Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bisher hatten wir keine Schwierigkeiten gehabt, aber bei Kokbo sah es beunruhigend aus. Unser Alter teilte mir mit, daß er vor zwei Tagen durch einen Boten die Nomaden am Targo-gangri ersucht habe, Yaks bereit zu halten. Eben hätten sie geantwortet, daß sie ohne ausdrücklichen Befehl einem Europäer nicht zu dienen gedächten und daß sie Gewalt brauchen würden, wenn unsere jetzigen Wächter uns zum Dangra-jum-tso führten. Der Alte regte sich jedoch darüber nicht auf, sondern glaubte, er werde sie schon dazu bringen, Vernunft anzunehmen.
Wir zogen also am 26. April in scharfem Wind nach Nordwesten über den Paß Tarbung-la weiter. Der heilige Berg zeichnet sich wieder in all seinem Glanze mit 16 Gipfeln ab, in N 33° W sieht man die Lücke, in der man den Dangra-jum-tso ahnt. Die Aussicht ist unendlich weit. Das Tal erweitert sich, um in das des Targo-tsangpo überzugehen. Vier Antilopen eilen federleicht über die Abhänge hin; schwarze Zelte sind nicht zu sehen.
Als wir wieder auf freieres Terrain gelangt sind, öffnet sich in Westsüdwest eine der großartigsten Landschaften, die ich in diesem Teil Tibets gesehen habe, eine gigantische Kette gleichmäßig hoher, mit Schnee bedeckter Hörner, zwischen denen kurze Gletscher liegen und die dem näheren Targo-gangri an imponierender Schönheit und Kraft kaum nachstehen. Die Kette ist unter den weißen Schneezinnen blauschwarz; an ihrem Fuß soll ein unbekannter See liegen, der Schuru-tso heißt. Bis an den Ngangtse-tso rechnet man nur drei Tagereisen nach Nordnordost, wenn man über den Paß Schangbuk-la geht! An der Ostseite des Targo-gangri zeigen sich jetzt fünf tiefeingeschnittene Gletscher, während östlich vom Berge das offene flache Tal des Targo-tsangpo hervortritt, dem wir uns allmählich nähern, während wir fünf deutliche Terrassen überschreiten, Überbleibsel aus einer Zeit, in der der Dangra-jum-tso viel größer war als jetzt. Vor uns her schleichen zwei Wölfe; der Alte reitet ihnen im Galopp nach; als sie aber stehen bleiben, wie um ihn zu erwarten, kehrt er hübsch wieder um. »Hätte ich nur ein Messer oder eine Flinte gehabt,« sagt er, »so würde ich sie alle beide getötet haben!«
Von einer sich scharf abhebenden Doppelterrasse steigen wir schließlich in das Tal des Targo-tsangpo hinunter, wo der Fluß sich in mehrere Arme geteilt hat, an denen es von Wildgänsen und -enten wimmelt. An den Ufern wächst Gebüsch. Auf dem rechten Ufer liegt unser Lager Nr. 150, nicht weit vom Fuß des majestätischen Targo-gangri (Abb. 207, 208, 209, 210).
207. Der Targo-gangri südöstlich von Lager Nr. 150.
208. Der Targo-gangri von Süden.
209. Lager Nr. 150 am Fuß des Targo-gangri.
210. Targo-gangri von einem Hügel beim Lager 150 aus.
211. Tschomoutschong Massiv, vom Kintschung-la aus, 23. Mai 1907.
212. Kubi-gangri von Lager 201 aus. Skizzen des Verfassers
So weit sollte ich kommen, aber nicht weiter! Hier erwartete uns eine Schar von 20 bis an die Zähne bewaffneten Reitern, die der Gouverneur von Naktsang aus Schansa-dsong mit dem Befehl geschickt hatte, uns anzuhalten, »falls wir es versuchen sollten, nach dem heiligen See vorzudringen«. Diesmal hatten sie besser aufgepaßt und vorausgesehen, daß ich mir allerlei Freiheiten herausnehmen würde! Vor 15 Tagen hatten sie Schansa-dsong verlassen, seit 3 Tagen lagerten sie hier und erwarteten unser Kommen. Wenn wir uns gesputet hätten, wäre ich ihnen wieder zuvorgekommen! Der eine der beiden Führer war derselbe Lundup Tsering, der, wie er mir selber sagte, Dutreuil de Rhins und Grenard Halt geboten hatte und auch im Januar mit Hladsche Tsering am Ngangtse-tso gewesen war (Abb. 213). Er erzählte, daß Hladsche Tsering noch im Amt sei, aber meinetwegen große Unannehmlichkeiten gehabt und dem Devaschung 60 Jambaus, ungefähr 13 500 Mark, Strafe habe zahlen müssen! Als ich einwandte, daß Hladsche Tsering mir selber gesagt habe, er sei so arm, daß er nichts mehr zu verlieren habe, antwortete Lundup, daß er den Betrag von seinen Untergebenen erpreßt habe. Auch alle, die uns Yaks verkauft und uns als Führer gedient hatten, seien streng bestraft worden. – Der nächste Europäer, der sich ohne Erlaubnis hier durchzuschleichen sucht, wird mit schönen Schwierigkeiten zu kämpfen haben!
