Sagen aus dem Rheinland
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Der Binger Bleistift

In alten Zeiten rief einmal der Bürgermeister von Bingen seine einundzwanzig Schöffen zusammen, um mit ihnen über das Wohl und Wehe der Bürger zu beraten. Viel kluge Gedanken wurden da zu Tage gefördert, manch guter Rat wurde gegeben. Endlich sagte der Bürgermeister: »Ihr Herrn, was ihr vorgebracht habt, hat Hand und Fuß. Damit es aber nicht in Vergessenheit gerät, sondern zum Besten unserer guten Stadt in die Tat umgesetzt werden kann, will ich die trefflichsten Vorschläge zu Papier bringen.« Er begann in seinen Rocktaschen nach einem Bleistift zu suchen, fand aber keinen. »Kann einer der Herren mir einen Bleistift leihen?« wandte er sich an die Stadtväter. Die schauten ihn halb verlegen, halb vorwurfsvoll an und griffen dann zögernd in die Taschen; es kam kein Bleistift zum Vorschein. »Dann wollen wir«, fuhr der Bürgermeister fort, »die Sitzung schließen und auf das gute Gelingen unserer Pläne ein paar Flaschen leeren.« Er winkte dem Ratsdiener, der alsbald verschwand und nach ein paar Minuten mit einem Korb voll bemooster Flaschen Scharlachberger zurückkam.

Von neuem kam das würdige Stadtoberhaupt in Verlegenheit; in seinen Hosentaschen fand sich kein Stopfenzieher. Auf seine Frage nach diesem im Weinlande so unentbehrlichen Gerät zuckten die Hände der Ratsherrn, ohne fehl zu greifen, blitzschnell nach den richtigen Taschen, und im nächsten Augenblick lagen einundzwanzig Stopfenzieher vor dem verständnisvoll schmunzelnden Bürgermeister. Sie waren alle vom fleißigen Gebrauch so blank wie ein neuer Silbertaler.

Noch heute heißen im Rheingau die Stopfenzieher Binger Bleistifte.

 


 


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