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62. Kapitel.
Sturm.

Das laute Geheul der Wilden erfüllte das Herz der armen Madame Seagrave mit Entsetzen, und ein Glück für sie war es, daß sie bisher noch nicht ihre bemalten Körper und ihr ganzes schaudererregendes Aeußere gesehen hatte. Es würde ihre Angst auf das Höchste gesteigert haben.

Der kleine Albert und Karoline klammerten sich schreckensvoll um den Hals der Mutter; sie schrieen nicht, aber ihre Gesichter waren blaß wie Leichen; voller Furcht blickten sie scheu rund umher, um die Ursache des entsetzlichen Getöses zu erforschen, und bargen dann zitternd wieder ihr Antlitz in den Locken der Mutter.

Tommy war indeß sehr beschäftigt, die Ueberreste des stehengebliebenen Frühstücks zu verzehren, und verschlang Alles mit der größten Seelenruhe, da heute Niemand da war, der ihn, wie sonst wohl, vom Tische weggejagt hätte.

Juno arbeitete draußen, war überall flink bei der Hand, und zeigte sich äußerst muthig. Herr Seagrave erweiterte die Schießlöcher in den Pallisaden, um ohne Schwierigkeit die Gewehrläufe hindurch stecken und feuern zu können, ohne den Angriffen der Wilden preisgegeben zu sein, und Hurtig und William standen mit den geladenen Musketen auf der Lauer, um die Wilden bei ihrem Herannahen mit einem wohlgezielten Feuer zu empfangen.

»Jetzt sind sie noch mit der Zerstörung des alten Hauses beschäftigt, Herr Seagrave,« sagte Hurtig; »aber das wird sie nicht lange aufhalten, fürchte ich.«

»Da kommen sie schon!« rief William. »Seht, Hurtig, ist das nicht eine von den beiden Frauen, die uns im Kanoe entwischten? Da geht sie gerade neben den ersten Männern her – ja, ja, sie ist es!«

»Du hast Recht, William,« erwiederte Hurtig; »es ist eine von ihnen. – Sieh, jetzt stehen sie still! Aha! den Pallisadenzaun haben sie nicht erwartet, und stutzen darüber, und kommen in Verlegenheit! Wie sie sich in Haufen zusammen drängen und schwatzen, und Kriegsrath halten, und überlegen, was sie beginnen sollen! Der schlanke Kerl da muß ein Häuptling sein! – Na, kommt nur heran, ihr Bestien! Kommt nur an, sag' ich! Ihr sollt schon empfangen werden, wie sich's ziemt! – Bei alledem, William, und obgleich ich fest entschlossen bin, mich meiner Haut auf den letzten Blutstropfen zu erwehren, fühle ich doch einen Widerwillen, die Feindseligkeiten zuerst zu beginnen. Ich will mich auf den Pallisaden zeigen – greifen sie mich dann an, so werde ich mit gutem Gewissen Feuer auf sie geben können.«

»Aber nehmt Euch nur in Acht, daß sie Euch nicht treffen, Hurtig!« rief William.

»Sei unbesorgt deßhalb, mein Junge!« entgegnete Robinson. »Schau, da kommen sie an!«

Hurtig erhob sich, stieg auf das Gestell innerhalb der Planken, und zeigte sich den Wilden, die sofort ein furchtbares Geheul ausstießen, und im Vorrücken mit so sicherer Hand wohl ein Dutzend Wurfspieße gegen ihn schleuderten, daß der alte Mann unfehlbar getödtet worden wäre, wenn er sich nicht augenblicklich wieder hinter den Pallisaden verborgen hätte. Drei oder vier Speere blieben, zitternd von der Gewalt des Schwunges, in den Balken stecken; die übrigen flogen dicht darüber hinweg, und fielen auf der innern Seite der Pallisaden, aber erst am entgegengesetzten Ende derselben, zur Erde nieder.

»Na, William, nun nimm sie sicher auf's Korn!« rief der alte Hurtig. »Nun können wir ihnen mit gutem Gewissen eins auf den Pelz brennen.«

William zielte; ehe er aber abdrückte, feuerte Herr Seagrave, der an einer Ecke stand, wo er die Wilden auf zwei Seiten beobachten konnte, sein Gewehr los. Der Schuß krachte, und der junge, schlanke Häuptling stürzte zusammen.