213. Lundup Tsering (links zu Pferd), der meinen Zug zum Dangra-jum-tso verhinderte.
Im Hintergrund der Taro-tsangpo und der Targo-gangri.
Lundup zeigte auf einen roten Granitvorsprung, 200 Meter im Norden unseres Lagers, und sagte: »Dort ist die Grenze zwischen dem Labrang (Taschi-lunpo) und Naktsang (Lhasa). So weit dürfen wir Sie gehen lassen, aber keinen Schritt weiter; anderenfalls haben wir Befehl zu schießen.«
Sie lasen den Paß aus Schigatse und erklärten, daß, wenn darin stehe »auf dem geraden Weg nach Ladak«, damit doch durchaus nicht gesagt sei, daß ich die Erlaubnis hätte, alle möglichen Umwege zu machen, am allerwenigsten aber, daß wir nach dem Dangra-jum-tso ziehen dürften, der heilig sei und unter der Herrschaft von Lhasa stehe. Gaw Daloi habe Befehl gegeben, ihm über den Weg, den wir zögen, täglich zu berichten. Wenn sie diesem Befehl nicht gehorchten, koste es ihnen allen den Kopf. So war es denn klar, daß ich den Dangra-jum-tso nun zum drittenmal aufgeben mußte, jetzt, da ich nur noch zwei kurze Tagereisen von ihm entfernt war!
Scharf und weiß zeichneten sich die Umrisse des Berges im Mondschein gegen den blauschwarzen, mit Sternen übersäten Himmel ab. Am Tag darauf aber stürmte es, und man sah nicht einmal den Fuß des Targo-gangri, geschweige denn die eisigkalten Höhen, wo die Winde ihre himmlischen Chöre zwischen den Firnfeldern singen. Am Abend dagegen, als das Wetter sich aufgeklärt hatte, trat der ganze mit frischgefallenem Schnee bedeckte Bergstock wieder deutlich hervor.
Auch jetzt hatten wir wieder ein langes Palaver mit den Reitern aus Naktsang. Ich sagte ihnen, daß ich dieses Lager nicht eher verlassen würde, bis ich den See wenigstens aus der Ferne gesehen hätte. Sie erwiderten zu meiner Freude, daß sie, weil sie mir nun einmal gezwungen und wider ihren Willen die Enttäuschung verursachen mußten, daß ich nicht an das Seeufer dürfe, mich nicht auch noch hindern wollten, den heiligen See wenigstens von weitem zu sehen; sie würden aber scharf aufpassen, daß ich hinter jenem roten Berg nicht weiter nach Norden ritte!
Kaum waren sie gegangen, so erschienen unsere alten Führer aus Kjangdam, um sich zu beklagen, daß die Reiter aus Naktsang ihr Leben bedroht hätten, weil sie mich hierhergebracht hätten. Ich ließ mir nun die Naktsangleute wieder holen und erklärte ihnen energisch, daß sie nicht länger zu quengeln hätten, da es ausschließlich meine Schuld sei, daß wir uns hier befänden. Sie versprachen auch, da sie ja das große Glück gehabt hätten, mich noch gerade im richtigen Augenblick abzufangen, nicht länger unfreundlich gegen die Kjangdamleute zu sein. Diese konnten den Frieden schließenden Parteien gar nicht genug danken, und ihre Freude wurde noch größer, als ich der ganzen Gesellschaft Geld schenkte, um ihre knapp bemessenen Lebensmittelvorräte zu verstärken. Sie machten ihrem Entzücken dadurch Luft, daß sie vor meinem Zelt Spiele, Tänze und Ringkämpfe ausführten, und ihr fröhliches Lachen und Lärmen hallte noch in später Nacht von den Bergen wider.
