Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

56. Kapitel.
Der wilde Esel.

Der nächste Tag war wieder ein Sonntag, also ein Ruhetag, und da Alle die ganze Woche über fleißig gearbeitet hatten, so fühlten sie die Annehmlichkeit der Ruhe in doppeltem Maße. Nachmittags ward beschlossen, daß am Montage Vorbereitungen getroffen werden sollten, die Zelte zu verlassen und in das Haus an der Bay zurück zu kehren. Ferner, daß mit Ausnahme einer Milchziege, alle übrigen Thiere auf der Südseite, wo sie so reichliche und treffliche Nahrung finden, zurück gelassen werden, und auch die Zelte nebst einem Kochgeschirr stehen bleiben sollten, damit nicht William oder Hurtig, wenn sie einmal der Bananen, des Yamsfeldes oder der Thiere wegen hinüber müßten, unter freiem Himmel zu liegen und ihr Mittagbrod in ungekochtem Zustande zu verzehren brauchten. Im Uebrigen aber wurde bestimmt, daß Hurtig und William die Betten und alles andere Hausgeräth im Boote nach der Bay bringen sollten, während Herr und Madame Seagrave mit Juno und den Kindern nach recht zeitig eingenommenem Frühstück zu Fuße durch den Wald zurück pilgern würden.

Als alle diese Punkte erörtert und festgesetzt waren, und man das Nachtessen eingenommen hatte, suchte William das Gespräch wieder auf die Thiere zu lenken, indem Alles, was sein Vater über diesen Gegenstand erzählte, von großem Interesse für ihn war.

»Vater,« sagte er plötzlich, als die Unterhaltung kaum einige Minuten gedauert hatte, »Vater, man sagt immer, so dumm wie ein Esel! Ist denn der Esel wirklich ein so dummes Thier?«

»O nein, William,« erwiederte Herr Seagrave, »er ist vielmehr ein sehr scharfsinniges und kluges Geschöpf, und man hat ihm die schmachvolle Bezeichnung der Dummheit mehr um seiner Störrigkeit und Widerspenstigkeit, als um irgend einer andern Ursache willen, verliehen. Häufig wird gesagt: so dumm wie ein Esel, oder so dumm wie ein Schwein und eine Gans, und doch sind gerade diese Thiere äußerst fähige und scharfsinnige Wesen. Der Grund liegt einfach darin, daß man in den nördlichen Ländern Europa's, also auch in unserer Heimath, nur verkrüppelte Exemplare von Eseln besitzt. Sie sind dort im Wachsthume verhindert und unansehnlich, bekommen weder Hafer noch sonst gute Fütterung, werden auf die schlechteste Weise behandelt, und sinken daher zu trägen und dumm aussehenden Geschöpfen herab. Das Klima ist bei uns viel zu kalt für den Esel. Im Süden von Frankreich dagegen, am mittelländischen Meere, in Spanien und Portugal, wo eine größere Wärme herrscht, da ist der Esel auch schon ein viel schöneres Thier. Um ihn jedoch in seinem vollen Glanze, in seiner eigenthümlichen Vollkommenheit zu sehen, müssen wir uns in die heiße Zone versetzen, nach Guinea, gerade unter den Aequator, wo die Sonnenstrahlen die glühendste Hitze ausströmen. Da ist der Esel in seinem angeborenen Vaterlande, da ist er ein schönes Geschöpf, voller Kraft und Muth, und flüchtig wie der Wind. Viele Schriften und Nachrichten stimmen darin überein, daß er das schnellste Geschöpf auf der ganzen Erde ist. Xenophon schon berichtet, daß sie auf den flüchtigsten Rossen wilde Esel gejagt hätten, ohne sie einholen zu können, und Thatsache ist es, daß in Asien, namentlich in Syrien und Palästina, die Esel in hohem Werthe stehen, und häufig sogar den Pferden vorgezogen werden. Man muß nur immer, ehe man über den Werth einer Thiergattung abstimmen will, dieselbe in ihrer ursprünglichen Heimath beobachten. Dann erst läßt sich ein genaues und gründliches Urtheil fällen.«

»Macht das Klima wirklich einen so gewaltigen Unterschied?« fragte William.