Jetzt schossen auch Hurtig und William, und zwei andere Wilde fielen, tödtlich getroffen, unter dem Geheul ihrer Gefährten, zur Erde nieder.

Juno brachte frisch geladene Gewehre herbei, reichte sie den Schützen, nahm dagegen die abgeschossenen Musketen in Empfang, und lud sie von Neuem. In diesem Augenblicke kam auch Madame Seagrave in den Hof und verschloß hinter sich die Thür zum Hause. Sie hatte Karolinen den Auftrag gegeben, auf ihren kleinen Bruder Acht zu geben, und Tommy ermahnt, sich ruhig und artig zu verhalten. Jetzt beeilte sie sich, Juno beim Laden der Gewehre Beistand zu leisten.

Es dauerte nun nicht mehr lange, so rauschten die Speere der Wilden, wie Hagel, durch die Luft, und unsere Freunde schätzten sich glücklich, hinter den sichern Pallisaden feuern zu können, ohne dabei ihr Leben und ihre Sicherheit auf's Spiel setzen zu müssen. Das Geheul ward immer anhaltender und stärker, und die Wilden begannen nun den Angriff von allen Seiten. Die Gewandtesten kletterten wie Katzen an den Pallisaden in die Höhe, und Einigen gelang es wirklich, den obern Rand derselben zu erreichen. So wie sich aber ihre Köpfe blicken ließen, krachten die Schüsse und wurden stets von so sicher zielender Hand entsendet, daß die kühnen Angreifer ihre Verwegenheit immer mit dem Leben büßen mußten, und jenseits der Pallisaden todt auf die Erde hinunter stürzten.

Länger als eine Stunde dauerte auf diese Weise das Gefecht, und die Wilden wichen nicht eher zurück, als bis sie eine große Anzahl Krieger verloren hatten. Da erst gaben sie den Angriff auf, und gönnten unseren Freunden hinter den Pallisaden Zeit, sich ein wenig zu erholen und frischen Athem zu schöpfen.

»Für dießmal haben sie auf keinen Fall sehr viel gewonnen,« sagte Hurtig. »Wir haben tapfer gefochten, und besonders du, William, hast dich so brav benommen, als ob du von Jugend auf zum Kriegshandwerk erzogen worden wärst. Ich glaube, du hast nicht ein einziges Mal deinen Mann gefehlt.«

»Hurtig,« fragte Madame Seagrave, »meint Ihr, daß sie sich nun entfernen werden?«

»Das bezweifl' ich,« erwiederte Robinson. »Ehe sie uns verlassen, werden sie gewiß Alles aufbieten, was in ihren Kräften steht, um uns in ihre Gewalt zu bekommen. Sie sind in ihrer Art tapfere Männer, und müssen schon früherhin Pulver gerochen haben, da sie sonst weit mehr Verwunderung und Schrecken gezeigt haben würden.«

»Der Meinung bin ich auch,« stimmte Herr Seagrave bei. »Wenn die Wilden Knall und Blitz der Feuergewehre zum ersten Male hören und sehen, gerathen sie immer in die größte Bestürzung. Bei dem Volke da draußen war dieß nicht der Fall.«

»Nein, Herr Seagrave,« sagte Hurtig, »und ich schließe daraus, daß sie schon mit Europäern gefochten haben müssen.«

»Sind sie Alle fort, Hurtig?« fragte William, der sich etwas zurückgezogen hatte und neben seiner Mutter stand.

»Nein, mein Junge!« erwiederte Robinson. »Sie sitzen dort drüben zwischen den Bäumen im Kreise, und halten wahrscheinlich Reden, wie es bei diesen Völkern so Sitte ist.«

»Auch gut,« antwortete William. »Jedenfalls bin ich schrecklich durstig, und mögte einmal trinken. Hole mir ein wenig Wasser, Juno!«

Juno ging sogleich, um Williams Wunsche zu genügen, zu dem Wasserfasse, kehrte aber nach wenigen Minuten in der schrecklichsten Bestürzung zurück.