Da kamen aber zwölf neue Soldaten von Naktsang mit frischeren Befehlen: unter keiner Bedingung werde mir gestattet, weiter nordwärts zu gehen! Aber alle waren freundlich und höflich; wir scherzten und lachten miteinander und wurden die besten Freunde. Merkwürdig, daß ihnen nie die Geduld riß, obwohl ich ihnen immer wieder Scherereien, Wirrwarr und lästige Reisen verursachte!
Am 28. April stand ich um 8 Uhr auf, nahm eine Sonnenhöhe, photographierte den Berg und maß die Winkel der höchsten Spitze, wozu einige Ladakis mit den nötigen Instrumenten, sowie mit Brennmaterial voraus geschickt wurden. Just als ich mich zu Pferd setzen wollte, kam der Häuptling von Largäp mit einer Reiterschar und wurde von seinen auf dem Lagerplatz befindlichen Untergebenen mit wildem Hurraruf begrüßt. In gebieterischem Ton ließ er meine Leute sofort zurückrufen, und 60 Tibeter aus Largäp und Naktsang drängten sich um mein Zelt und meldeten sich zu neuen Beratungen.
Der Häuptling von Largäp aber war unnachgiebiger als die Naktsangherren, unsere alten Freunde. Er ließ mich den roten Berg nicht besteigen, sondern verlangte, daß wir am nächsten Tag die Gegend verlassen und geradeswegs nach Raga-tasam ziehen sollten. Ich fuhr ihn aber an, wie er, ein kleiner Häuptling im Gebirge, sich unterstehen könne, so gebieterische Reden zu führen? Sogar die Chinesen in Lhasa seien liebenswürdig gewesen und hätten mir große Freiheit gelassen. Ich würde nicht eher von der Stelle gehen, als bis ich den See gesehen hätte! Ich drohte den Schigatsepaß in kleine Stücke zu zerreißen, aber sofort einen Kurier an Tang Darin und Lien Darin zu schicken und ihre Antwort am Fuß des Targo-gangri abzuwarten. Da wurde der Häuptling verlegen, erhob sich schweigend und ging, von den anderen begleitet, weg. Vor Abend noch sah ich sie jedoch wieder bei mir. Mit demütigem Lächeln sagten sie, daß ich gern auf den roten Berg hinaufreiten dürfe, wenn ich ihnen nur versprechen wolle, nicht bis an das Ufer des Sees zu gehen!
Den ganzen Tag lag dünner Nebelschleier über dem Lande. Aber als die Sonne unterging, glühte der Westhimmel in Purpurflammen und eiskalte Gletscher und Schneefelder zeichneten sich auf einem Hintergrund von loderndem Feuer ab.
Am 29. April machten wir uns endlich auf den Weg und ritten über den von rechts kommenden Nebenfluß Tschuma, der in seinem Oberlauf Nagma-tsangpo heißt. Über regelmäßig geschweifte Seeterrassen stiegen wir immer höher; die Aussicht erweiterte sich immer mehr, je mehr wir uns dem Gipfel näherten, wo die Ladakis mich mit einem Feuer erwarteten. Das südliche Becken des Dangra-jum-tso war wie eine bläuliche Säbelklinge vollkommen deutlich sichtbar, in die weite Uferebene mündet das Tal des Targo-tsangpo trompetenförmig ein. Es war um so leichter, den Lauf des Flusses bis in die Nähe des Sees zu verfolgen, als sein ganzer Weg durch weißglänzende Eisschollen und dunkle Flecken, an denen Gebüsch wuchs, markiert wurde. Ende Juli soll der Fluß so hoch anschwellen, daß er nicht überschritten werden kann. Wenn dann den Nomaden am östlichen Fuß des Berges Briefe zu bringen sind, werden sie mit einem Stein beschwert an einer schmalen Stelle über den Fluß geworfen.
