Giovanni Boccaccio
Dekamerone oder die 100 Erzählungen
Giovanni Boccaccio

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Siebenundvierzigste Erzählung.

Zur Zeit des guten Königs Guglielmo in Sizilien lebte auf dieser Insel ein Edelmann, namens Messer' Amerigo, Abata von Tropani, welcher unter anderen zeitlichen Gütern auch mit Kindern reichlich gesegnet war. Weil er nun viele Bedienung nötig hatte, und einmal einige genuesische Freibeuter auf ihren Galeeren ankamen, welche an der armenischen Küste gekreuzt und eine Menge Kinder entführt hatten, so kaufte er einige davon, weil man sie für Türken ausgab. Die meisten waren Kinder von Viehhirten und anderen gemeinen Leuten; aber ein Knabe befand sich mit darunter, von edlerer Bildung und Anstand als die übrigen, welcher Theodoro hieß. Wie er heranwuchs, ward er (seiner Dienstbarkeit ungeachtet) ein beständiger Gesellschafter der Kinder seines Herrn, und da bei ihm die Natur über die zufälligen Umstände siegte, so ward er so wohlerzogen und gesittet, daß Amerigo großen Wohlgefallen an ihm fand und ihm die Freiheit schenkte. Weil er von ihm nichts anderes wußte, als daß er ein Türke wäre, so ließ er ihn taufen und Pietro nennen, und machte ihn zum Verwalter aller seiner Güter, weil er unbegrenztes Zutrauen auf ihn setzte.

Wie die Kinder des Amerigo heranwuchsen, ward eine von seinen Töchtern, namens Violanta, ein sehr schönes und liebenswürdiges Mädchen, und weil ihr Vater eben nicht eilte, sie zu verheiraten, so hatte sie Zeit, sich in Pietro zu verlieben, den sie wegen seines angenehmen Wesens und seiner Aufführung sehr hoch schätzte; doch schämte sie sich, ihm ihre Neigung zu entdecken. Die Liebe sparte ihr indessen diese Mühe; denn so schüchtern auch die Blicke des Pietro ihre Reize gemustert hatten, so hatten sie dennoch einen so tiefen Eindruck auf sein Herz gemacht, daß ihm nicht wohl war, wenn er sie nicht sah; wiewohl er sich sorgfältig hütete, daß niemand seine Liebe gewahr würde, die er selbst nicht für so ganz erlaubt hielt.

Doch die Jungfrau, die ihn gern sah, ward bald von seiner Gegenliebe überzeugt, und um ihn noch mehr aufzumuntern, ließ sie ihn deutlich merken, daß sie sie billigte. So standen die Sachen eine geraume Zeit zwischen ihnen, ohne daß sie sich getrauten, einander ihre Herzen zu eröffnen, so sehr dieses auch ihr beiderseitiger Wunsch war. Doch indem sie sich beide von der Glut der Liebe durchdrungen fühlten, bereitete ihnen der Zufall eine Gelegenheit, welche sich ihnen ausdrücklich anzubieten schien, damit sie die Schüchternheit fahren ließen, welche bisher ihrer Liebe im Wege gestanden hatte. Herr Amerigo hatte nämlich ungefähr eine Meile von Trapani ein sehr schönes Landhaus, wohin seine Gemahlin mit ihrer Tochter und mit anderen Frauenzimmern oft zum Vergnügen zu Fuße zu gehen pflegte. Wie sie sich einst an einem schwülen Tage daselbst befanden und Pietro sie dahin begleitet hatte, überzog sich der Himmel plötzlich mit Wolken, die ein nahes Ungewitter verkündigten; daher die Dame mit ihrer Gesellschaft, um nicht dort von dem Ungewitter überrascht zu werden, sich aufmachte und so schnell als möglich nach Trapani zurück eilte. Ihre Tochter und Pietro gingen indessen als junge Leute viel rascher, als die Mutter und die übrige Gesellschaft, und vielleicht beflügelte die Liebe ihre Schritte nicht weniger, als die Furcht vor dem Sturme. Wie sie nun bereits einen solchen Vorsprung vor den Übrigen genommen hatten, daß sie ihnen fast aus dem Gesichte gekommen waren, entstand nach einigen Donnerschlägen ein heftiges Hagelwetter. Die alte Dame nahm nebst ihren Gefährtinnen ihre Zuflucht in einem Bauernhause. Pietro und Violanta aber hatten sich ein kleines, leeres, verfallenes Hüttchen geflüchtet, wo sie genötigt waren, sich unter dem geringen Obdache ganz nahe an einander zu schmiegen. Diese Berührung weckte ihre Sehnsucht und gab ihnen Mut und Worte. Pietro sprach zuerst: »Ach, wollte Gott, daß der Hagel nimmer aufhören möchte, wenn ich unterdessen immer in meiner jetzigen Lage bleiben könnte!«