»Oh, Massa!« schrie sie. »Oh, Missy! Wasser Alles fort sein! Kein Wasser mehr haben!«

»Was!« riefen Hurtig und die Uebrigen, wie mit Einem Munde. »Was, das Wasser ist fort?«

»Alles fort sein!« wiederholte Juno trostlos. »Kein Tropfen mehr drin sein!«

»Aber, mein Gott, ich füllte es bis zum Rande voll!« sagte Hurtig in der größten Bestürzung. »Auch weiß ich gewiß, daß die Tonne keinen Leck hatte – wie mag es nun zugegangen sein!«

»Ma'am, ich denken, ich wissen das!« wendete sich Juno zu Madame Seagrave. »Wir waschen; Sie Massa Tommy schicken, Wasser holen von Quelle, bringen in kleines Eimer. Sie es noch wissen, Tommy schnell zurück gekommen sein, Sie sagen, er gutes Kind sein, und es erzählen Massa Seagrave bei Essen. Nun, Ma'am, Tommy nicht holen Wasser von Quelle, holen von Faß, und Faß nun leer sein!«

»Ich fürchte, ich fürchte, daß du Recht hast, Juno,« erwiederte Madame Seagrave niedergeschlagen. »Was sollen wir nun anfangen?«

»Ich gehen, fragen Massa Tommy,« rief Juno, und lief in das Haus.

»Dieß ist ein sehr unglücklicher, bejammernswerther Unfall, lieber Herr Seagrave!« sagte Hurtig ernst und düster.

Herr Seagrave schüttelte traurig den Kopf.

In Wahrheit fühlten Alle nur zu sehr das Gefährliche ihrer jetzigen Lage, denn im Falle die Wilden nicht bald das Eiland verließen, mußten sie entweder vor Durst umkommen, oder sich ihren erbarmungslosen Feinden auf Gnade oder Ungnade ergeben. In beiden Fällen waren sie dem grausamsten und fürchterlichsten Tode unfehlbar anheim gegeben.

Nach kurzer Zeit kehrte Juno zurück, und erzählte, daß ihr Verdacht nur zu gegründet gewesen sei. Tommy, der sich über das ihm gespendete Lob außerordentlich geschmeichelt fühlte, hatte den Zapfen aus dem Fasse gezogen, und es auslaufen lassen. Nun weinte er, und versprach, solchen Fehler nie wieder zu begehen.

»Seine Versprechungen kommen zu spät,« sagte Herr Seagrave. »Der Himmel scheint es zu wollen, daß wir Alle, trotz unserer mit Sorgfalt getroffenen Anstalten und Vorbereitungen, die Opfer von Tommy's Faulheit werden sollen, und nichts bleibt uns übrig, als uns geduldig in dieses Schicksal zu ergeben.«

»Leider ist das nur zu wahr,« bestätigte Hurtig. »Die einzige uns noch bleibende Hoffnung besteht darin, daß die Wilden den Kampf bald satt bekommen und die Insel verlassen.«

»Wenn ich nur ein paar Tropfen für die Kinder hätte, so wollte ich für mich gern jede Entbehrung erdulden,« sagte Madame Seagrave. »Aber die armen Kleinen leiden zu sehen, das ist schrecklich. Ist denn nichts, gar nichts übrig geblieben, Juno?«

Juno schüttelte den Kopf. »Alles fort sein, Ma'am,« erwiederte sie traurig. »Nichts mehr da sein!«

»Ich muß nur einmal selbst nachsehen!« sagte Madame Seagrave, und begab sich mit Juno in das Haus hinein.

»Das ist wahrlich eine böse, böse Geschichte, Hurtig!« nahm Herr Seagrave wieder das Wort. »Was würden wir jetzt für einen Regenschauer geben, dessen Tropfen wir auffangen und sammeln könnten!«

»Dazu ist leider keine Hoffnung vorhanden!« entgegnete Hurtig. »Doch dürfen wir nicht verzweifeln, sondern müssen unser Vertrauen auf Gott setzen, der uns auch in dieser Noth nicht verlassen wird.«

»Ich wollte, die Wilden zögerten nicht so lange!« bemerkte William. »Je eher sie kommen, desto eher wird unser Schicksal entschieden sein.«

»Bei Tage werden sie heute schwerlich noch einen Angriff machen, William,« entgegnete Hurtig. »Viel eher fürchte ich, daß sie über Nacht wieder stürmen werden, und wir müssen jedenfalls die nöthigen Vorkehrungen dagegen treffen.«

»Was läßt sich dagegen thun, Hurtig?« fragte Herr Seagrave.

