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Wenn wir den Versicherungen einiger Genuesen und anderer Reisenden, die in Kitay gewesen sind, Glauben beimessen können, so lebte daselbst einst ein sehr vornehmer und überaus reicher Mann, namens Nathan. Dieser hatte ein Landhaus, nicht fern von einer Heerstraße, welche ein jeder notwendig ziehen mußte, der entweder vom Morgenlande nach dem Abendlande oder vom Abend- nach dem Morgenlande reisen wollte. Da er nun ein wohlthätiger, gastfreier Mann war und seine edelmütigen Gesinnungen gern durch Handlungen an den Tag legen mochte, so ließ er, weil es an Handwerkern nicht fehlte, in kurzer Zeit einen von den größten, prächtigsten und schönsten Palästen, die man jemals gesehen hat, erbauen, und daselbst alles in reichlicher Menge anschaffen, was nötig war, um jeden Biedermann nach Stand und Würden aufzunehmen und zu bewirten, und seine zahlreiche Dienerschaft mußte einen jeden, welcher ging und kam, mit Fröhlichkeit empfangen und ihm aufwarten.
Wie er schon alt und betagt war und dennoch in seiner Gastfreiheit nicht ermüdete, kam von ungefähr das Gerücht von ihm zu den Ohren eines Jünglings, namens Mithridanes, der in einem nicht weit entfernten Lande wohnte. Da er sich bewußt war, ebenso reich zu sein, wie Nathan, so ward er eifersüchtig auf seine Tugenden und auf seinen Ruhm, und beschloß, denselben durch eine noch größere Freigebigkeit zu erlöschen oder zu verfinstern. Er ließ demnach einen ebenso geräumigen Palast bauen, wie der des Nathan, und fing an, einem jeden Vorüberreisenden mit dem größten Aufwande zu bewirten, so daß er sich wirklich in kurzer Zeit keinen geringen Namen erwarb. Es traf sich jedoch einmal, indem der junge Mann allein in dem Hofe seines Palastes wandelte, daß ein armes Weiblein durch eine von den vielen Pforten zu ihm hinein kam und ihn um ein Almosen bat, welches er ihr auch gab. Sie kam durch eine andere Pforte wieder herein und bat ihn um ein zweites Almosen, das sie gleichfalls empfing, und so fuhr sie zwölfmal nach einander fort. Wie sie endlich auch noch das dreizehnte mal wieder kam, sagte Mithridanes: »Gute Frau, Du wiederholst ziemlich oft Deine Bitte.« Inzwischen gab er ihr doch wieder ein Almosen. Wie die Alte seine Worte hörte, rief sie: »O, wie bewunderungswürdig ist die Wohlthätigkeit des Nathan! Ich bin zu ihm durch die zweiunddreißig Pforten eingegangen, die sein Palast ebensowohl wie dieser hat, und habe ihn um ein Almosen gebeten, und jedesmal hat er es mir gegeben, ohne sich auch nur einmal merken zu lassen, daß er mich wieder erkannt hätte; und hier erkennt man mich schon das dreizehntemal und macht mir Vorwürfe.«
Mit diesen Worten ging die Alte davon und kam nicht wieder. Wie Mithridanes hörte, was sie sagte, und das Lob des Nathan als eine Schmälerung seines eigenen Ruhmes betrachtete, ward er bis zur Wut entrüstet und dachte: »Wehe mir! Wenn werde ich die Freigebigkeit des Nathan, die ich zu übertreffen gedachte, in großen Dingen auch nur erreichen, da ich es ihm im Kleinen nicht einmal gleich thun kann? Wahrlich, alle meine Mühe ist vergebens, wenn ich nicht ihn selbst aus dem Wege räume, und da ihn seine Jahre nicht unter die Erde bringen, so muß ich es nur bald mit eigenen Händen thun.« In dieser Anwandlung von Jähzorn machte er sich auf und stieg, ohne sich mit jemand über seinen Plan zu besprechen, mit einigen wenigen Begleitern zu Pferde, kam am dritten Tage an dem Ort, wo Nathan wohnte, an, und befahl seinen Begleitern, sich nicht merken zu lassen, daß sie ihm angehörten, sondern sich so lange selbst Herberge zu suchen, bis sie nähere Nachricht von ihm erführen.