»Ach!« seufzte das Mädchen. »Ich fühle mich hier nicht weniger behaglich.«

Auf diese Worte folgte ein Händedruck; auf diesen eine Umarmung; ihre Lippen begegneten einander. – Doch warum soll ich Euch jede Stufe beschreiben, welche sie allmählich bis zum letzten und höchsten Wonnegenuß der Liebe führte! Genug, sie wurden einig, sich diesen Genuß in Zukunft ferner heimlich zu verschaffen. Das Ungewitter ging vorüber, sie erwarteten vor dem Thore, welches nicht mehr weit war, die Mutter und kehrten mit ihr nach Hause zurück. Hier wußten sie ihre Maßregeln so geschickt zu nehmen, daß sie sich noch oft ihrer Liebe erfreuen konnten und dieses währte so lange, bis das Mädchen endlich schwanger ward; worüber sie beide in unbeschreibliche Verlegenheit gerieten. Pietro insbesondere war für sein Leben besorgt und wollte entfliehen. Wie er dieses aber seiner Geliebten sagte, antwortete sie ihm: »Wenn Du Dich entfernst, so bringe ich mich selbst um's Leben.«

Pietro, der sie zärtlich liebte, versetzte: »Wie kannst Du wünschen, meine Liebe, daß ich hier bleiben soll? Deine Schwangerschaft wird unseren Fehltritt entdecken. Dir zwar wird man leicht verzeihen; aber ich Armer werde allein für Dein und mein Vergehen büßen müssen.«

Das Mädchen erwiderte: »Pietro, mein Fehltritt wird sich freilich nicht verhehlen lassen; aber sei versichert, daß der Deinige nimmermehr kund werden soll, wenn Du Dich nicht selbst verrätst.«

»Wenn Du mir dies versprichst, so will ich bleiben«, sprach Pietro; »aber vergiß nicht, mir Wort zu halten.«

Violanta, welche, so lange sie konnte, ihre Umstände verhehlte, war endlich nicht länger vermögend, den zunehmenden Umfang ihrer Gestalt zu verbergen, so daß sie sich gezwungen sah, ihrer Mutter mit Thränen ihren Zustand zu offenbaren und sie um Schonung und Rettung zu bitten. In der ersten Hitze machte die Mutter ihr die härtesten Vorwürfe, indem sie zugleich darauf drang, genau zu wissen, wie alles zugegangen wäre. Violanta fand jedoch Mittel, die Wahrheit in ein fabelhaftes Gewand zu hüllen, um alles Unglück von ihrem Pietro abzuwenden. Die Mutter glaubte ihr, und schickte ihre Tochter nach einer entlegenen Meierei, um ihren Zustand zu verbergen. Hier überfiel sie die Stunde der Geburt; allein Amerigo, dessen Gegenwart seine Gattin hier nicht vermutete, weil er äußerst selten an diesen Ort zu kommen pflegte, kam unglücklicherweise eben von der Reiherbeize dahin und ging nahe an dem Zimmer vorbei, wo er die Stimme der Kreißenden hörte und voll Verwunderung hinein trat, um zu sehen, was es gäbe. Wie seine Gattin ihn so unerwartet erblickte, stand sie auf und gestand ihm mit Schmerzen, was ihrer Tochter begegnet war. Weil er aber nicht so leichtgläubig war, als die gute Mutter, so ließ er sich durchaus nicht einbilden, daß das Mädchen nicht wüßte, von wem sie schwanger wäre, und er drang in sie, wenn sie Verzeihung von ihm erlangen wollte, ihm die reine Wahrheit zu gestehen, oder ohne Barmherzigkeit ihren Tod zu gewärtigen. Die Mutter gab sich zwar alle ersinnliche Mühe ihrem Manne die Sache so vorzustellen, wie ihre Tochter sie erzählt hatte; allein er ließ sich dieses schlechterdings nicht sagen, sondern er ging mit gezücktem Dolche auf das Mädchen los, welches während des Wortwechsels zwischen ihren Eltern von einem Knaben entbunden worden, und schrie ihr zu: »Sage, wessen Kind dieses ist, oder stirb auf der Stelle!«

