Giovanni Boccaccio
Dekamerone oder die 100 Erzählungen
Giovanni Boccaccio

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Dreiundvierzigste Erzählung.

In Rom lebte einmal ein Jüngling, namens Pietro Boccamazza, aus einem vornehmen römischen Geschlechte, welcher sich in ein sehr schönes, reizendes Mädchen, Agnolella genannt, verliebte, deren Vater Gigliazzo Saullo zwar ein bürgerlicher, aber bei den Römern sehr beliebter Mann war; und er wußte es auch dahin zu bringen, daß das Mädchen ihm nicht weniger gewogen ward. Da Pietro sie unaussprechlich liebte, und dem Wunsche, sie zu besitzen, nicht länger ohne die größte Qual widerstehen konnte, so hielt er um sie an. Wie dieses seine Verwandten erfuhren, lagen sie ihm alle mit dem Vorwurfe in den Ohren, daß er sich so wegwerfen wollte, und zugleich ließen sie den Gigliazzo abmahnen, der Werbung des Pietro auf keine Weise Gehör zu geben, indem sie im entgegengesetzten Fall ihn nimmermehr als ihren Freund und Verwandten ansehen würden. Wie Pietro fand, daß man ihm diesen Weg verlegt hatte, aus welchem er einzig und allein zum Ziel seiner Wünsche glaubte gelangen zu können, wollte er vor Schmerz vergehen, und hätte Gigliazzo nur einwilligen wollen, so würde er seine Tochter trotz seiner Verwandten zur Gemahlin genommen haben. Indessen fiel es ihm ein, wenn sein Mädchen nur wollte, seinen Vorsatz dennoch durchzusetzen, und wie er durch einen Unterhändler ihre Einwilligung erhalten hatte, nahm er mit ihr Abrede, sie aus Rom zu entführen. Wie alle Anstalten dazu getroffen waren, stand er an einem Morgen früh auf, setzte sich mit seiner Geliebten zu Pferde und nahm seinen Weg nach Alagna, wo er einige Freunde hatte, auf die er sich verlassen konnte. Obwohl sie nun auf ihrer Flucht nicht die Zeit hatten, ihre Heirat zu vollziehen, weil sie fürchten mußten, daß man ihnen nachsetzen würde, so unterhielten sie sich doch unterwegs mit zärtlichen Gesprächen, wobei auch gelegentlich mancher Kuß gewechselt ward. Da nun überdies Pietro des Weges nicht recht kundig war, so war es eben nicht zu verwundern, daß sie ungefähr acht Meilen von Rom, wo der Weg rechter Hand ging, sich aus Irrtum links hielten; und kaum waren sie noch ein paar Meilen weiter geritten, so befanden sie sich in der Nähe eines kleinen Schlosses, wo man sie von ferne entdeckt hatte, und ein Dutzend bewaffnete Reisige sprengten ihnen bereits entgegen. Wie sie ihnen nahe kamen, ward Agnolella sie zuerst gewahr und schrie: »Pietro! wir müssen uns retten, man will uns anfallen.« Sie wandte zugleich ihr Pferd nach einem dichten Walde, bohrte ihm die Sporen in den Leib und hielt sich an den Sattelbogen, indem sie mit verhängtem Zügel davonjagte. Pietro, dessen Blicke mehr auf ihr Angesicht als auf den Weg gerichtet waren, ward die Reisige nicht so früh gewahr, als sein Mädchen, und ehe er sich umsehen konnte, woher sie kämen, fand er sich schon von ihnen umzingelt und gezwungen, vom Pferde zu steigen. Sie fragten ihn, wer er wäre, und sobald er ihnen seinen Namen sagte, pflogen sie Rat mit einander und sagten: »Dieser ist ein Anhänger unserer Feinde; was haben wir weiter zu thun, als ihm seinen Gaul und sein Gerät abzunehmen und ihn dem Orsini zur Schmach an dem ersten besten Eichenbaum aufzuhängen?« Dies ward demnach einstimmig beschlossen, und man befahl dem Pietro, sich auszukleiden. Indem er schon anfing, seine Kleider abzulegen und sich dabei nichts gutes zu versehen, erschien ein Trupp von mehr als zwanzig Bewaffneten, welche die anderen anfielen und »nieder mit den Hunden!« riefen. Bei diesem plötzlichen Überfalle vergaßen jene den Pietro und dachten nur an ihre eigene Verteidigung; weil aber die Angreifenden bei weitem der stärkere Teil waren, so mußten sie weichen und wurden von diesen verfolgt. Pietro nahm schnell diese Gelegenheit wahr, seine Sachen wieder zusammen zu raffen, seinen Gaul zu besteigen und, so eilig er konnte, nach derselben Seite davonzujagen, wohin er Agnolella hatte fliehen gesehen. Weil er aber in dem Walde weder Weg noch Steg finden und keinen Hufschlag ihres Pferdes entdecken konnte, so überließ er sich seinem Schmerz, sobald er glaubte, weit genug von seinen ersten Angreifern entfernt zu sein, und von denen, welche diese wiederum überfallen hatten, um von beiden nichts mehr befürchten zu müssen. Er beklagte sein Unglück, daß er nicht die geringste Spur von seiner Geliebten fand, denn obgleich er sie bald hier bald dort im Walde suchte und sie bei ihrem Namen rief, so antwortete ihm doch niemand; er traute sich nicht, wieder zurück zu gehen, und er wußte ebensowenig, wohin er geraten würde, wenn er weiter vorwärts ginge. Von der anderen Seite ward ihm vor den wilden Tieren bange, die in den Wäldern zu hausen pflegen, und er war nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein Mädchen besorgt, und fürchtete jeden Augenblick, sie von Wölfen oder Bären zerrissen zu finden. So brachte er den ganzen Tag zu, indem er im Walde herumirrte, rief und schrie, und oft rückwärts ging, indem er meinte vorwärts zu kommen, bis er endlich von Gram, Geschrei, Furcht und Hunger so völlig erschöpft war, daß er nicht weiter kommen konnte. Wie er nun fand, daß die Nacht anbrach, und er sich nicht anders zu raten wußte, stieg er neben einem großen Eichbaume vom Pferde, band sein Pferd an den Baum und kletterte hinauf, um sich in den Ästen zu bergen, damit ihn in der Nacht die wilden Tiere nicht zerreißen möchten. Nicht lange danach ging der Mond auf und die Nacht war heiter. Er getraute sich jedoch nicht zu schlafen, aus Furcht herunter zu stürzen, und wenn ihn auch diese Furcht nicht verhindert hätte, so ließ ihn doch die Besorgnis für seine Geliebte nicht schlafen; er brachte demnach die ganze Nacht damit zu, zu seufzen, zu weinen und sein Unglück zu beklagen.