Er war gegen Abend angekommen. Wie er nun seine Begleiter entfernt hatte, begegnete ihm von ungefähr Nathan selbst, der ohne alle Begleitung, nicht weit von seinem schönen Palaste, in ganz schlichter Kleidung spazieren ging. Er kannte ihn nicht und fragte ihn, ob er ihm nicht sagen könnte, wo Nathan wohnte.
»Mein Sohn (antwortete ihm Nathan freundlich), das kann Dir in dieser ganzen Gegend niemand besser sagen als ich; und wenn Du willst, so bin ich bereit, Dich selbst hinzuführen.«
Der Jüngling erwiderte, daß ihm dieses sehr lieb sein würde; allein, wenn es möglich wäre, so müßte es auf solche Weise geschehen, daß er von Nathan weder gekannt noch gesehen würde.
»Auch dieses will ich Dir zu Gefallen thun, weil Du es wünschest«, sprach Nathan.
Mithridanes stieg also vom Pferd und ging mit Nathan, der ihn mit allerlei angenehmen Geschichten unterhielt, bis an seinen Palast, wo Nathan einem von seinen Dienern befahl, das Pferd des Fremdlings in acht zu nehmen, und ihm zugleich heimlich in's Ohr sagte, er möge eiligst alle Leute im Hause warnen, sich gegen den jungen Fremdling nicht merken zu lassen, daß er ihr Herr wäre. Wie sie in den Palast traten, führte er den Mithridanes in ein schönes Zimmer, wo ihn niemand gewahr ward, außer denen, die er selbst zu seiner Aufwartung bestellte; und hier ließ er ihn auf's beste verpflegen und leistete ihm selbst Gesellschaft.
Mithridanes, den er immer um sich hatte, konnte zwar nicht umhin, ihn wie einen Vater zu verehren; doch fragte er ihn einst, wer er wäre.
»Ich bin (gab er ihm zur Antwort) nur einer der geringsten Diener des Nathan. Von meiner Jugend an bin ich mit ihm aufgewachsen und bin mit ihm alt geworden; ich bin aber bei ihm nie weiter gekommen, als Du siehst; denn obgleich ein jeder andere Ursache hat, mit ihm zufrieden zu sein, so kann ich mich seiner doch nicht sehr rühmen.«
Aus diesen Worten schöpfte Mithridanes Hoffnung, seinen bösen Anschlag leicht und mit weniger Gefahr ausführen zu können. Nathan fragte ihn darauf ohne Umschweif, wer er wäre, und welche Absicht ihn hergeführt hätte, und erbot sich, ihm in allem nach seinem Vermögen mit Rat und That beizustehen. Mithridanes stand ein wenig bei sich an, was er ihm antworten sollte, entschloß sich aber am Ende, sich ihm gänzlich anzuvertrauen, und nachdem er in einer langen Vorrede ihn um Treue und Verschwiegenheit gebeten hatte, forderte er Rat und Beistand von ihm, indem er ihm zugleich seinen Namen und seine Absicht ohne Zurückhaltung entdeckte.
Nathan konnte zwar die Rede und den grausamen Vorsatz des Mithridanes nicht ohne innerliche Erschütterung mit anhören; doch faßte er sich und antwortete ihm mit ruhigem Blicke, ohne sich lange zu bedenken: »Mithridanes, Dein Vater war ein edler Mann und Du willst ihm nicht nachstehen, und hast deswegen das große Werk unternommen, Dich gegen alle Menschen freigebig und wohlthätig zu beweisen. Ich tadle Dich auch nicht, daß Du den Nathan um seine Tugenden beneidest, denn wenn ihm viele nacheiferten, so würde die Welt, die voll Elends ist, bald gut und glücklich werden. Dein Vorsatz, den Du mir eröffnet hast, soll ganz gewiß verschwiegen bleiben; darin kann ich Dir jedoch besser mit gutem Rat, als mit thätiger Hilfe beistehen.