»Allerdings, mein Sohn,« erwiederte Herr Seagrave, »und dieß nicht allein bei Thieren, sondern auch bei den Bäumen, den Pflanzen und selbst bei dem Menschen, ehe er sich an den Wechsel gewöhnt hat. Der Laskar oder indische Matrose z. B. ist in den warmen, sonnigen Meeren seiner Heimath voller Leben, Thätigkeit und Kraft; sobald er aber in die nordischen Meere gelangt, wo er vor Kälte in seine Hände hauchen muß, wird er träge, mürrisch und trübsinnig, und ist kaum mehr zu gebrauchen. Viele Schiffe würden verloren sein, wenn sie in solchem Falle nicht eine genügende Anzahl heimischer Matrosen an Bord hätten. Bei alledem gibt es unter den Thieren einige Gattungen, die sich an die verschiedensten Veränderungen des Klima's, und selbst an den Wechsel des Futters zu gewöhnen vermögen. Zu diesen ist besonders das Pferd, das edelste Thier der Schöpfung, zu zählen. Obgleich es ursprünglich aus Arabien stammt, gedeiht es dennoch vortrefflich auch in der mäßigen und selbst in der kalten Zone. Es erträgt den harten Winter Rußlands und Nordamerikas, und ähnelt in diesem Punkte unseren übrigen Hausthieren, den Kühen, Schafen, Schweinen und andern. Eine merkwürdige Thatsache ist's übrigens, daß in Kanada während des Winters ein großer Theil der Nahrungsmittel dieser Thiere aus Fischen besteht.«

»Aus Fischen, Papa?« rief William verwundert. »Kühe fressen wirklich Fische?«

»Ja, Fische, mein Sohn, es verhält sich in Wahrheit so;« erwiederte Herr Seagrave. »Allerdings ist es ein seltsamer und höchst merkwürdiger Umstand, daß ein Gras fressendes Thier sich für einige Zeit in ein Fleisch fressendes, oder eigentlich in ein Fisch fressendes sich verwandeln kann.

Uebrigens gibt es noch andere Thiere, die in allen Klimaten leben können, wie der Wolf, der Fuchs, der Hase und das Kaninchen. Die Vorsehung beabsichtigte bei der Erschaffung ausdrücklich ihr Gedeihen unter allen Zonen, was augenscheinlich dadurch bewiesen wird, daß die Schafe und Ziegen z. B. in der heißen Zone ihre warme Bedeckung von Wolle abwerfen und dafür nur kurzes Haar bekommen; sobald sie jedoch in ein kaltes Klima zurück versetzt werden, unverzüglich auch ihren warmen Pelz wieder erhalten.«

»Die Ziegen haben ja aber doch keine Wolle, Vater?«

»Nicht? Woraus sind denn die berühmten Kaschemirshawls verfertigt, William?«

»Ach ja, das ist wahr, aus Ziegenwolle!«

»Die meisten Thiere,« fuhr Herr Seagrave fort, »bekommen einen immer dichtern Pelz, je weiter sie sich aus den wärmeren Klimaten in die kälteren zurückziehen. Wölfe, Füchse, Hasen und Kaninchen wechseln sogar die Farbe ihres Haares, und werden weiß, wenn sie im hohen Norden leben. Das große Wiesel oder Hermelin, das von den Jägern nur geschossen wird, um als ein Wahrzeichen ihrer Geschicklichkeit an das Hofthor genagelt zu werden, verändert sich in Rußland und andern kalten Himmelsstrichen zu dem hochgeschätzten Thierchen, das uns den kostbarsten Pelz, den schneeweißen, prachtvollen Hermelinpelz, die Prunkkleidung der Kaiser und Könige, liefert.«

»Welch' ein Vortheil ist es für den Menschen, und welch' ein lebendiges Zeugniß zugleich von Gottes Fürsorge und Güte, daß er allen Thieren, die irgend dem Menschen nützen können, in den verschiedensten Ländern zu leben gestattete! Und doch, lieber Vater, muß ich dir, obgleich es vielleicht unrecht ist, die Frage vorlegen, warum ein Raubthier, wie der Wolf, nicht gleich den Löwen, Tigern und Panthern, an ein besonderes Klima gefesselt ist?«

»Es freut mich, daß du die Frage geradezu aussprichst, William,« erwiederte der Vater. »Es ist besser so, als wenn du sie in deinem Inneren verschlossen hättest, wo sie dich vielleicht Monate lang beunruhigt haben würde.

