Giovanni Boccaccio
Dekamerone oder die 100 Erzählungen
Giovanni Boccaccio

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Vierundneunzigste Erzählung.

In der berühmten Stadt Bologna in der Lombardei war einmal ein Rittersmann, der nicht weniger wegen seiner Tugenden als wegen seines Adels sehr hochgeehrt war und Messer' Gentile Carisendi hieß. Dieser junge Edelmann verliebte sich in eine Dame, namens Madonna Catalina, die Gattin eines gewissen Niccoluccio Caccianimico; weil sie aber seine Liebe nicht erwiderte, so ging er aus Verzweiflung nach Modena, wo er zum Stadthauptmann erwählt ward. Wie Niccoluccio nun einst von Bologna abwesend war und seine Frau, die sich hoch schwanger befand, sich auf einem Landhause ungefähr drei Meilen von der Stadt aufhielt, bekam sie plötzlich einen so heftigen Anfall von Krankheit, daß alle Merkmale des Lebens bei ihr verschwanden, und daß sie deshalb auch von ihrem Arzte für tot gehalten ward. Weil nun ihre nächsten Verwandten versicherten, von ihr gehört zu haben, daß sie in ihrer Schwangerschaft noch nicht so weit gekommen wäre, daß die Frucht zur Reife gediehen sein könnte, so ward sie ohne weitere Umstände unter vielen Thränen der Ihrigen in einem Kirchengewölbe beigesetzt. Dieses ward dem Herrn Gentile unverzüglich von einem Freunde gemeldet, und so wenig er sich auch der Güte seiner Dame zu rühmen hatte, so betrübte er sich doch über diese Nachricht und dachte bei sich selbst: »Catalina, Du bist nun tot. In Deinem Leben konnte ich nie einen Blick von Dir erhalten; doch jetzt, da Du Dich nicht wider mich sträuben kannst, will ich Dir wenigstens im Tode noch einen Kuß rauben.« Es war schon Abend, wie er mit diesem Vorsatze in Begleitung eines Dieners heimlich zu Pferde stieg und ungesäumt nach dem Orte ritt, wo die Dame begraben lag. Er öffnete das Grab, legte sich an die Seite der geliebten Leiche und seine Wange an die ihrige und küßte sie einigemal mit vielen Thränen. Wie nun aber die Begierden der Menschen keine Grenzen kennen, sondern immer weiter und weiter gehen, zumal bei den Verliebten, so dachte dieser auch, indem er schon im Begriff war, wieder wegzugehen: »Ei, warum soll ich nicht, da ich einmal hier bin, einmal ihren Busen berühren, da ich sie nie wieder berühren werde und nie berührt habe?« Er konnte diesem Triebe nicht widerstehen, legte seine Hand auf ihren Busen und glaubte nach einer kleinen Weile zu fühlen, daß ihr Herz unter seiner Hand schlüge. Wie er nun alle Furcht beiseite setzte und fortfuhr, sie genauer zu beobachten, überzeugte er sich bald, daß sie nicht tot war, wiewohl er nur wenige und schwache Spuren des Lebens an ihr bemerkte. Er hob sie demnach mit Hilfe eines Dieners sanft aus dem Grabe, setzte sie vor sich auf sein Pferd und brachte sie in der Stille nach seinem Hause in Bologna. Seine Mutter, eine vortreffliche und verständige Frau, welche das Haus bewohnte, und von ihrem Sohne den ganzen Vorgang erfuhr, eilte, sie durch laue Bäder und gelinde Erwärmung wieder herzustellen, und es gelang ihr, die schlummernden Lebensgeister bei ihr wieder zu erwecken. Indem sie zur Besinnung kam, hob ein tiefer Seufzer ihre Brust und sie fragte, wo sie wäre.

»Sei ruhig, Liebe (antwortete die verständige Matrone); Du bist in guten Händen.«

Wie sie sich endlich völlig erholte und um sich blickte, und nicht wußte, an welchem Orte sie sich befand, und wie sie vollends den Gentile um sich sah, fragte sie voll Verwunderung seine Mutter, wie sie dahin gekommen wäre.

