Sagen aus dem Rheinland
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Die Leiter am Teufelskädrig

Es war an einem launischen Tage im Mai. Heulend trieb der Wind Regen und verspäteten Schnee vor sich her. Da kam der Ritter Sibo, Herr zu Lorch, von einem langen Ritt ermüdet zurück. Er hatte dem jungen Ruthelm, der das Waffenhandwerk bei ihm gelernt hatte, und nun zu seinem ersten Kriegszug ausritt, das Geleite gegeben.

Kaum hatte der Wächter das Tor hinter seinem Herrn geschlossen, da bat auch ein Fremder um Einlaß. Sibo war schlechter Laune und ließ ihn kurz abweisen. Der grobe Torwart schlug dem Unbekannten das Guckfenster vor der Nase zu und empfahl ihm höhnisch, unter der Zugbrücke zu übernachten.

Hell leuchtete am anderen Morgen die Maiensonne wieder, als des Burgherrn einziges Töchterlein, die zwölfjährige Gerlind, vor das Tor hinaussprang, um Blumen zu einem Frühlingsstrauß zu pflücken. Als das Kind um die Mittagsstunde noch nicht heimgekehrt war, schickte der Ritter Leute aus, um es zu suchen. Ganz niedergeschlagen und ohne Erfolg kehrten sie zurück. Da überfiel bange Sorge des Vaters Herz; mit seinen Knechten eilte er hinaus und durchforschte jeden Winkel in der ganzen Gegend. Doch alle Mühe war umsonst, nicht einmal eine Spur der Verlorenen ward gefunden. Endlich trafen die Suchenden einen Hirtenknaben, der das Kind frühmorgens am Fuße eines hohen Felsens, Kädrig genannt, gesehen hatte. »Mit einem Male«, so berichtete der Knabe, »kamen mehrere graue Männlein vom Felsen herabgesprungen, faßten das kleine Fräulein bei den Händen und stiegen mit ihm am Gestein empor.«

Wie Sibo nun vor dem steilen Berge stand und mit den Augen das glatte Gestein absuchte, da krampfte sich ihm das Herz zusammen vor Weh; eines Menschen Fuß, das sah er, konnte diesen Felsen nicht ersteigen. Endlich glaubte er hoch oben ein helles Gewand zu sehen. Er streckte die Arme sehnsüchtig aus und rief den Namen seines Kindes. Doch ein böses Lachen ertönte, und eine schrille Stimme rief: »Das ist der Dank für deine Gastfreundschaft!«

Alsbald versuchten beherzte Männer den Felsen zu erklimmen; aber auf halbem Wege mußten sie haltmachen, ja man hatte Mühe, sie aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. Als die Knechte des Ritters am anderen Morgen versuchten, mit Hacke und Meißel eine Treppen in den Felsen zu schlagen, da setzte sich über ihren Köpfen eine Steinrausche in Bewegung und vertrieb sie.

Sommer und Winter vergingen, der Kädrig wurde nicht erstiegen, und Sibos Haar wurde weiß vor Kummer und Sorge. Auf der vereinsamten Burg ging der unglückliche Vater umher mit gramdurchfurchten Zügen und trüben Augen. All das reiche Almosen, mit dem er Kirchen und Klöster beschenkte, konnte ihm nicht eine einzige frohe Stunde schaffen.

Vier lange Jahre waren verflossen, da kehrte der junge Ruthelm von seinem Kriegszuge zurück. Er war inzwischen zu einem kraftvollen Manne herangereift. Als er von Sibo vernahm, was am Tage nach seinem Weggang geschehen war, da rief er in froher Zuversicht: »Ich bringe Euch die Tochter wieder! Ich will sie den grauen Männlein schon entreißen! « Voll Zweifel, doch in leiser Hoffnung, entgegnete Sibo: »Wenn du sie befreist, dann darfst du mit ihr als deiner Braut einreiten durch die Tore von Lorch!«

Ohne Säumen begab sich Ruthelm an den Fuß des Kädrig. Scharfen Blickes späht er hinauf, um einen Weg zu finden, den trotzigen Felsen zu bezwingen. Da sah er auf einem Felsvorsprung ein graues Männlein sitzen, das sich den langen Bart strich und ihm lachend zurief: »Heda, der Junker will wohl hinaufsteigen, um sein Schätzchen zu suchen! Wenn er das fertig bringt, dann soll er das Mägdlein haben. Darauf kann er sich verlassen! « Im Augenblick verschwand der Graue im Gestein wie ein Mäuslein in altem Gemäuer.