Das Seewasser soll ebenso salzig wie das des Ngangtse-tso und untrinkbar sein, aber die Pilger trinken es trotzdem, weil es heilig ist. Gerade jetzt war das Wintereis im Aufbrechen, nur an den Ufern lagen noch Eisstreifen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Seen Tibets zieht sich der Dangra-jum-tso in nordsüdlicher Richtung hin; er ist sehr schmal und in der Mitte eingeschnürt, genau so, wie ihn Nain Sing auf seiner Karte zeichnet, obgleich er den See im ganzen ein wenig zu groß gemacht und besonders die Dimensionen des südlichen Beckens übertrieben hat. Ein Reiter braucht zur Reise um den See fünf gewöhnliche oder sieben kurze Tagereisen; die Pilgerstraße zieht sich überall nahe am Ufer hin. Die Pilger unternehmen ihre Seeumwanderung stets in der Richtung des Uhrzeigers – wenn sie nämlich orthodox sind; gehören sie aber, wie die Mönche des Klosters Särschik-gumpa, zur Pembosekte, so führen sie den Marsch in entgegengesetzter Richtung aus. Die meisten kommen im Spätsommer und im Herbst. Man sagte mir, daß die Seeumwanderung, die natürlich zu Fuß gemacht werden muß, zu Ehren des Padmasambhava geschehe, jenes Heiligen, der im Jahre 747 nach Tibet kam, der Gründer des Lamaismus wurde und sich beinahe ebenso großen Ansehens erfreut als Buddha selbst. In Tibet heißt er Lopön Rinpotsche, und sein Bild ist fast in allen Tempeln zu finden.
Särschik-Gumpa, von dem wir schon so oft gehört hatten und das Nain Sing auf seiner Karte Sasik Gombas nennt, liegt auf einer flachen Halde am östlichen Fuß der Berge. Das Kloster steht unter dem Devaschung und hat zwanzig Pembobrüder und einen Abt, namens Tibha. Einige Mönche sollen wohlhabend sein, sonst aber ist das Kloster nicht reich; es bezieht seinen Unterhalt von Nomaden in Naktsang, Largäp und Särschik. Das Kloster besteht zum größten Teil aus Stein, hat aber auch Gebälk, das aus dem Schangtal hierher transportiert worden ist. Ein Dukang ist vorhanden, sowie eine Anzahl kleinerer Götterstatuen. Auch der Bergstock Targo-gangri kann umwandert werden, man hat dabei nur einen einzigen Paß zu überschreiten, nämlich den Barong-la oder Parung, der zwischen dem Targo-gangri und der mächtigen Kette im Westen des Schuru-tso liegt.
Die kurze, hohe, meridionale Kette, die Targo-gangri heißt und eher als ein freistehender Gebirgsstock anzusehen ist, endet im Norden unweit des Ufers, nach dessen flacher Ebene das Gehänge des letzten Gipfels langsam abfällt. Nain Sing nennt den Bergstock Targot-la oder Snowy Peaks und das Land im Süden des Berges Tárgot Lhágeb (Largäp). Auf seiner Karte findet man den Fluß als Targot Sangpo. Sein Siru Cho im Osten des Sees kannte hier niemand, und seine Mun Cho Lakes, die südlich davon liegen sollen, liegen statt dessen im Westen des Sees. Seine Darstellung des im Süden des Sees liegenden Gebirges ist unklar und phantastisch. Einige Nomaden nannten den heiligen Berg Tschang-targo-ri.
Auf dem Rückweg führte ich mit Robert ein Nivellement aus und fand, daß die höchste erkennbare Seeterrasse 89 Meter über der Oberfläche des Flusses lag. Der Targo-tsangpo ist hier gewiß nur 2 Meter höher als der Seespiegel. Da der Dangra-jum-tso auf mehreren Seiten, besonders im Süden, von ziemlich niedrigem, flachem Gelände umgeben ist, muß der See früher einen sehr großen Umfang gehabt haben. Damals zog sich der Targo-gangri wie eine Halbinsel des westlichen Ufers in den See hinein.
In der Nacht ertönte ein Gepolter, das an eine Lawine erinnerte; es wurde schwächer und verhallte. Die Pferde und Yaks der Tibeter waren, durch irgend etwas erschreckt, den Schuttabhang der Terrasse hinaufgestürmt. Eine halbe Stunde später hörte ich Pfiffe und Rufe – die Leute kamen mit den Ausreißern wieder.