Das arme Mädchen brach in Todesangst ihr Wort, welches sie dem Pietro gegeben hatte, und berichtete alles, was zwischen ihm und ihr vorgegangen war. Kaum enthielt sich der wütende Vater, sie um's Leben zu bringen; doch machte er nur mit Worten und Vorwürfen seinem Zorne Luft, schwang sich dann auf sein Roß, eilte nach Trapani und klagte dem königlichen Statthalter, Messer' Currado, welchen Schimpf ihm Pietro angethan hätte. Dieser ward demnach, ehe er sich's versah, ergriffen und gestand Alles, als man ihm mit der Folter drohte. Er ward hierauf von dem Stadthalter verurteilt, öffentlich durch die Stadt gestäupt und gehangen zu werden; und damit auf einmal die beiden Liebenden und die Frucht ihrer Liebe von der Erde vertilgt würden, so mischte Amerigo, dem es nicht genügte, den Pietro zum Tode gebracht zu haben, einen Gifttrank, und gab ihm nebst einem gezückten Dolche einem Diener mit dem grausamen Befehl: »Geh' mit diesen beiden Dingen zu Violanta und sage ihr in meinem Namen, sie soll zwischen diesen beiden Todesarten, dem Gift und dem Dolche, wählen, oder ich werde sie im Angesicht aller Einwohner der Stadt verbrennen lassen, wie sie es verdient hat. Dann nimm ihr neugeborenes Kind, zerschmettere ihm den Schädel an der Mauer und gieb es den Hunden zu fressen.«

Wie der grausame Vater diesen unmenschlichen Befehl gegen seine Tochter und seinen Enkel gegeben hatte, ging der Diener davon und war nur zu sehr geneigt, den blutdürstigen Auftrag zu vollziehen.

Indem Pietro, seinem Urteil gemäß, von den Schergen nach dem Richtplatze gegeißelt ward, traf es sich, daß der Zug vor einem Gasthofe vorbei ging, in welchem drei edle Armenier abgestiegen waren, die als Abgesandte mit wichtigen Aufträgen zum Papste reisen wollten, und sich hier einige Tage aufhielten, um auszuruhen und sich zu erholen, und von dem Adel in Trapani, besonders von Herrn Amerigo, sehr wohl aufgenommen wurden. Wie diese den Zug kommen hörten, welcher den Pietro vorbei führte, traten sie an's Fenster, um zuzusehen. Pietro war bis an den Gürtel entblößt, und die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden.

Einer von den drei Abgesandten, ein sehr ehrwürdiger alter Mann, namens Fineo, ward von ungefähr gewahr, daß Pietro auf der Brust ein großes rotes Muttermal hatte Dieser Anblick erinnerte ihn auf der Stelle an einen Sohn, den ihm vor mehr als fünfzehn Jahren am Ufer von Laiazzo die Seeräuber geraubt hatten, und von dem er nie die geringste Nachricht hatte erhalten können. Wie er nun das Alter des Gestäupten ungefähr schätzte, so meinte er, sein Sohn, wenn er noch lebte, müßte gerade von eben demselben Alter sein, und das Mal veranlaßte ihn vollends zu glauben, daß er es selbst wäre, und daß er sich in diesem Falle seines eigenen und des väterlichen Namens noch wohl erinnern, und die armenische Sprache nicht ganz vergessen haben würde. Er rief ihn demnach, wie er näher kam, bei einem Namen Theodoro!

Pietro horchte auf und Fineo fragte ihn auf armenisch: »Aus welchem Lande und wessen Sohn bist Du?«

Aus Achtung für den ehrwürdigen Alten hielten die Häscher still und ließen dem Pietro Zeit zu antworten. »Ich bin aus Armenien,« gab er zur Antwort, »und bin der Sohn eines Mannes, welcher sich Fineo nennt. Unbekannte Männer haben mich als ein Kind entführt.«

