines Flußgebietes konzentriert sich die Hauptmasse der 2½ Millionen zählenden Bevölkerung des Landes, während die fruchtbarsten, volkreichsten Provinzen Assams seinen Unterlauf umgeben. Der Brahmaputra ist einer der edelsten Flüsse der Erde, und es gibt wenige Wasserläufe, die höhere Ahnen und einen abwechselnderen, ehrenvolleren Lebenslauf haben. Denn an seinen Ufern sind Völker aufgewachsen und haben ihr Leben dort zugebracht, und ihre Geschichte und ihre Kultur sind seit der Zeit, bis zu der menschliche Urkunden zurückreichen, eng mit ihm verknüpft gewesen.

In diesen Gedanken ging ich am späten Abend noch ins Freie und sah die Felsenpartien der neuen Gipfel gleich undeutlichen Nebelschatten hervortreten, während die Eis- und Schneefelder die gleiche Farbe wie der Himmel hatten und sich daher in der Nacht nicht geltend machten. Nun aber flammte im Süden hinter dem Kubi-gangri, wie der ganze Gebirgsstock genannt wird, ein Blitz auf, und die Kontur des mit ewigem Schnee bedeckten Kammes trat plötzlich scharf geschnitten und rabenschwarz hervor. Seltsames, fesselndes Land, wo man Geisterstimmen in der Nacht flüstern hört und den Nachthimmel in bläulichem Lichte flammen sieht! Lange lauschte ich noch dem Bache Schapkatschu, der leise in seinem steinigen Bett nach dem Ufer des Kubi-tsangpo hinabrieselte.

Noch immer hatten wir eine Strecke zurückzulegen, ehe wir an die eigentliche Quelle gelangten. Außerdem konnte ich den Kubi-gangri nicht mit gutem Gewissen verlassen, ohne seine absolute Höhe mit dem Siedethermometer bestimmt zu haben. Unsere Tibeter waren eitel Freundlichkeit und schienen selber ein Interesse daran zu haben, uns diesen Punkt zeigen zu dürfen, von dem ich während der letzten Tage so viel gesprochen und nach dem ich so viel gefragt hatte. Ich war freilich auch dankbar und froh über diese unerwartet günstige Gelegenheit, die Lage der Quelle feststellen zu können, wenn ich auch wußte, daß mein Ausflug nach dem Kubi-gangri nichts anderes sein konnte als eine sehr flüchtige und mangelhafte Rekognoszierung. Eine gründliche Erforschung dieser Gegend würde viele Jahre in Anspruch nehmen, denn der Sommer ist hier oben kurz, die Arbeitszeit schon nach zwei Monaten vorüber. Aber auch wenn es mir nicht gelungen ist, einen andern Gewinn als die Hauptlinien der physischen Geographie zu erzielen, kann ich diese Exkursion doch zu den wichtigsten Ergebnissen meiner letzten Tibetreise zählen. Wir beschlossen also, am nächsten Tag, dem 13. Juli, nach der Quelle hinaufzureiten. Nur Rabsang, Robert und ein Tibeter sollten mit mir kommen. Die übrigen sollten unter Tserings Befehl unsere Rückkehr hier erwarten.


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