Herr Gentile erzählte ihr alles umständlich; sie ward sehr gerührt dadurch und dankte ihm nach einer kleinen Weile von ganzem Herzen; doch beschwor sie ihn zugleich bei seiner Rittersitte, sich in seinem Hause kein Betragen gegen sie zu erlauben, welches ihrer Ehre und der Ehre ihres Gemahls zuwider wäre, und sie, sobald es Tag würde, nach ihrem eigenen Hause bringen zu lassen.

»Madonna (erwiderte Gentile), was auch sonst meine Wünsche gewesen sein mögen, so will ich doch weder jetzt noch künftig, weder hier noch anderswo, Euch anders begegnen, als einer geliebten Schwester, nachdem mir Gott die Gnade erwiesen hat, Euch aus dem Grabe mir lebendig wiederzugeben, und meine vormalige Liebe zum Werkzeug Eurer Erweckung zu gebrauchen. Weil jedoch die Wohlthat, die Euch durch mich in dieser Nacht widerfahren ist, einige Belohnung verdient, so müßt Ihr mir eine Gefälligkeit nicht abschlagen, um welche ich Euch bitten will.«

Sie gab ihm liebreich zur Antwort, sie wäre willig, ihm alles zu gewähren, was sie ohne Verletzung ihrer Ehre vermögend wäre zu thun.

»Madonna (sprach hierauf Gentile), alle Eure Verwandten und jedermann in Bologna glauben ganz gewiß, daß Ihr gestorben seid, und niemand wird Euch in Eurem Hause erwarten. Ich bitte Euch deswegen, so lange bei meiner Mutter hier verborgen zu bleiben, bis ich von Modena wieder herkomme, welches nicht lange währen soll. Ich wünsche dieses aus keiner andern Ursache, als weil ich Euch gerne als ein kostbares Geschenk, in Gegenwart der angesehensten Männer dieser Stadt, Eurem Gemahl überliefern möchte.«

Die Dame, welche wußte, wie vieles sie dem Ritter zu danken hatte, und sein Begehren anständig fand, bequemte sich, ihm gefällig zu sein, und versprach es ihm auf ihre Ehre, obgleich sie sehnlich gewünscht hätte, die Ihrigen unverzüglich durch ihre Auferweckung zu erfreuen. Doch kaum hatte sie die Antwort von sich gegeben, so fühlte sie, daß die Stunde ihrer Entbindung sich einstellte, in welcher ihr die Mutter des Gentile so liebreich Beistand leistete, daß sie in einer kleinen Weile einen schönen gesunden Knaben zur Welt brachte. Dieser Umstand verursachte dem Herrn Gentile und ihr selbst eine doppelte Freude. Herr Gentile machte Anstalt, daß sie mit allem nötigen wie seine eigene Gemahlin bedient ward, und ritt hierauf nach Modena, wo er so lange blieb, bis die Zeit seiner Amtsverwaltung zu Ende ging. Wie er nun nach Bologna zurückkam, veranstaltete er am Tage seiner Ankunft ein großes Gastmahl in seinem Hause, zu welchem viele angesehene Leute und unter anderen auch Niccoluccio Caccianimico eingeladen wurden. Wie er nun ankam und vom Pferde stieg, seine Gäste versammelt fand und auch die Dame frischer und gesunder als jemals mit ihrem Kleinen vorgefunden hatte, setzte er sich mit großer Freude mit seiner Gesellschaft zu Tische, und ließ sie mit den herrlichsten Speisen bedienen. Wie die Mahlzeit fast zu Ende ging, und er vorher der Dame seine Absicht entdeckt, und mit ihr Abrede genommen hatte, wie sie sich verhalten sollte, sprach er zu seinen Gästen: »Meine Herren, ich habe gehört, daß man in Persien einen Gebrauch haben soll, den ich sehr gut finde, nämlich, daß man einen Freund, den man besonders ehren will, zu sich einladet, und ihm diejenige Person zeigt, die man am liebsten hat, sie sei Weib, Geliebte, Tochter oder wer sie wolle, zum Zeichen, daß man ihm eben so gerne sein eigenes Herz (wenn man könnte) zeigen würde, als man ihm diese sehen läßt. Ich bin willens, diese Sitte hier in Bologna zu beobachten. Ihr, meine Herren, habt mich an meinem Tische mit Eurer Gegenwart beehrt, und ich will suchen, Euch auf gut persisch wieder eine Ehre zu erweisen, indem ich Euch dasjenige zeige, was mir in der Welt das Liebste ist und sein muß. Ehe ich aber dieses thue, bitte ich Euch, mir vorher eine Frage zu beantworten, die ich Euch vortragen will. Ein Mann hat in seinem Hause einen guten, treuen Diener, welcher gefährlich krank wird. Ohne das Ende dieses Menschen abzuwarten, läßt ihn sein Herr auf die Straße hinaustragen und bekümmert sich nicht weiter um ihn. Ein Fremder geht vorüber, hat Mitleid mit dem Kranken, nimmt ihn in sein Haus und bringt ihn mit vieler Mühe und Pflege wieder zu seiner Gesundheit. Nun möchte ich gerne wissen, ob sein voriger Herr sich mit Recht würde beklagen können, wenn ihn jener in seinem Dienste behielte und sich weigerte, ihn wieder heraus zu geben?«