Bevor ich unseren lästigen Freunden Lebewohl sagte, mußten sie alle zu Pferde steigen und sich photographieren lassen (Abb. 214). Sie trugen weite, dunkelkirschrote Mäntel und hatten im Gegensatz zu den barhäuptigen Largäpern eine rote, oft durch armbandähnliche Silberringe gezogene Binde um den Scheitel gewunden. Einer hatte einen hohen, weißen Hut wie einen abgestumpften Kegel, mit gerader Krempe, eine Kopfbedeckung, deren ich mich noch von Naktschu her erinnerte. Ihr Gewehr mit den kriegerischen Gabelfähnlein hatten sie über die Schulter gehängt, und im Gürtel steckte horizontal der Säbel, dessen silberbeschlagene Scheide drei unechte Korallen verzierten. Über der linken Schulter trugen einige ein ganzes Bandelier von Gaofutteralen mit Glasscheiben, durch die man die kleinen unschuldigen Götter sehen konnte, die ihren Trägern auf der Reise Glück bringen sollen. Ihre fetten Pferdchen stampften, schnoben und sehnten sich nach ihren alten bekannten Weideplätzen an den Ufern des Kja-ring-tso zurück. Auch sie waren mit unnötig schweren, aber hübschen Zieraten geschmückt. Einen besonders ansprechenden Eindruck machten die Schimmel mit roten Reitern auf dem Rücken. Es war ein buntes Bild im strahlenden Sonnenschein mit den Schneekuppen des Targo-gangri als Hintergrund und Nain Sings See im Norden. Ich bat sie, Hladsche Tsering herzlichst zu grüßen und ihm zu sagen, daß ich hoffte, ihn noch einmal wiederzusehen.
214. Lundup Tserings Heeresmacht.
Links ein Teil des Targo-gangri.
Und dann trieben sie ihre Pferde mit den Fersen an, zogen sich zu einer Schar zusammen und trabten trippelnd nach den ebenen Flächen der Flußterrassen hinauf. Vom Anblick der davoneilenden Schar gefesselt, lief ich ihnen nach und sah noch, wie sich die dunkle Kolonne an dem roten Bergvorsprung, wo die alten Uferlinien wie in einem Bündel zusammenlaufen, verkleinerte. Seltsames Volk! Sie steigen wie Kobolde aus der Tiefe ihrer Täler auf, sie kommen, ohne daß man weiß woher, sie sind einige flüchtige Tage am Fuß des Schneeberges zu Gast und verschwinden wieder wie ein Wirbelwind im Staub ihrer Pferde und am geheimnisvollen Horizont.
Auch wir brachen auf und ich überließ den Dangra-jum-tso seinem Schicksal, überließ die dunkelblauen Fluten dem Toben der Stürme und dem Liede der anschwellenden Wogen und die ewigen Schneefelder dem Sausen flüsternder Winde. Mögen wie schon seit ungezählten Jahrtausenden die wechselnden Färbungen der Jahreszeiten, die Pracht der Atmosphäre in Hell und Dunkel, Gold und Purpur und Grau, zwischen Regen und Sonnenschein über Padmasambhavas See hinziehen, mögen um seine Ufer die Schritte gläubiger, sehnsuchtsvoller Pilger eine Kette spannen!
Von Robert und unserem bejahrten Führer begleitet, ritt ich über den Fluß, der ungefähr 4 Kubikmeter Wasser führte, und nach einem Vorsprung des Targo-gangri hinauf, um mir eine Gesteinprobe mitzunehmen. Eine Gletscherzunge nach der anderen an der langen Reihe auf der Ostseite des Berges erschien und verschwand, und nun verschwand auch die Lücke, durch die man einen Zipfel des Sees und, fern im Norden, an seiner anderen Seite die Konturen hellblauer Berge erblickt hatte.
Auf einem Abhang weideten 600 Schafe ohne Hirten. Dann und wann fuhr in den dichten Steppengrasbüscheln ein Hase in die Höhe. Von den Schuttkegeln zur Rechten ertönte das gemütliche Gackern der Rebhühner. Als wir weit entfernt waren, tauchten aus einer Schlucht zwei Hirten auf, die die Schafe nach dem Fluß hinuntertrieben. Am unteren Ende der Moräne einer Gletscherzunge stand ein einsames Zelt. Ich fragte unsern Alten, wie die Stelle heiße, aber er schwor bei drei verschiedenen Göttern, daß er davon keine Ahnung habe. Die südlichste Anschwellung des Targo-gangri verdeckte jetzt die übrigen Teile der Kette, aber noch bevor wir das Lager 151 erreicht hatten, sahen wir sie wieder in Verkürzung hinter uns. Dieses Lager stand auf dem linken Ufer des Flusses.
