Sagen aus dem Rheinland
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Gunhild

Gunhild war einem vornehmen Adelsgeschlecht am Niederrhein entsprossen. Schon in zarter Jugend zeigte sie viel Neigung zu einem beschaulichen Leben. Als sie zur Jungfrau herangewachsen war, trat sie ins Kloster zu Gräfrath. Sie war eine der frömmsten Nonnen. Aber auch bei diesen pflegt sich der Versucher einzustellen. Er erschien Gunhild in der Person des Beichtvaters, eines jungen, strengen Klostergeistlichen.

Die Unschuld und Schönheit der jungen Nonne machten den Mönch seinem Gelübde ungetreu. Er wollte um jeden Preis die Liebe der Jungfrau erwerben und in ihren Besitz gelangen. Er hatte lange zu kämpfen und zu überreden, bis er sie zur Flucht bewegen konnte. Durch Freunde und Verwandte, aber auch durch unehrliche Mittel, hatte er sich einen vollen Säckel zur Reise zu verschaffen gewußt. Glücklich kam er mit seiner Geliebten in die Fremde, wo die beiden anfangs im seligen Liebesrausch wie ehelich Verbundene miteinander lebten. Aber bald schwanden die Mittel. des Mönches dahin und er suchte Betäubung im Genuß geistiger Getränke. In den Schenken lernte er verwegene, gesetzlose Menschen kennen und wurde ihnen zu vielen Niederträchtigkeiten verleitet. Die Vorstellungen, welche ihm Gunhilde machte, halfen nichts; er fiel immer tiefer und fand zuletzt an der Heerstraße, welche er als Räuber unsicher gemacht hatte, seinen Tod. Gunhilde verfiel nun der bittersten Armut. Aber noch mehr drückte sie das Bewußtsein ihrer Schuld, wodurch sie in diese traurige Lage gekommen war. Sie beschloß endlich, in das verlassene Kloster zurückzukehren und ihr Vergehen dort zu bekennen. Ehe sie aber ihr Ziel erreichte, mußte sie den Weg, welchen sie vorher in Freude und Wohlleben gemacht hatte, in Armut und Not wieder zurücklegen. In prächtigen Kleidern war sie geflohen – als abgezehrte Bettlerin kehrte sie ins Kloster zurück. Mit Auszeichnung wurde sie von der Pförtnerin aufgenommen. Verwirrt eilte sie zur Äbtissin und klagte sich der Flucht und der vielen anderen Vergehen an. Aber sie fand kein Gehör, sondern wurde als eine Kranke zu Bett gebracht. Jedesmal, wenn sie beichtete, beschwichtigte man sie wie eine Fieberkranke und sagte, daß sie nie ein Gesetz übertreten, nie das Kloster verlassen und stets in größtem Eifer allen ihren Pflichten genügt habe. Zuletzt begriff sie, daß sie in den sieben Jahren ihrer Abwesenheit auf Geheiß der heiligen Himmelskönigin durch einen Engel vertreten worden war, so daß niemand ihre Flucht ahnen konnte. Von nun an hielt sie ihren früheren unbescholtenen Lebenswandel wieder aufs strengste inne und befleißigte sich noch größerer Sittenstrenge und Frömmigkeit.

 


 


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