Mehr Zeugnis brauchte Fineo nicht, um versichert zu sein, daß er seinen längst verlorenen Sohn wiedergefunden hätte. Er eilte mit nassen Augen nebst seinen Gefährten hinunter, umarmte ihn mitten unter den Häschern, warf ihm seinen eigenen Mantel um und bat denjenigen, der ihn zum Tode führte, zu warten, bis er Befehl erhalten würde, ihn wieder zurückzubringen. Dieser bezeigte sich willig, zu warten. Fineo hatte die Ursache schon vernommen, weswegen dem Pietro das Leben war abgesprochen worden, weil das Gerücht davon sich schon überall verbreitet hatte. Er eilte demnach mit seinen Gefährten und Dienern zum Stadthalter und sagte zu ihm: »Mein Herr, derjenige, den Ihr als einen leibeigenen Knecht zum Tode verurteilt habt, ist ein freigeborener Mensch und mein leiblicher Sohn, und ist bereit, diejenige zu seiner Gattin zu nehmen, die er, wie ich höre, um ihre Keuschheit gebracht hat. Ich bitte Euch demnach, seine Hinrichtung so lange aufzuschieben, bis man erfahren kann, ob sie ihn haben will; damit Ihr nicht in diesem Falle widergesetzlich gegen ihn verfahret.«

Messer' Currado erstaunte nicht wenig, wie er hörte, daß Pietro der Sohn des Fineo wäre; er gestand, daß dieser Recht hätte, war ein wenig beschämt über den bösen Streich, welchen das Schicksal dem Jünglinge gespielt hatte, und ließ ihn deswegen eiligst holen und Messer' Amerigo zu sich berufen, um ihm darüber Vorstellungen zu machen.

Amerigo, welcher glaubte, daß seine Tochter und sein Enkel schon hingerichtet wären, empfand darüber die bitterste Reue, wie er sah, daß alles so glücklich könnte ausgeglichen werden, wenn sie noch lebten. Er sandte jedoch eiligst hin, um wo möglich die Ausführung seiner Befehle noch zu verhindern. Glücklicherweise fand man den Diener, welchen Amerigo abgeschickt hatte, noch mit dem Dolche und Giftbecher in der Hand, aber im Begriffe, das unglückliche Mädchen, welches nicht den Mut hatte zu wählen, mit harten Worten zur Entscheidung zu zwingen. Auf den Befehl seines Herrn ließ er nunmehr ab und kam zurück, um ihm zu sagen, wie die Sachen ständen. Amerigo war darüber sehr froh; er eilte zu Fineo, entschuldigte sich, so gut er konnte, wegen des Geschehenen und bat ihn um Verzeihung, mit der Versicherung, daß er seine Tochter mit Freuden seinem Sohne Theodor zur Gemahlin geben wolle, wenn er willig sei, sie zu heiraten.

Fineo ließ die Entscheidung gelten und antwortete: »Mein Sohn soll allerdings Eure Tochter heiraten, und könnte er sich weigern, so mag das gesprochene Urteil über ihn ergehen.«

Wie Amerigo und Fineo darüber einig waren, begaben sie sich zu Theodoro, der noch zwischen der Todesangst und der Freude, seinen Vater wieder gefunden zu haben, schwebte, und verlangten seine Entschließung zu wissen. Wie dieser vernahm, daß er Violanta zur Gemahlin haben sollte, glaubte er einen Sprung aus der Hölle in's Paradies zu thun, und versicherte den beiden Alten, daß sie ihm keine größere Gnade gewähren könnten.

Jetzt sandte man noch zu Violanta, um auch ihren Willen zu vernehmen. Wie sie hörte, was ihrem Theodoro geschehen war, und wie man ihr sagte, was ihnen beiden jetzt bevorstehe, nachdem sie kurz vorher voll Schmerz und Verzweiflung einem augenblicklichen Tode entgegengesehen hatten, so kostete es ihr nicht wenig Mühe, die gute Zeitung zu glauben und sich allmählich wieder zu erheitern. Endlich antwortete sie, wenn sie sich selbst wählen dürfte, so könnte ihr kein größeres Glück widerfahren, als die Gattin des Theodoro zu werden; doch unterwürfe sie sich ganz den Befehlen ihres Vaters.

Zur großen Freude aller teilnehmenden Personen und zum Vergnügen aller Einwohner von Trapani ward nunmehr das Verlöbnis des jungen Mannes gefeiert. Violanta erholte sich, und die mütterliche Freude über ihren kleinen Säugling machte, daß sie schöner als jemals ihr Wochenbette verließ, und dem Fineo, wie er wieder von Rom kam, ihre kindliche Ergebenheit bezeigen konnte. Er freute sich seiner schönen und liebenswürdigen Schwiegertochter; die Hochzeit ward mit Pracht und Freude gefeiert, und Fineo liebte sie stets mit väterlicher Zärtlichkeit. Nach einiger Zeit ging er mit seinem Sohne, Schwiegertochter und Enkel zu Schiffe und begab sich mit ihnen nach Laiazzo, wo das junge Ehepaar bis an's Ende in Frieden und Eintracht lebte.

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