Wie nun Ruthelm wieder emporblickte, da sah er über dem Berge einen Vogel seine Schwingen breiten, und er sprach vor sich hin: »Ach wäre ich doch ein Vogel, wie jener Falke, der so leicht um des Berges Gipfel kreist! « Da stand neben ihm ein Zwergenweiblein, sah ihn freundlich an und sagte: »Auch ohne Flügel wird es dir möglich sein, den Felsen zu ersteigen und die Gefangene zu befreien. Der dir das Mägdlein eben versprochen hat, ist mein Bruder; er wird Wort halten. Ich aber will dir verraten, wie du den Weg zur Höhe findest. Im Wispertal ist ein verfallener Stollen. Über seinem Eingang ist eine Buche mit einer Tanne dicht zusammengewachsen. Dort läute mit diesem Glöcklein, und es wird dir Hilfe werden.«

Schon nach wenig Stunden stand Ruthelm am Stolleneingang im Wispertal und schwang das Glöcklein. Da tauchte aus der Tiefe ein graues Männlein auf, das ein Grubenlicht in der Hand hielt. Ruthelm erzählte, wer ihn geschickt habe, und bat flehentlich um Hilfe. Der Alte sagte: »Wenn du Mut hast, dann komme morgen früh vor Tagesanbruch an den Kädrig!« Darauf steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff, und sogleich raschelte es ringsum im Laube. Ruthelm sah eine ganze Schar von Männlein mit Axt und Säge, die mit einem Male wieder seinen Blicken entschwanden. Auf dem Heimwege aber vernahm er solch lauten Lärm im Walde, als ob hundert Holzhauer an der Arbeit wären.

Ehe die erste Morgenröte sich am Himmel zeigte, stand Ruthelm schon am Fuße des Kädrig und sah eine mächtig große Leiter, die am Felsen lehnte. Ohne Zögern begann er emporzusteigen. Als er aber nach einer Weile in den Abgrund schaute, da zitterten ihm die Knie vor Entsetzen. Doch er biß die Zähne zusammen und straffte die Muskeln, bis er endlich über die oberste Leitersprosse hinweg auf ebenen Boden gelangte und halb ohnmächtig vor übermäßiger Anstrengung zusammenbrach. Nach einigen Augenblicken der Ruhe schaute er um sich und sah ganz nahe eine Hütte. Dorthin lenkte er den Schritt. Wer beschreibt seine Freude, als er vor der Hütte auf einem Mooslager ein liebliches Mägdelein in tiefem Schlafe fand. Er erkannte in der Schlummernden die kleine Gefährtin seiner Kindertage kaum wieder, war sie doch zu einer blühenden Jungfrau herangewachsen. Leise ließ er sich neben ihr auf die Knie nieder und ergriff ihre Hand. Da öffnete sie die Augen und erkannte in freudigem Erschrecken den Jugendfreund. Ruthelm erzählte der Überglücklichen, daß er gekommen sei, um sie zu befreien und heimzuführen. Lange saßen die beiden zusammen in seliger Freude, bis sie endlich die Männlein gewahrten, die um sie herstanden. Der Anführer der Schar sprach zu Ruthelm: »Du hast nun die Braut gewonnen. Aber ehe du sie nach der Burg Lorch führen darfst, mußt du noch die Leiter hinabsteigen. Gerlind wirst du unten finden. Wenn du dann nach Lorch kommst, dann sage dem Alten, daß er für seine Ungastlichkeit nun genug gebüßt habe.«

Beim Abstieg hüllten freundliche Rheinnebel Ruthelm ein, so daß er den grausigen Abgrund zu seinen Füßen nicht sah. Sobald sein Fuß den Boden betrat, kam Gerlind an der Hand des Zwergenweibleins auf ihn zu. Beim Abschied drückte ihnen die Alte als Hochzeitsgeschenk ein Kästchen mit edlem Gestein in die Hand.

Der hochbeglückte Burgherr von Lorch fand nach der Wiedervereinigung mit seinem Kinde bald Gesundheit und Lebensmut wieder. Er richtete ein Hochzeitsfest, zu dem jedermann willkommen war. Wenn aber in Zukunft auf Burg Lorch ein Kindlein in der Wiege lag, dann erschien jedesmal bei Gerlind und Ruthelm die Alte mit kostbaren Geschenken und erfreute sich am Anblick des jungen Lebens.

 


 


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