Mein Rat ist dieser: Du siehst von hier aus in einer Entfernung von ungefähr einer halben Meile ein kleines Gehölz, in welchem Nathan jeden Morgen ganz allein eine geraume Zeit zu seinem Vergnügen umherwandelt. Dort kannst Du ihn ohne Mühe finden und mit ihm verfahren, wie Du es für gut findest. Solltest Du ihn töten, so geh, um sicher wieder nach Hause zu gelangen, nicht denselben Weg, den Du hergekommen bist, sondern folge demjenigen, der Dich, wie Du sehen wirst, linker Hand aus dem Gehölze führt. Er ist zwar etwas weniger gebahnt, als der andere; allein er führt Dich näher und sicherer nach Hause.«
Wie Mithridanes diese Weisung erhalten und Nathan sich entfernt hatte, gab er in der Stille seinen Leuten, die auch in demselben Palaste waren, Nachricht, wo sie ihn am folgenden Tage erwarten sollten. Sobald der neue Tag anbrach, ging Nathan, dem Ratschlage gemäß, welchem er dem Mithridanes gegeben hatte, allein in das Wäldchen und seinem Tode entgegen; Mithridanes stand gleichfalls auf, nahm seinen Bogen und sein Schwert, die einzigen Waffen, die er hatte, stieg zu Pferde und ritt nach dem Wäldchen zu, wo er von ferne den Nathan, ganz allein wandelnd, gewahr ward. Da er wünschte, ihn erst zu sehen und reden zu hören, ehe er ihn erschlug, so sprengte er auf ihn zu, ergriff ihn bei der Binde, die er um das Haupt trug, und sprach: »Alter, Du bist des Todes!«
»Dann habe ich ihn verdient«, antwortete Nathan.
Wie Mithridanes seine Stimme hörte und sein Angesicht erblickte, erkannte er ihn augenblicklich für denjenigen, der ihn so gütig aufgenommen, so vertraulich begleitet und ihn so aufrichtig geraten hatte. Sein Haß verließ ihn, sein Zorn verwandelte sich in Schamröte, er warf sein Schwert, das er schon gezückt hatte, von sich, sprang vom Pferde, warf sich dem Greise mit Thränen zu Füßen und sagte: »Jetzt, teurer Vater, erkenne ich in der That Eure Großmut, indem ich sehe, wie Ihr mit Vorbedacht alles selbst eingeleitet habt, um Euer Leben in meine Hände zu liefern, welchem ich ohne Ursache nachgestellt und Euch dieses selbst offenbart habe. Aber Gott, der in dem entscheidenden Augenblicke besser über mich und über meine Pflicht wachte, als ich selbst, hat mir die Augen geöffnet, welche mein schändlicher Neid mir verschlossen hatte; und je mehr Ihr bereit gewesen seid, mir zu willfahren, um desto mehr ist es meine Pflicht, mein Verbrechen zu bereuen. Rächet Euch demnach an mir, so wie Ihr glaubt, daß mein Vergehen es verdient.«
Nathan hieß ihn aufstehen, umarmte ihn zärtlich und sagte: »Mein Sohn, Du magst Deinen Vorsatz böse nennen oder nicht, so brauchst Du deswegen nicht um Verzeihung zu bitten; denn Du faßtest ihn nicht aus Haß, sondern aus Ruhmsucht. Sei demnach unbesorgt vor mir, und sei versichert, daß kein Mensch in der Welt Dich mehr liebt, als ich, indem ich Deinen emporstrebenden Geist erwäge, der Dich antreibt, nicht Reichtümer anzuhäufen, wie die Geizigen thun, sondern Deine gesammelten Schätze wohl anzuwenden. Schäme Dich auch nicht, daß Du getrachtet hast, mir das Leben zu nehmen, um Dich berühmt zu machen, und glaube ja nicht, daß ich mich darüber verwundere. Die größten Kaiser und die berühmtesten Könige haben fast durch keine andere Kunst ihre Grenzen erweitert und folglich ihren Ruhm vermehrt als durch Totschlag, und zwar haben sie nicht, wie Du thun wolltest, nur einen Menschen, sondern viele Tausende hingeopfert, Länder verheert und versengt und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Wenn Du demnach, um Dich berühmter zu machen, mich einzelnen Mann aus dem Wege räumen wolltest, so thatest Du nichts außerordentliches, sondern etwas sehr gewöhnliches.«
Mithridanes suchte sein verkehrtes Vorhaben nicht zu bemänteln, sondern wußte es dem Nathan Dank, daß er selbst es so glimpflich entschuldigt. Indem er das Gespräch fortsetzte, bezeigte er ihm sein Erstaunen darüber, daß Nathan sich hätte entschließen können, seine Absicht zu befördern und ihm selbst dazu Rat zu geben.
