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67. Kapitel.
Begräbnis und Abreise.
Schluß.

Das Getreibe und Gedränge, welches nothwendig mit den Vorbereitungen zur Abreise von der Insel verknüpft war, und die schnelle Aufeinanderfolge der Ereignisse, die sich auf eine Reihe von wenigen Tagen zusammendrängte, hatten William und seinen Eltern keine Muße gegönnt, ihren betrübten Gedanken nachzuhängen oder Betrachtungen über die Größe ihres Verlustes anzustellen. Endlich aber waren die Vorbereitungen sämmtlich vollendet, und der Kommandeur des Schooners trieb nicht mehr wie bisher zu Hast und Eile, indem auch bereits Alles an Bord gesendet und bestimmt worden war, daß man am nächsten Morgen unter Segel gehen wollte.

Jetzt, wo es nichts mehr zu thun gab, erwachten wieder die traurigen Gefühle im Herzen unserer Freunde; bitterlich beweinten sie den Verlust des alten treuen Hurtig, und beklagten voll Wehmuth, daß er nicht mit ihnen nach Sidney segeln konnte. Seit lange schon hatten sie immer still der Hoffnung nachgehangen, daß sie doch noch eines Tages aus ihrer Einsamkeit erlöst werden würden, und Alle hatten dabei, als eine Sache, die sich ganz von selber verstünde, zuversichtlich angenommen, daß Hurtig sie begleiten und den Rest seiner Tage als ein geliebter und verehrter Freund in ihrer Mitte verleben würde. Nun waren ihre Hoffnungen in Erfüllung gegangen, ihr geheimes Sehnen hatte sich auf die überraschendste Weise verwirklicht – aber Hurtig konnte nicht mit ihnen gehen, und die Gefühle der Freude und des Dankes wurden durch den Verlust ihres treuesten Freundes mit so viel bitterem Kummer gemischt, daß sie Alle gern und mit freudigem Herzen auf dem Eilande geblieben wären, wenn er ihnen dadurch hätte zurückgegeben werden können.

Nachdem die nöthigen Anordnungen zu dem Begräbnisse Hurtigs, das am folgenden Tage vor dem Absegeln von der Insel stattfinden sollte, getroffen worden waren, begaben sich Kapitän Osborn und der Kommandeur nebst der Mannschaft des Schooners an Bord desselben zurück. Die Kinder lagen bereits im Bette, und William allein saß mit seinen Eltern in dem halb ausgeräumten Zimmer, als Juno mit verweinten Augen hinein trat, und sich still und traurig auf die Seite setzte.

»Nun, Juno, freuest du dich nicht, die einsame Insel verlassen zu können?« fragte Herr Seagrave endlich, nur in der Absicht, das drückende Stillschweigen zu unterbrechen, das lange schon lastend über Allen gelegen hatte.

»Vorher ich denken, ich darüber sehr froh sein werden,« erwiederte Juno; »aber jetzt Alles gleich sein. Eiland sehr hübscher Ort sein, Alle wir sehr glücklich sein, bis Wilden kommen. Wir nicht sorgen brauchten, so lange guter alter Hurtig lebendig sein!«

»Ja, sein Tod ist wahrlich ein trauriges Ereigniß für uns Alle,« sagte Madame Seagrave. »Ich dachte es mir so schön, den guten Mann in seinem Alter pflegen, ihm auf alle Weise meine Dankbarkeit bezeigen zu können, und nun – – «

»Der Himmel wollte es, daß es so und nicht anders sein sollte!« sprach Herr Seagrave. »Aber mit Freuden würde ich mein ganzes Vermögen dahin geben, wenn ich ihn wieder in's Leben zurückrufen könnte.«

»Ah, Massa!« sagte Juno mit zuckendem Munde; »ich bei ihm sitzen eben jetzt, und die Flagge wegnehmen, und sehen in sein Gesicht. Oh, es so ruhig, so glücklich, so gut und sanft sein. Ich immer denken, er lachen mich an, und ich dann bitterlich weinen. Oh, Massa Tommy! du fauler Junge an Allem Schuld sein!«

»Ja, das eben macht meinen Kummer so herzbedrückend, daß sein Leben gerade durch den Leichtsinn eines meiner eigenen Kinder geopfert wurde!« sagte Herr Seagrave. »Welche ernste Lehre wird dieß für Tommy sein, wenn er erst alt und verständig genug ist, alle die traurigen Folgen seines Betragens in vollem Umfange begreifen und würdigen zu können!«

»Er darf es nie erfahren, lieber Vater,« nahm William, der tief betrübt am Tische lehnte, das Wort. »Es war Hurtigs ausdrücklicher Wille, daß wir ihm niemals Etwas davon sagen sollen. Ich mußte es ihm in die Hand versprechen.«