So gewiß der Landmann ausruft, ›zu was sind denn die Disteln nütze und das viele Unkraut!,‹ eben so gewiß wird der Schäfer mit dir darin übereinstimmen, daß der Wolf eins der größesten Uebel sei. Aber trotzdem bin ich überzeugt, daß jedes Ding auf der Welt seinen Nutzen hat, obgleich das kurzsichtige Auge des Menschen ihn nicht immer zu erkennen vermag. Gesetzt den Fall aber, es wäre nicht zum Vortheile da, so dient es wenigstens zur Erinnerung an das erste Vergehen des Menschen. ›Dornen und Disteln soll die Erde tragen hinführo Deinetwillen, und im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brod essen!‹ So lautet der Ausspruch des Allmächtigen, und nur durch seiner Hände Arbeit vermag der Landmann seine Ernte zu erringen, nur durch Wachsamkeit kann der Schäfer seine Heerden bewahren. Wäre es anders, so würde der Landmann schlafen nach der Aussaat, und der Schäfer würde faulenzen, wenn er seine Schafe auf die Weide geführt hat. Arbeit aber ist an sich selbst schon eine Wohlthat, denn sie erhält dem Menschen die Gesundheit, ohne deren Besitz Freude und Vergnügen nicht denkbar sind.«

»Ich seh' es ein, Vater, und danke dir herzlich für die Erklärung,« sagte William. »Aber bitte, nun erzähle uns noch ein wenig von Thieren, die blos in einzelnen Himmelsstrichen und Klimaten fortkommen können.«

»Bei diesen ist hauptsächlich nur eine Bemerkung zu machen,« erwiederte Herr Seagrave, »nämlich, daß solche Geschöpfe stets der ganzen Eigenthümlichkeit ihrer Heimath angepaßt sind, und gerade nur dort ohne Mühe ihre Nahrungsmittel auffinden können. Betrachte z. B. das Kameel. Es scheint ganz ausdrücklich nur für sein ursprüngliches Vaterland erschaffen zu sein, indem ohne seine Hülfe alle Verbindung zwischen Asien und Afrika aufhören würde. Die Araber nennen es das Schiff der Wüste, weil die Wüste in der That ein großes Sandmeer genannt werden kann. Seine Füße sind so gebaut, daß es mit Leichtigkeit über den lockeren Boden hinweg zu schreiten vermag. Seine Nahrung besteht aus den schlechtesten Kräutern und Salzpflanzen, außer welchen die Wüste nichts hervorzubringen vermag. Und endlich besitzt es die in jenem Himmelsstrich unschätzbare und unentbehrliche Fähigkeit, in einem besondern Magen oder Behälter eine Menge Wasser zu seiner Erhaltung aufzubewahren. Es ist mit einem Worte ein Thier, das auf wunderbar zweckmäßige Weise gerade nur für jenen Himmelsstrich und für die Bedürfnisse der Bewohner desselben erschaffen worden ist. In irgend einem anderen Lande würde seine bewunderungswürdige Eigenthümlichkeit von gar keinem Werthe sein.«

»Gibt es wohl viele Thiere,« fragte William, »die dem Menschen gänzlich ohne Nutzen sind?«

»Viele allerdings, die ihm scheinbar nichts nützen, und viele sogar, die ihm schädlich und gefährlich sind. Letztere sind unser Erbtheil von dem bereits erwähnten Richterspruche Gottes, wir sind aber berechtigt, sie zu vertilgen und auszurotten, gleich den Disteln und Dornen auf dem Felde. Dienen sie übrigens dem Menschen auch nicht zu seinem Vortheile, so erhöhen sie doch die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Natur, und beweisen uns die unermeßliche Schöpferkraft des Höchsten.

In England sahest du eine Giraffe und bemerktest sogleich ihre höchst eigenthümliche Gestalt. Ihr Heimathland ist Afrika, wo sie von den Blättern und Zweigen der Mimosen lebt. Ohne ihren langen Hals, ihre hohen Vorderbeine würde es ihr aber nicht möglich sein, ihr Futter zu erreichen, und das Räthsel ihres sonderbaren Baues ist dir durch diesen Umstand ganz einfach gelöst. Die Mimose dient keinem Geschöpfe weiter zur Nahrung, als nur der Giraffe, so daß es beinahe scheint, als ob sie beide nur für einander geschaffen wären. Aber der Baum sowohl als das Thier erhöhen die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Natur, und beleben einen Theil der Erde, nach dessen Besitze der Mensch noch wenig begierig geworden ist.

Der Allmächtige erfüllte den Erdball mit lebendigen Wesen, die in Ruhe und Frieden ihr Stückchen Boden genießen. Aber der Mensch ist ihr Herr. Sobald er erscheint, müssen die Thiere entweder sich seiner Macht unterwerfen und ihm dienstbar sein, oder aber sie müssen ihm weichen und sich zurückziehen, wenn sie nicht dem Tode und der Vernichtung anheim fallen wollen. Solches ist der Wille des allmächtigen und wohlthätigen Schöpfers.

Doch es ist spät geworden, lieber William. Danken wir daher noch Gott für seine unendliche Gnade, und begeben uns dann unter seinem Schutze zur Ruhe!«

*


 << zurück weiter >>