Die Herren sagten verschiedenes über diese Frage und baten zuletzt einstimmig den Niccoluccio Caccianimico, der ein sehr guter und gewandter Redner war, sie zu beantworten. Niccoluccio begann damit, daß er die persische Sitte lobte, und sagte hierauf, er wäre mit allen übrigen Herren der Meinung, der erste Herr habe nicht mehr das geringste Recht an seinen Diener, da er ihn in seiner hilflosen Lage nicht nur verlassen, sondern gar verstoßen habe. Er sei vielmehr, vermöge der empfangenen Wohlthaten, der Knecht des zweiten geworden, und wenn dieser ihn behalte, so geschehe dem ersten dadurch weder Gewalt noch Unrecht oder irgend eine Beleidigung.

Alle übrigen Gäste, unter welchen sich viele verständige Männer befanden, erklärten einstimmig, daß sie eben der Meinung wären, welche Niccoluccio geäußert hätte. Der Ritter, dem diese Antwort sehr lieb war und dem es noch mehr Vergnügen machte, daß Niccoluccio sie gegeben hatte, sagte, er selbst wäre gleichfalls dieser Meinung. »Und nunmehr (sprach er) ist es Zeit, daß ich Euch die versprochene Ehre erweise.« Er rief hierauf zwei seiner Diener, sandte sie zu der Dame, die er aufs prächtigste hatte kleiden und schmücken lassen, und ließ sie bitten, die Gesellschaft mit ihrer Gegenwart zu erfreuen. Sie trat bald darauf, mit ihrem niedlichen Knaben auf dem Arm, begleitet von den beiden Dienern, in den Saal und setzte sich auf Begehren des Ritters neben einen von den Gästen. »Meine Herren (sprach Herr Gentile), hier seht Ihr diejenige, die mir jetzt und immer das Liebste in der Welt ist und sein wird. Betrachtet sie und urteilt selbst, ob sie es verdient und ob ich Recht habe.«

Die Herren bezeigten ihr ihre Ehrerbietung, priesen sie sehr und erklärten dem Ritter, daß sie ihm von rechtswegen teuer sein müßte; und indem sie sie mit Aufmerksamkeit betrachteten, so waren viele unter ihnen, welche sie für diejenige würden gehalten haben, die sie wirklich war, wenn sie nicht geglaubt hätten, daß sie tot wäre. Am meisten heftete Niccoluccio seine Augen auf sie, und indem der Ritter sich auf einen Augenblick entfernt hatte, konnte er seine Neugier, zu wissen, wer sie wäre, nicht zurückhalten und fragte sie, ob sie aus Bologna wäre oder nicht.