1. Mai. Der Frühling ist gekommen; wohl haben wir während der letzten Nächte noch bis zu 16 Grad Kälte gehabt, aber die Tage sind herrlich und klar, und selbst wenn man direkt gegen den Wind reitet, empfindet man ihn nicht so lästig wie in Tschang-tang. Im Lager Nr. 150 hatten wir uns auf 4708 Meter Höhe befunden; jetzt steigen wir wieder langsam, folgen erst dem Flusse, lassen ihn aber bald zur Linken liegen, als wir ihn wie durch ein Tor aus dem Gebirge heraustreten sehen. Auf einer unglaublich gleichmäßigen, festen Ebene ohne Risse oder Bodenanschwellungen nähern wir uns nun in südwestlicher Richtung der Schwelle, die den Schuru-tso vom Dangra-jum-tso trennt. Auf der südwestlichen Seite des Targo-gangri zeigen sich sechs Gletscher, viel kleiner als die nördlichen und östlichen, sie können eher als Ausläufer und Zipfel des Eismantels angesehen werden, der die höheren Regionen des Gebirgsstockes bedeckt. Wie eine feine blaue Linie zeichnet sich der Schuru-tso ab. Wir nähern uns seinem Ufer und sehen, daß der See überall zugefroren ist. Ich mache halt, um zu photographieren und ein Panorama zu malen. Unser Alter raucht eine Pfeife, Robert und Taschi schnarchen um die Wette. Als ich fertig bin, schleichen wir anderen uns leise von den beiden Siebenschläfern fort. Als nun Taschi als erster aufwacht, versteht er die Situation und kommt uns ebenfalls leise nach. Endlich erwacht auch Robert und findet sich zu seiner Überraschung allein und verlassen – holt uns aber dann bald auf seinem Maulesel ein.
Jetzt haben wir den See unmittelbar zur Rechten (Abb. 215). Im Süden zeichnet sich ein großartiges Gebirge ab, eine der höchsten Ketten des Transhimalaja, rabenschwarz unter der Sonne, aber die Firnfelder glitzern in metallischem Glanz. Um die Ufer stehen bedeutende Terrassen, die Täler, die sich von Osten nach dem See herabziehen, durchschneiden sie und bilden tiefe Hohlwege, in denen hier und da ein einsames, von wütenden Hunden bewachtes Zelt steht. Auf der Terrassenfläche oberhalb des Parvatals lagerten wir in 4753 Meter Höhe; die acht schwarzen Zelte stachen grell gegen den gelben Erdboden ab. Unsere alten Tibeter aus Kschangdam sagten nun Lebewohl und erhielten doppelte Bezahlung und Geschenke. Vor uns sehnten sich die erstarrten Wellen des Schuru-tso nach der befreienden Wärme der Frühlingswinde, im Süden erhob sich der Do-tsängkan, ein gewaltiger, mit ewigem Schnee bedeckter Bergstock, im Südwesten sinkt die Sonne hinter den mächtigen Kamm des Gebirges, und lautlos jagen die Schatten über das Eis. Bald zögert das Abendrot nur noch auf den Spitzen des Targo-gangri und des Do-tsängkan, und dann gleitet die neue Nacht über die Erde. Schade, daß die Tibeter das Verhältnis zwischen der Sonne und den Planeten nicht verstehen; sie könnten das ganze Sonnensystem als eine einzige, unermeßliche Gebetmühle ansehen, die sich zur höheren Ehre der Götter im Weltenraume dreht! In der Dunkelheit erschienen die hohen Berge im Südwesten nur wie undeutlicher Nebel, aber als der Mond aufging, wurden sie und das Eis des Sees gleichmäßig beleuchtet und schienen in Zusammenhang zu stehen. Von unserer Terrasse sah es aus, als hätten wir einen bodenlosen Abgrund unter uns.
215. Der Schuru-tso, im Hintergrund der Targo-gangri.
Am 2. Mai ritten wir südwärts am Ufer entlang. Ebenso wie der Dangra-jum-tso zieht sich der Schuru-tso in beinahe nordsüdlicher Richtung hin, er liegt in einem Längstal, das diese in Tibet ungewöhnliche Streckung hat. Längs des Ufers ist schon offenes Wasser, und die Wellen plätschern gegen den porösen Eisrand, auf dem noch oft lange Reihen Wildenten sitzen. Durch die Wellen wird das Wasser am Ufer schwarz von verfaulten Algen und vermodertem Seegras, in dem die Wildgänse schnattern und schreien. Als wir das regelmäßig gebogene Südufer des Sees mit seinem Sandwall erreichen, sehen wir vor uns auf der Ebene wohlbekannte Sturmwarnungen: weiße Staubtromben, die der Wind spiralförmig vom Erdboden aufwirbelt, dem Rauch nach einem Schusse gleichend. Nach einer Weile befinden auch wir uns in der Bahn des fliegenden Sturmes – solcher Stürme wird es nicht viele bedürfen, um den ganzen See aufzureißen und seine losgelösten Eisfelder nach dem Ostufer hinüberzutreiben. Wir reiten über den vom Transhimalaja kommenden Fluß Kjangdom-tsangpo und lagern auf seiner westlichen Terrasse (4739 Meter). Dort hatten wir nach Norden den ganzen See vor uns und hinter ihm den Targo-gangri, diesen jetzt wieder kleiner.