»Wohlan, so mag es sein!« erwiederte Herr Seagrave; »Hurtigs letzte Wünsche müssen heilig gehalten werden, da wir dem guten, alten Manne Alles schuldig sind. Damals, als Jeder uns verließ und uns dem Untergange preisgab, als wir keine Aussicht weiter hatten, als das geöffnete Grab im weiten Ocean, da blieb Hurtig allein bei uns, um unser Schicksal zu theilen. Seine Geschicklichkeit rettete uns und wir landeten glücklich. Er sorgte für unsere Bedürfnisse, für unsere Bequemlichkeit, er unterrichtete uns im Gebrauche der uns gebliebenen Mittel, er war unser Rathgeber, unser Beschützer. Ohne ihn, was würde aus uns geworden sein? Ohne seine Vorsicht wären wir den Waffen der Wilden erlegen; ohne ihn wären wir verdürstet. Mit Aufopferung seiner selbst holte er Wasser herbei, um uns Schmachtende zu erquicken; um unser Leben zu retten, gab er das seinige dahin. Welches edle Beispiel von hoher Seelenstärke und christlicher Demuth gab er uns jederzeit! Mit Freuden bekenne ich, daß er mich, der ich immer ein sündhafter Mensch war, zu einem wahren und frommen Christen gemacht hat. Wollte Gott, daß er noch in unserer Mitte säße! Aber ach, der Himmel will es nicht, und in Ergebung müssen wir uns fügen und sprechen: ›Des Herrn Wille geschehe!‹«

»Mir ist, als ob ich mit ihm meine beste Stütze, den sichersten Halt verloren hätte, lieber Mann;« sagte Madame Seagrave. »Seit unserer Ankunft auf der Insel gewöhnte ich mich, ihn bei Allem um Rath zu fragen, und nun fühle ich beständig, daß mir Etwas fehlt, und daß eben Hurtig es ist, der mir mangelt. Wäre er uns nur nicht so plötzlich entrissen worden! Hätte er wenigstens nur noch einige Jahre in unserer Mitte verlebt, und die Beweise unserer innigen Dankbarkeit empfangen, dann wollte ich mich eher trösten! Aber so – – – »und Madame Seagrave lehnte ihren Kopf auf ihres Gemahles Schulter, und brach in ein heftiges Weinen aus.

Nach einiger Zeit faßte sich die erschütterte Frau wieder, aber das Stillschweigen dauerte, nur durch das leise Schluchzen der armen Juno unterbrochen, lange noch fort. Williams Herz war voll zum Erdrücken.

»Ich fühle,« sagte er endlich mit zitternder Stimme, »daß ich den besten Freund, den ich nächst meinen Eltern besaß, für immer verloren habe. Niemals werde ich mir vergeben können, daß ich ihn nach der Quelle gehen ließ! Meine Pflicht wäre es gewesen, Wasser zu holen, und ich hätte gehen müssen!«

»Wir würden dich nicht minder schmerzlich vermißt haben, mein lieber Sohn,« erwiederte seine Mutter. »Denn auch du würdest bei dem Wagniß das Leben eingebüßt haben.«

»Lieber ich als er,« entgegnete William schmerzlich. »Gottes Wille hätte geschehen mögen!«

»Wie wenig wissen wir doch, was in der Zukunft uns erwartet, was nur der nächste Tag uns bringen wird,« unterbrach Herr Seagrave die wieder eintretende Stille. »Wenn Hurtig uns erhalten wäre, wie freudig, und mit welchen schönen Erwartungen und Plänen würden wir diese Insel verlassen haben! Jetzt ist Alles anders, und dieser traurige Todesfall hat eine gar trübselige Veränderung in mir bewirkt. Mein Herz ist voll Angst und Sorge, und hundert Mal frage ich mich selber: ›Warest du nicht glücklich hier? Waren nicht deine Bedürfnisse reichlich befriedigt? War nicht selbst für deine Behaglichkeit und Bequemlichkeit gesorgt? Von der Welt und ihrem Treiben geschieden, nahete dir keine Versuchung zum Bösen – weißt du gewiß, daß dich auch in Zukunft die Versuchung meiden wird? Weißt du gewiß, daß du nie beklagen wirst, dieses friedliche und ruhige Asyl verlassen zu haben?‹ – Solche Fragen bestürmen mich immerwährend, obgleich ich recht gut fühle, daß es die Pflicht gegen meine Familie erheischt, in die menschliche Gesellschaft zurückzukehren. Ich zweifle aber, ob unsere Glückseligkeit durch die Rückkehr erhöht werden wird, und nur der Gedanke, daß wir unter allen Verhältnissen unsere Schuldigkeit thun und Gottes Gebote befolgen müssen, tröstet mich und vermag mich mit der Trennung von unserer Insel auszusöhnen.«