Es kostete der Dame viele Ueberwindung, auf die Frage ihres Gemahls nicht zu antworten; allein sie schwieg, weil sie es dem Ritter versprochen hatte. Ein anderer fragte sie, ob der Knabe ihr eigenes Kind wäre; wieder ein anderer, ob sie die Gattin des Gentile oder ob sie sonst mit ihm verwandt wäre; allein sie gab keinem eine Antwort. Indem nun Herr Gentile wieder hereintrat, sprach einer von den Gästen: »Mein Herr, Ihr habt da in der That eine große Schönheit; allein sie scheint ja stumm zu sein. Ist sie es wirklich?«

»Meine Herren (antwortete Gentile), es ist kein geringer Beweis ihrer Tugend, daß sie in Eurer Gegenwart nicht gesprochen hat.«

»So saget uns denn selbst, wer sie ist!« sprach jener.

»Das will ich gerne thun (versetzte der Ritter), wenn Ihr alle mir versprechen wollt, daß niemand sich von seiner Stelle bewegen will, bis ich meine Erzählung geendigt habe.«

Ein jeder versprach es, und da die Tafel bereits aufgehoben war, so setzte sich Herr Gentile neben die Dame und sagte: »Meine Herren, eben diese Dame ist der gute, treue Diener, wegen dessen ich Euch vorhin meine Frage vorlegte. Die Ihrigen schätzten sie so wenig, daß sie sie wie eine geringfügige und unnütze Sache auf die Straße warfen, wo ich sie aufnahm und durch meine Sorgfalt und Mühe sie aus dem Tode in's Leben zurückbrachte. Gott hat meine gute Absicht angesehen und hat sie aus einer reizlosen Leiche wieder so schön werden lassen, wie Ihr sie seht. Damit Ihr aber deutlich versteht, wie dieses zugegangen ist, so will ich es Euch kürzlich erklären.«

Er erzählte hierauf alles, was von dem ersten Anbeginn seiner Liebe bis zur gegenwärtigen Stunde vorgefallen war, zum großen Erstaunen aller Anwesenden, und er beschloß mit diesen Worten: »Wenn Ihr demnach alle (und Niccoluccio insbesondere) nicht seit wenigen Augenblicken Eure Meinung geändert habt, so gehört diese Dame mit allem Rechte mir, und kein anderer darf sie von rechtswegen mir abfordern.«

Alle schwiegen und waren voll Erwartung, was er weiter sagen würde, und Niccoluccio nebst einigen anderen, so wohl als die Dame, waren bis zu Thränen gerührt. Doch Herr Gentile stand auf, nahm das Knäbchen auf seinen Arm und die Dame bei der Hand, ging zu Niccoluccio und sprach zu ihm: »Steh auf, Gevatter, ich übergebe Dir hier nicht Deine Frau, die von Dir und von ihren Verwandten verwahrlost ward, sondern meine Gevatterin nebst diesem Knaben, von dem ich versichert bin, daß Du ihn gezeugt hast. Ich habe ihn aus der Taufe gehoben und ihm den Namen Gentile gegeben; und ich beschwöre Dich, Deine Frau darum nicht minder zu lieben, weil sie fast drei Monate in meinem Hause gewohnt hat, denn ich schwöre Dir bei dem Gott, der es mir vielleicht eingegeben hat, mich in sie zu verlieben, damit meine Liebe ihr das Leben retten möchte, daß sie weder in dem Hause ihrer Eltern, noch in dem Deinigen jemals keuscher gelebt hat, als in dem meinigen bei meiner Mutter.« Hierauf sprach er zu der Dame: »Madonna, ich erlasse Euch von diesem Augenblick an Euer Versprechen und übergebe Euch frei und ledig Eurem Niccoluccio.« Indem er demselben mit diesen Worten seine Gattin und sein Söhnchen in die Arme geliefert hatte, trat er zurück und setzte sich nieder.

Niccoluccio empfing seine Gemahlin und ihr Kind mit desto größerer Wonne, je weniger er dieses hatte hoffen können. Er dankte dem Ritter nach seinem besten Vermögen, und alle übrigen, die bis zu Thränen gerührt waren, überhäuften ihn (so wie jeder, der davon hörte) mit Lobeserhebungen. Donna Catalina ward mit unbeschreiblicher Freude in ihrem Hause empfangen, und noch lange darnach ward sie von den Bolognesern wie eine Auferstandene mit Wunder betrachtet, und Messer' Gentile blieb nach dieser Zeit ein beständiger Freund des Niccoluccio und aller seiner und Catalina's Verwandten.

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