»Nun, für's Erste machen wir einen Theil der Pallisaden höher, indem wir starke Planken zwischen den Kokosbäumen übereinander nageln;« erwiederte Robinson. »Dieß ist sehr nöthig, weil erstens schon einige der Wilden beinahe herüber geklettert wären, und weil wir zweitens nachher keinen so großen Raum mehr zu beobachten und zu vertheidigen haben. Ferner müssen wir einen tüchtigen Haufen von Brennmaterial zum augenblicklichen Anzünden bereit halten, damit wir nicht sammt und sonders gezwungen werden, im Dunkeln zu fechten. Die Feinde haben hiervon allerdings den Vortheil, uns durch die Ritzen der Pallisaden beobachten zu können, doch kann es ihnen nicht viel nützen, da die Spalten nicht breit genug sind, um ihre Wurfspieße hindurch zu lassen. Das Feuer muß gerade in der Mitte des Hofes angezündet und eine Tonne Theer hinein gegossen werden, damit es recht hell brennt, und ein hinreichendes Licht verbreitet. Auch dürfen wir es natürlich nicht eher anzünden, als bis der Feind den Angriff wirklich begonnen hat. Dann aber frisch daran, und Gott möge den Indianern gnädig sein! Wo sie es versuchen, überzusteigen, sollen sie gehörig von unsern Musketen empfangen werden!«

»Der Gedanke ist gut, Hurtig,« sagte Herr Seagrave. »Wahrhaftig, wenn der unselige Wassermangel nicht wäre, ich würde mich der zuversichtlichen Hoffnung hingeben, daß wir die Indianer zurück schlügen.«

»Ja, das Wasser wird uns noch viel zu schaffen machen!« erwiederte Hurtig. »Aber nur Geduld! Wer weiß, was uns der nächste Morgen schon bringt!«

»Es wird nicht viel sein!« antwortete Herr Seagrave beinahe hoffnungslos. »Seht Ihr die Indianer noch, Hurtig?«

»Nein, lieber Herr!« entgegnete Robinson. »Sie haben ihren Berathungsort verlassen und ich sehe und höre nichts mehr von ihnen. Vermuthlich sind sie mit ihren Verwundeten und Todten beschäftigt.« –

Wie Hurtig es vorausgesagt hatte, ward während des ganzen übrigen Tages kein Angriff mehr von den Wilden versucht, und Alle waren daher sehr geschäftig, die von dem alten Manne vorgeschlagenen Einrichtungen ohne Zögern in's Werk zu setzen. Sie nagelten Planken an den Kokosbäumen fest, erhöhten auf diese Weise drei Seiten der Pallisaden um wenigstens fünf Fuß, und machten dadurch ein Ueberklettern oder Ueberspringen derselben beinahe ganz unmöglich. Nachher bereiteten sie eine große Tonne zum Verbrennen vor, füllten sie mit leicht entzündbaren Stoffen, mit Stroh, Holzstücken und Kokosblättern an, gossen eine Masse von Theer darüber aus, und stellten sie mitten im Hofe zum augenblicklichen Anzünden zurecht. An Mittags- und Abendbrod dachte Keiner. Sie besaßen außer den lebendigen Schildkröten nur gesalzenes Rind- und Schweinefleisch, vor dessen Genusse Hurtig Alle gewarnt hatte, da es nothwendiger Weise ihren brennenden Durst nur vermehren mußte.

Die armen Kinder litten viel; der kleine Albert jammerte laut, und rief unaufhörlich nach Wasser. Karoline hielt sich zwar ruhig, weil sie wußte, daß nichts vorhanden war, aber dennoch sah man ihr an, wie viel Leiden sie ausstehen mußte. Tommy aber, der Urheber des ganzen Unglücks, geberdete sich am ungeduldigsten, und schrie so mörderlich, daß William ihm endlich ärgerlich eine tüchtige Ohrfeige versetzte. Da erst stimmte er sein Gebrüll zu einem leisen Schluchzen herab, und weinte still vor sich hin, um nicht eine zweite Züchtigung zu empfangen. Hurtig blieb draußen im Hofe auf der Lauer, und Jeder, der nicht im Innern des Hauses verweilen mußte, war herzlich froh, ihm Gesellschaft leisten zu können, da es gar zu elend und traurig darin aussah. Man konnte den armen Kindern nicht helfen, und Madame Seagrave hatte einen schweren Stand, die Kleinen bei der harten Entbehrung des nothwendigsten Bedürfnisses nur einigermaßen ruhig zu erhalten, besonders, weil noch überdieß das Wetter schwül war, und die Sonne heiß vom Himmel hernieder brannte.

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