»Auf Gott wollen wir bauen, bester Mann,« erwiederte Madame Seagrave. »Er wird uns leiten nach feinem Willen, und was er thut, ist wohlgethan!«

»So ist es, liebes Weib! Aber kommt nun zur Ruhe! Es ist spät, und wir müssen morgen sehr zeitig aufstehen. Laßt uns an diesem letzten Abende, den wir auf unserer Insel verweilen, Gott aus vollem Herzen danken für das Glück, das er uns, so lange wir hier verweilten, verliehen hat! Laßt uns für unser künftiges Wohl beten, und in Demuth den Kummer tragen, den er uns aufzulegen für gut fand. Wir hofften in Freude von der Insel zu scheiden, aber Gott will, daß wir sie in Wehmuth und Herzeleid verlassen. Sein Wille geschehe!«

Herr Seagrave nahm die Bibel zur Hand, las ein Kapitel daraus vor, und knüpfte ein Gebet daran, wie es für ihre Gefühle und ihre Stimmung am geeignetsten war. Darauf erhoben sich Alle, und begaben sich, für das letzte Mal auf der Insel, zur Ruhe.

Am nächsten Morgen standen Alle sehr früh auf, und packten die wenigen Gegenstände, die noch zurück geblieben waren und an Bord geschafft werden mußten, eilig zusammen. Herr Seagrave las darauf das Morgengebet, und dann gingen Alle zum Frühstück. Nur wenige leise Worte wurden gewechselt; denn aller Herzen waren voll bitteren Grams und herber Bekümmerniß. Sie warteten auf die Ankunft Kapitän Osborns und der Schiffsmannschaft, welche die sterblichen Ueberreste Hurtigs zu seinem Grabe geleiten sollten. Bald meldete William, der von Zeit zu Zeit hinausging, die Landung der Boote, und wenige Minuten später traten die Erwarteten in Begleitung des Kommandeurs herein. Nach einer kurzen, einsilbigen Unterhaltung gingen sie an ihr trauriges Geschäft.

Der Sarg ward herauf gebracht und der entseelte Körper des guten alten Hurtig hinein gelegt. William wohnte dieser Handlung bei, und in Strömen entflossen die Thränen seinen Augen, als der Sarg geschlossen, und er den letzten Blick auf die Hülle des geliebten alten Freundes geworfen hatte.

Binnen einer halben Stunde war alles bereit, und die Mitglieder der Familie versammelten sich vor dem Hause. William, Herr Seagrave, Kapitän Osborn und Juno, welche letztere besonders darum gebeten hatte, sollten die Zipfel des Bahrtuches tragen.

Ueber den Sarg hinweg war als Leichentuch die große englische Nationalflagge gebreitet worden. Sechs Matrosen luden ihn auf ihre Schultern, hoben ihn auf, und trugen ihn, gefolgt von Madame Seagrave, den Kindern, dem Kommandeur des Schooners und der übrigen Mannschaft, dem Grabe zu. Unter Thränen ward der Sarg hinein gesenkt und die Erde darüber geschüttet. Darauf hielt Herr Seagrave ein kurzes, inniges Gebet, und Alle begaben sich dann in tiefem und ernstem Schweigen nach dem Hause zurück. Auf Williams Bitte zog der Schiffszimmermann ein festes eichenes Gitter um den Grabhügel herum, und richtete auf demselben eine Tafel auf. Zu Hurtigs Gedächtniß war sein Name und der Tag seines Todes darauf geschrieben, und mit einigen herzlichen Worten seiner edeln Tugend und Selbstaufopferung Erwähnung gethan worden. William verweilte am Grabe, bis Alles eingerichtet und befestigt war. Dann sank er auf seine Knie, nahm unter Thränen von dem geliebten, gestorbenen Freunde Abschied, und begab sich darauf zu dem Kommandeur des Schooners, um ihm anzuzeigen, daß jetzt der Abfahrt kein Hinderniß mehr im Wege stünde.

»Komm, liebe Frau!« sagte Herr Seagrave zu seiner Gattin.