Agnolella floh indessen, ohne zu wissen wohin, und indem sie ihren Gaul laufen ließ, wohin er mochte, geriet sie darüber so tief in den Wald hinein, daß sie nicht mehr wußte, von welcher Seite sie hergekommen war. Sie irrte ebenso wie Pietro an diesem wüsten Orte umher, indem sie bald still hielt, bald vorwärts ritt, beständig rief und jammerte und ihr Unglück beklagte. Wie sie endlich sah, daß Pietro sich nicht wieder fand und wie sie gegen die Vesperzeit einen kleinen Fußsteig entdeckte, so verfolgte sie denselben und nachdem sie ungefähr zwei Meilen darauf fortgeritten war, erblickte sie von ferne eine Hütte, welcher sie sich eiligst näherte und in derselben einen Greis mit seinem ebenfalls betagten Weibe antraf.

»Mein Töchterlein! (sprachen diese, wie sie Agnolella so allein kommen sahen) was machst Du um diese Stunde in dieser wüsten Gegend?«

Agnolella antwortete, sie hätte sich im Walde von ihrer Gesellschaft verirrt, und fragte, wie weit sie noch von Alagna wäre.

»Dies ist nicht der Weg nach Alagna, meine Tochter (sprach der Alte). Alagna liegt über zwölf Meilen von hier.«

»Ist denn keine Herberge in der Nähe, wo ich übernachten kann?« fragte Agnolella.

»Nirgends so nahe (erwiderte der Alte), daß Du sie noch vor Abend erreichen könntest.«

»Wollt Ihr Euch denn wohl meiner erbarmen (versetzte sie) und mich beherbergen, da ich sonst nirgends hin kann?«

»Liebes Mädchen (antwortete der Greis), Du sollst uns für die Nacht willkommen sein: aber ich muß Dir zugleich sagen, daß in dieser Gegend bei Nacht und bei Tage viel liederliches Gesindel von Freunden und Feinden herumstreift, welches uns oft Schaden und Verdruß genug zufügt; und wenn von ungefähr dergleichen Volk ankäme, indes Du hier bist, und sie fänden Dich so jung und so schön, so würden sie Dir Gewalt und Schande anthun, und wir könnten Dich nicht schützen. Wir müssen Dir dieses voraussagen, damit Du Dich hernach nicht über uns beklagest, wenn ein Unglück geschehen sollte.«