Auch hier wurde unsere Begleitmannschaft gewechselt. Der Largäper Häuptling, der erst so übermütig aufgetreten war, war im Augenblick des Abschieds so weich wie Wachs und schenkte mir ein Kadach, ein Schaf und vier Magen Butter. Jeden Morgen, wenn die Karawane aufbricht, kommt Ische in mein Zelt, um sich meine beiden Hündchen zu holen; Muhamed Isa hat den dritten übernommen, den er zu einem Wundertier zu erziehen beabsichtigt, und den vierten hat Sonam Tsering erhalten. Sie sind schon sehr gewachsen und jaulen und beißen sich während des Marsches, den sie in einem Korb auf dem Rücken eines Maulesels mitmachen. Sie sind niedlich und spielerisch und machen mir mit ihren Einfällen viel Spaß.
Von dem kleinen Passe Dunka-la aus hatten wir eine großartige, orientierende Aussicht über den großen Schuru-tso, der länglich und im Westen konvex ist. Am nächsten Tag überschritten wir den Paß Bän-la bei Südweststurm. Es wehte und stürmte Tag und Nacht, aber die Luft blieb vollkommen klar. Am 6. ritten wir auf steilem Weg nach dem Angden-la hinauf (Abb. 216, 217). In dem ziemlich tiefen Schnee und dem anstrengenden Schutt kommen die Pferde nur Schritt für Schritt vorwärts, müssen oft haltmachen und sich ausruhen. Tsering reitet mit seiner Yakkompanie an uns vorbei, unten im Tal sind vier Ladakis zurückgeblieben – wegen wütender Kopfschmerzen. Droben auf der Paßhöhe (5643 Meter) steht ein gewaltiges Steinmal mit Schnüren und Wimpeln, deren Gebete der ewige Wind nach den Wohnungen der Götter hinaufweht.
216. Einige meiner Yaks auf dem Angden-la.
217. Tal in der Nähe des Angden-la.
Worte können das Panorama, das mich umgibt, nicht beschreiben! Wir schweben über einem Meer von Bergen, aus dem sich hier und dort dominierende Schneegipfel erheben. Im Süden sehen wir den Himalajaklarer und schärfer als früher, und diesseits seiner schneeweißen Grate ahnen wir das Tal des Brahmaputra. Im Norden zeigt sich der Schuru-tso in starker Verkürzung, den Dangra-jum-tso aber verdeckt der Targogangri, der scharf gezeichnet ist, obgleich wir sechs Tagereisen von ihm entfernt sind. Ja, sogar die mächtigen Berge am Nordostufer des Sees, die wir im Winter von Norden sahen, bilden eine deutliche Kontur und liegen doch volle zehn Tagereisen von hier. Ich sitze am Feuer, zeichne und messe, wie auf allen Pässen. Ich bin wieder auf dem Transhimalaja, 86 Kilometer vom Tschang-la-Pod-la, und überschreite ihn jetzt zum drittenmal! Nördlich geht das Wasser nach dem Schuru-tso, südlich nach dem Raga-tsangpo; ich trete mit den Füßen die ozeanische Wasserscheide, umfasse dieses gewaltige System mit den Blicken, ich liebe es wie mein Eigentum! Denn der Teil, auf dem ich mich jetzt befinde, war unbekannt und hat seit Millionen Jahren auf mich gewartet, während ihn zahllose Stürme gepeitscht, die Herbstregen bespült und die winterlichen Schneedecken eingehüllt haben! Mit jedem neuen Paß, den in der Wasserscheide der indischen Riesenflüsse zu erobern ich das Glück habe, wird meine Sehnsucht und Hoffnung immer größer, ihrer gewundenen Linie westwärts nach den Gegenden, die schon bekannt sind, noch folgen zu dürfen und den großen weißen Fleck der Karte im Norden des Tsangpo ausfüllen zu können! Wohl weiß ich, daß Generationen von Forschern dazu gehören, dieses gewaltige, komplizierte Bergland zu erforschen, aber mein Ehrgeiz wird befriedigt sein, wenn ich mir die erste Rekognoszierung des Landes erkämpfe.