»Gleich, gleich! Nur ein wenig noch laß uns warten!« erwiederte Madame Seagrave. »Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber ich fühle jetzt, wo wirklich der Augenblick der Trennung von diesem geliebten Eilande heranrückt, eine ganz unbeschreibliche Angst. Wenn Hurtig noch lebte, wahrlich, ich würde mich nie wieder von der Insel trennen können!«

»Ich verstehe deine Gefühle, liebes Weib,« entgegnete Herr Seagrave sanft; »aber wirklich, wir dürfen Kapitän Osborn nicht warten lassen.«

»Und doch mögte ich so gern noch einmal unser kleines Eigenthum besuchen!« sagte Madame Seagrave mit tiefer Wehmuth und rinnenden Thränen. »Ich mögte so gern dem Garten, dem Fischteiche, dem Schildkrötenweiher und selbst unseren Thieren ein letztes Lebewohl zurufen, ehe ich sie Alle für immer verlasse. Es mag eine kindische Schwäche sein, aber ich kann mir nicht helfen, ich fühle einmal so!«

»Aber lassen wir denn die Ziegen hier, Mama, und alle die hübschen kleinen Hühnerchen?« fragte Karoline.

»Ja, liebes Kind,« erwiederte die Mutter, »das Alles lassen wir hier, damit andere Unglückliche nach uns auch Etwas finden mögen, wenn sie von Sturm und Wellen auf dieß Eiland geworfen werden sollten!«

»Lassen wir denn auch die Schildkröten im Teiche?« fragte Tommy. »Schildkrötensuppe schmeckt doch gut, und ich esse sie so gern.«

»I nun,« sagte Kapitän Osborn, »die Schildkröten könnten wir allenfalls noch mitnehmen. Es wird nicht viel Zeit kosten, sie einzufangen.

»Gut,« entgegnete der Kommandeur des Schooners. »Geht hinunter, Leute, holt ein Boot, und schafft die Schildkröten an Bord.«

Während dieser Befehl ausgeführt wurde, ging Madame Seagrave zu Hurtigs Grabe, um das Gitter und die Gedächtnißtafel zu besehen, von welchem William ihr erzählt hatte. Lange verweilte sie dort an der Seite ihres Gatten, und verließ die letzte Ruhestätte des ehrlichen braven Mannes erst, als Kapitän Osborn kam und meldete, daß das Boot ihrer warte.

Herr Seagrave wußte, daß dem Kommandeur des Schooners daran gelegen war, noch vor Nacht die offene See zu gewinnen. Er führte also ohne Zögern seine Gattin an den Strand hinab; Alle schifften sich ein, begaben sich an Bord des Schooners, stellten sich auf das Verdeck, und schauten, während die Anker gelichtet wurden, mit trüben Blicken auf das verlassene Eiland hinüber.

Endlich wurden die Segel aufgehißt, das Schiff fuhr an der Gartenspitze vorüber, und entfernte sich mit einer frischen günstigen Briese so schnell vom Lande, daß die Gegenstände am Ufer sehr bald in nebelige und unbestimmte Umrisse verschwammen. Juno und William standen auf dem Hinterdeck, und hielten ihre Augen starr und unverwandt auf die verlassene Gegend gerichtet. William blickte häufig durch ein Fernrohr, und als Kapitän Osborn ihn fragte, nach was er suche, gab er mit stiller Trauer zur Antwort: »Ich nehme das letzte Lebewohl von Hurtigs Grabe!«

»Und er ein guter, wirklich braver Mann gewesen sein!« setzte Juno mit gedämpfter Stimme hinzu.

Da sie westwärts längs dem Eilande hinunter segelten, kamen sie an der Rettungsbucht vorüber, und Herr Seagrave machte seine Gattin hierauf aufmerksam. Sie stand in tiefem Schweigen, und heftete lange Zeit ihre Blicke auf die verschwindende Küste. Dann sagte sie, indem sie sich seufzend abwendete:

»Nirgends, lieber Mann, werden wir uns glücklicher fühlen können, als auf diesem Eilande hier!«

»Ja, mein Kind;« erwiederte ihr Gatte, »und Gott möge geben, daß wir nirgends weniger zufrieden und glücklich sind.

Mit vollen Segeln rauschte der Schooner jetzt durch die Fluthen, und mehr und mehr verlor die Küste der verlassenen Insel ihre bestimmten Umrisse. Das Ufer sank unter den Horizont hinab, bald waren nur noch die Wipfel der Kokosbäume sichtbar, und auch diese verschwammen nach und nach mit Himmel und Wasser in Eins. Juno hielt starr ihre Augen darauf geheftet. Als auch die letzte Palme ihren Augen entschwand, schwenkte sie zum letzten Lebewohle ihr Taschentuch nach dem Eilande hinüber, und ging dann weinend hinunter unter Deck, um mit ihrem Kummer und Gram allein zu sein.

Der Wind blieb günstig, und nach einer glücklichen Fahrt von etwas über vier Wochen erreichte der Schooner die Rhede von Sidney, denselben Hafen also, welchem unsere Freunde zusteuerten, als sie, England verlassend, sich an Bord des guten und wackeren Schiffes, »der Pacific,« begeben hatten.

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