Die Worte des Greises erschreckten Agnolella zwar, doch da es schon spät war, so erwiderte sie: »Wenn es Gottes Wille ist, so wird er Euch und mich vor solchem Unglück wohl bewahren. Wenn ich es aber nicht vermeiden kann, so will ich doch lieber Menschen in die Hände fallen, als mich im Walde von wilden Tieren zerreißen lassen.« Sie stieg demnach vom Pferde und ging zu den armen Leuten in ihre Hütte, genoß mit ihnen ihr kärgliches Abendmahl und legte sich darauf in vollen Kleidern mit ihnen auf ihre Schlafbank nieder und hörte die ganze Nacht nicht auf, zu seufzen und ihr eigenes Unglück zu beklagen und ihren Pietro, von dem sie nicht wußte, was aus ihm geworden wäre.

Indem die Morgenstunde schon herankam, hörte sie ein großes Getrampel von Reisigen, weswegen sie aufsprang und eilig in den Hof lief, der neben der Hütte war, wo sie einen großen Schober Heu fand, unter welchen sie sich verbarg. Kaum war es ihr gelungen, sich zu verstecken, so klopfte eine ganze Bande Räuber an die Hütte und verlangte eingelassen zu werden. Wie sie herein kamen und Agnolella's Gaul gesattelt und gezäumt im Hofe fanden, fragten sie die Alten, wer bei ihnen wäre.

Der gute Greis, welcher sah, daß die Jungfrau sich entfernt hatte, gab zur Antwort: »Es ist niemand hier, als wir. Der Gaul muß wohl seinem Herrn entlaufen sein; denn er kam gestern Abend hier vor unsere Hütte und wir zogen ihn herein, damit ihn die Wölfe nicht fressen möchten.«

»Wenn er keinen anderen Herrn hat, so kömmt er uns eben recht«, sprach der Rädelsführer der Rotte.

Hierauf lagerten sie sich alle in der Hütte und im Hofe, und wie sie ihre Lanzen und Schilde ablegten, warf einer von ihnen vor Mutwillen und Langeweile seine Lanze nach dem Heuschober und hätte Agnolella beinahe gespießt, denn die Lanze fuhr so dicht neben ihr vorbei, daß sie ihr das Kleid an der linken Brust zerriß; so daß sie vor Angst und Schrecken beinahe laut aufgeschrieen hätte, weil sie glaubte, verwundet zu sein; doch besann sie sich noch zu rechter Zeit, wo sie war, und schwieg zitternd still. Die Räuber kochten und brieten unterdessen ihr Wildpret und was sie sonst hatten, und nahmen hernach den Gaul mit, wie sie wieder abzogen. Wie sie sich entfernt hatten, fragte der Alte seine Frau: »Was ist aus der Jungfrau geworden, die gestern Abend zu uns kam? Ich habe sie nicht gesehen, seitdem wir aufgestanden sind!«

Die Frau antwortete, sie wüßte es nicht, und machte sich auf, sie zu suchen. Wie Agnolella merkte, daß die Räuber abgezogen waren, kroch sie wieder unter ihrem Schober hervor, zur herzlichen Freude des Alten, weil er sah, daß sie ihnen nicht in die Hände gefallen war. Da es jetzt schon tagte, so sprach er zu ihr: »Jetzt, da es Tag wird, will ich Dich, wenn es Dir beliebt, nach einem Schlosse begleiten, welches fünf Meilen von hier liegt, und wo Du Dich in Sicherheit befinden wirst. Du mußt Dich aber schon bequemen, zu Fuß zu gehen, denn das böse Gesindel, das sich vorhin wegbegeben hat, nahm Dir Deinen Gaul mit.«

Agnolella gab sich darüber zufrieden und bat den Greis um Gotteswillen, sie nur gleich nach dem Schlosse zu führen; er machte sich mit ihr auf den Weg, und um die dritte Morgenstunde kamen sie daselbst an. Das Schloß gehörte einem von dem Geschlechts der Orsini, namens Liello di Campo di Fiore, und es traf sich, daß seine Gemahlin, eine sehr gute und liebreiche Dame, eben allein zu Hause war, welche Agnolella beim ersten Blick erkannte und sie freundschaftlich willkommen hieß, und sehr teilnehmend nach allen Umständen fragte, welche sie herführten. Agnolella erzählte ihr alles. Die Dame, welcher auch Pietro sehr wohl bekannt war, da dieser ein Freund ihres Mannes war, bedauerte sehr den Unfall, der ihn betroffen hatte, und wie sie hörte, in welcher Gegend man ihn überfallen und ergriffen hätte, zweifelte sie fast nicht an seinem Tode. Sie sprach also zu Agnolella: »Da wir nicht wissen, was aus Pietro geworden ist, so thust Du am besten, wenn Du bei mir bleibst, bis ich Dich mit einer sicheren Gelegenheit nach Rom schicken kann.«