Wir verlassen das Steinmal und das Feuer, dessen Rauch wie ein zerrissener Schleier über dem Scheitel des Passes liegt, und folgen dem Paßbecken, dessen rieselnde Fluten einst nach tausend Schicksalen das warme Meer erreichen werden. – Ich wende ein Blatt um und beginne ein neues Kapitel meines Forscherlebens; hinter mir bleibt wieder das öde Tschang-tang, und der Targo-gangri verschwindet unter dem Horizont – werde ich seine majestätischen Spitzen je wiedersehen?
Jäh geht es abwärts, dem Wind entgegen. Große Eisstücke füllen zwischen Wänden von schwarzem Schiefer und Porphyr den Talboden. Mehrere bedeutende Nebentäler münden in das Paßtal ein, verlassene Lagerplätze zeugen von Sommerbesuchen der Nomaden. Unser Tal vereinigt sich mit dem großen Kjam-tschu-Tal, das 10 Kilometer breit ist und vom Scha-la herabkommt, dem Paß des Transhimalaja, über den die Tibeter uns hatten führen wollen. Um die Nomadenzelte von Kjam herum war das Land flach und offen.
Am 7. Mai zogen wir bei schrecklichem Sturm weiter, im Süden den blauen Spiegel des Amtschok-tso. Der Boden ist eben und hart. Ein Lampe läuft, als gelte es sein Leben zu retten, wie der Wind über dieses Terrain, das ihm nicht die geringste Deckung bietet. Acht muntere Antilopen zeichnen ihre herrlichen Silhouetten in federleichten Sprüngen vor mir, wobei ihnen der Himmel als Hintergrund und der Horizont als Basis dient. Robert hat den Pelz über den Kopf gezogen und sitzt wie eine Dame im Sattel, mit beiden Beinen an der vor dem Wind geschützten Seite baumelnd, während Taschi sein Maultier führt. Als er aber trotzdem durchpustet wird, legt er sich auf den Bauch über den Sattel. Mein Pferd schwankt, da der Wind sich an der breiten Brust des Reiters fängt. Es heult und stöhnt in den Ohren, es winselt und pfeift wie ehemals in Tschang-tang, ein ganzes Heer empörter Luftgeister scheint über all das Elend zu klagen, das sie auf Erden geschaut haben!
Die Ebene heißt Amtschok-tang, über ihren Boden ziehen wir am Hauptfluß entlang. Amtschok-jung ist ein Dorf von fünf Zelten, wo einige hübsche Manis stehen, die mit Yakschädeln, Antilopengehörnen und Sandsteinplatten bedeckt, einen Meter lang und von regelmäßiger, rechtwinkeliger Form sind (Abb. 218). Die Bewohner des Dorfes verschwanden furchtsam wie mit einem Zauberschlag; nur ein alter Mann leistete uns Gesellschaft, als wir uns zwei der Zelte besahen. Als wir aber weiterritten, krochen die Leute wieder hinter Dunghaufen, Erdhügeln und Grasbüscheln hervor, hinter die sie sich versteckt hatten.
218. Manis beim Dorf Amtschok-jung.
Der Wind bohrt eine Trombe von dichtem, gelbem Staub aus dem Erdboden auf; sie ist so dicht, daß sie auf der Schattenseite schwarz erscheint. Sie schraubt sich in zyklonischer Spirale in die Höhe wie der Rauch einer ungeheuren Explosion. Als ein seltsames Gespenst tanzt sie diagonal über die Ebene hin und löst sich erst am Fuß der östlichen Berge auf.
Im Lager dieses Tages, das am nordwestlichen Ufer des Amtschok-tso lag, hörten wir von chinesischen und tibetischen Beamten reden, die in der nächsten Zeit das Land nach allen Richtungen hin durchreisen würden, um Zelte, Volk und Herden zu zählen. Man glaubt, daß dies in Verbindung steht mit neuen Steuergesetzen, die die Chinesen einzuführen beabsichtigen.
Am Ufer lag mein Boot bereit, denn der 8. Mai war zu einem Ausfluge auf dem Amtschok-tso ausersehen worden.