Nathan antwortete: »Mithridanes, Du mußt Dich über meinen Rat und meinen Entschluß nicht wundern; denn seitdem ich Herr über meine Handlungen gewesen bin und gesucht habe, dasjenige zu thun, was Du gleichfalls unternommen hast, ist niemand zu mir in mein Haus gekommen, dem ich nicht nach meinem besten Vermögen alles gewährt hätte, was er von mir verlangte. Du kamst und trachtetest nach meinem Leben, und wie ich Dich Deinen Wunsch äußern hörte, wollte ich nicht, daß Du der einzige sein solltest, der mich unbefriedigt verließe; darum entschloß ich mich ohne Bedenken, Dir mein Leben aufzuopfern, und damit es Dir nicht fehlte, so gab ich Dir selbst den Anschlag, wie Du mir mein Leben rauben könntest, ohne das Deinige in Gefahr zu setzen. Und darum sage ich Dir noch einmal und bitte Dich, nimm es mir, wenn es Dir behagt, und erfülle Deinen Wunsch; ich wüßte nicht, wie ich es besser verlieren könnte. Ich habe es nun achtzig Jahre genossen und es nach meinem Wohlgefallen und Vergnügen angewandt, und ich weiß, daß mir nach dem Gange, welchen die Natur gewöhnlich mit anderen Menschen und mit allen Dingen überhaupt nimmt, nur noch eine kleine Frist übrig bleibt, und diese zu verschenken, wie ich bisher meine Schätze verschenkt und verwendet habe, scheint mir besser, als mein Leben so lange behalten wollen, bis die Natur es mir wider meinen Willen abnimmt. Hundert Jahre sind nur ein kleines Opfer, wie viel mehr denn sechs oder acht, die ich noch erleben könnte? Nimm es also, wenn es Dir behagt: ich bitte Dich darum, denn in meinem ganzen Leben habe ich noch niemand gefunden, der es begehrt hätte, und wenn Du, der Du darnach trachtest, es nicht nimmst, so weiß ich nicht, wann sich ein Liebhaber dazu finden wird. Und gesetzt, es fände sich auch ein anderer, so weiß ich doch, daß es mit den Jahren immer mehr von seinem Werte verliert. Nimm es denn, ich bitte Dich, ehe es noch mehr in seinem Werte sinkt.«
Mithridanes schämte sich und sprach: Gott bewahre, daß ich ein so teures Gut, wie Euer Leben rauben oder länger darnach trachten sollte, wie ich einst gethan habe! Ehe ich die Jahre desselben verkürzen wollte, wünschte ich lieber, wenn es möglich wäre, sie mit den meinigen zu verlängern.«
»Und wenn Du das könntest, wolltest Du es dann wirklich auch thun?« fragte Nathan hastig.
»Ja wohl!« antwortete Mithridanes mit Freudigkeit.
»Wohlan, so thue, was ich Dir sagen will (sprach Nathan); Du, als ein junger Mann, bleibst unter dem Namen Nathan in diesem Hause, und ich beziehe das Deinige und lasse mich künftig Mithridanes nennen.«
Mithridanes antwortete: »Wenn ich so löblich zu handeln verstände, wie Ihr es versteht und verstanden habt, so würde ich ohne langes Bedenken Euer Anerbieten annehmen; allein, da ich gewiß weiß, daß mein Betragen den Ruhm des Nathan nur vermindern würde, und da ich einem anderen dasjenige nicht verderben mag, was ich an mir selbst nicht zur Vollkommenheit zu bringen verstehe, so muß ich es ausschlagen.«
So führten Mithridanes und Nathan noch manche angenehme Gespräche mit einander, und gingen zusammen zurück nach dem Palaste, wo Nathan den Mithridanes noch einige Tage auf's Gastfreieste bewirtete, und ihn mit aller Sorgfalt und Weisheit in seinem großen und löblichen Bestreben bestärkte. Wie endlich Mithridanes den Wunsch äußerte, mit den Seinigen wieder nach Hause zu reisen, entließ ihn Nathan, nachdem er ihn völlig überzeugt hatte, daß er ihn an Güte und Wohlwollen nimmermehr würde übertreffen können.
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