Pietro, welcher voll Schmerz und Angst auf seinem Eichbaume saß, ward um Mitternacht ein Rudel von mehr als zwanzig Wölfen gewahr, welche seinen Gaul gespürt hatten und ihn umringten. Sobald der Gaul sie witterte, riß er sich los und wollte fliehen; allein die Wölfe umzingelten ihn, und obwohl er sich lange mit Huf und Zahn gegen sie wehrte, so ward er doch endlich überwältigt und zerrissen, und die Wölfe wurden in der Geschwindigkeit so weit mit ihm fertig, daß nur die Knochen übrig blieben. Pietro, dem sein Gaul zum einzigen Gefährten diente, der ihm seine Beschwerden erleichterte, wollte schier über seinen Verlust verzweifeln und glaubte schon, daß er nimmermehr aus dem Walde herauskommen würde. Doch wie er vor Kälte schon halb erstarrt war und immer traurig und ängstlich umherblickte, ward er kurz vor Tages Anbruch in der Entfernung von einer Meile ein großes Feuer gewahr. Er stieg von seinem Eichbaum herab und wanderte in gerader Richtung nach dem Feuer zu, bis er es erreichte und einige Hirten um dasselbe gelagert fand, die bei froher Laune ihr Frühstück hielten und ihn treuherzig empfingen. Nachdem er seinen Hunger gestillt und sich wieder erwärmt hatte, erzählte er ihnen sein unglückliches Schicksal, das ihn so allein zu ihnen führte, und fragte sie, ob in der Gegend nicht ein Schloß wäre, wohin er seine Zuflucht nehmen könnte.

Die Hirten antworteten ihm, es läge ungefähr drei Meilen von ihnen ein Schloß des Liello di Campo di Fiore, woselbst sich jetzt dessen Gemahlin allein aufhielte. Dies war ihm außerordentlich lieb zu hören, und er bat sie, ihn doch bis nach dem Schlosse zu begleiten; worauf ihrer zwei sich ihm willig zu Begleitern anboten. Wie Pietro dahin kam und sich nunmehr bei Bekannten befand, wollte er eben jemand bitten, Agnolella im Walde aufsuchen zu lassen, wie ihn die Dame des Schlosses zu sich rufen ließ, bei welcher er zu seiner unbeschreiblichen Freude seine Geliebte wieder fand. Er brannte vor Begierde, sie zu umarmen, doch ließ ihm dieses in Gegenwart der Dame seine Bescheidenheit nicht zu. Wenn sein Entzücken groß war, so war gewiß Agnolella's Freude nicht geringer. Die Dame nahm ihn auf und erwies ihm alle mögliche Freundschaft, und wie sie sich von ihm alles, was vorgefallen war, hatte erzählen lassen, tadelte sie ihn zwar, daß er den Wünschen seiner Freunde entgegen handeln wollte; doch wie sie sah, daß er von seinem Vorsatz nicht abzubringen war, und daß das Mädchen ihn ebensosehr liebte, so dachte sie: »Warum soll ich mir unnütze Mühe machen? Die Leutchen kennen einander und lieben sich; mein Mann ist ein Freund von beiden; ihre Absichten sind erlaubt und ehrlich: vielleicht will es der Himmel selbst so haben, da der eine dem Strick und die andere der Lanze so wunderbar entronnen ist.«

»Wenn ihr denn (sprach sie darauf zu ihnen) so ernstlich entschlossen seid, Mann und Weib zu werden, so bin ich auch damit zufrieden. Heiratet einander und feiert Eure Hochzeit auf Kosten meines Liello; ich will Euch selbst schon mit Euren Verwandten wieder aussöhnen.« Kurz, Pietro war froh und Agnolella noch fröhlicher; sie feierten ihr Hochzeitsfest, und die gute Dame machte die Anstalten dazu so gut, wie es in einer Gebirgsgegend nur geschehen konnte, und in ihrem Schlosse ernteten sie die süßen Früchte ihrer Liebe. Nach einiger Zeit setzte ihre gütige Wirtin sich mit ihnen zu Pferde und begleitete sie unter einer guten Bedeckung nach Rom, wo die Verwandten des Pietro zwar über den Schritt, den er gethan hatte, sehr aufgebracht waren; doch stiftete sie Frieden zwischen ihnen, und er erreichte mit seiner Agnolella ein frohes und glückliches Alter.

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