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35. Kapitel.
Gottes Größe und Allmacht.

Wie Hurtig prophezeiht hatte, blieb das Wetter einige Tage hindurch schön, nachdem der wüthende Sturm einmal völlig ausgetobt hatte.

Juno, die der Blitz darnieder geworfen hatte, war einige Zeit kränklich und leidend; doch war sie vom Schrecken nicht so heftig angegriffen, daß sie nicht die gewöhnliche, leichte Arbeit hätte versehen können. Sie kochte das Mittagsessen, nähete und flickte die Kinderkleider, und machte sich auf diese Weise so nützlich, als es irgend anging.

Die wundervolle Rettung vom Tode hatte einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck auf das gute Mädchen gemacht. Sie war schon vorher immer fromm und gottesfürchtig gewesen, und hatte mit Aufmerksamkeit den Vorlesungen aus der Bibel und den Gebeten gelauscht; jetzt aber schienen ihr selbst die täglichen Morgen- und Abendandachten noch nicht genug. Oft schlich sie sich still auf die Seite, kniete unter einem Gebüsche, einer Palme nieder, warf ihr Angesicht in den Staub und dankte in stiller Andacht Gott für seine gnädige Obhut. Oefters sah Hurtig sie knieen, stellte sich aber, als ob er es nicht bemerke. Mehr als einmal jedoch sprach er zu sich selbst im Vorübergehen: »Wahrlich, wahrlich, ein besseres Herz schlägt unter der schwarzen Haut da, als unter mancher weißen, und seine Empfindungen gefallen Gott nicht minder, als die Empfindungen der Großen auf Erden. Vor ihm sind wir Alle gleich.«

Das Wetter hielt sich wider Vermuthen mit geringen Unterbrechungen vierzehn Tage hindurch heiter und ungetrübt, und Herr Seagrave, Hurtig und William benutzten es, an dem angefangenen Magazine vom Morgen bis zum Abende fleißig zu arbeiten, um dasselbe, wenn irgend möglich, fertig zu bauen. So oft sie aber auch Abends nach Hause gingen, waren sie Alle so todtmüde, daß selbst William den alten Robinson nicht um die Fortsetzung. seiner Geschichte bat.

Endlich war das Magazin ausgebaut und stand fertig da. Das Dach hatten sie mit Palmblättern gedeckt, und die Wände auf drei Seiten mit festem Flechtwerk versehen. Die vierte Seite aber war offen geblieben, um der freien Luft ungehinderten Zutritt zu verschaffen. Der untere Theil des Gebäudes war ebenfalls auf drei Seiten mit Kokoszweigen eingefriedigt, und wurde, so lange die Regenzeit dauerte, zu einer Hürde für die Ziegen und Schafe bestimmt. Dieser Zufluchtsort war für die armen Thiere höchst angenehm. Der Weg nach dem Magazine war ebenfalls schon, und zwar im Zickzack, durch den Wald ausgehauen worden; doch hatten sie aus Mangel an Zeit einstweilen die Baumstümpfe stehen lassen müssen. Die Vorräthe, welche von der jenseitigen Küste der Insel bereits herüber gebracht waren, wurden in dem neuen Magazine aufgestapelt, und als dieß Geschäft ebenfalls beendigt war, konnte man wieder an etwas Anderes denken. Der Tag jedoch, welcher der endlichen Vollendung des Magazines folgte, sollte nach allgemeiner Bestimmung als ein außerordentlicher Rasttag gefeiert werden, und diese kurze Ruhe hatte gewiß Jeder redlich verdient. William fing einige Fische, und Robinson warf eine Schildkröte auf den Rücken, und transportirte sie vermittelst des Karrens nach Hause. Die köstlichen Speisen wurden auf das Vortrefflichste zubereitet, und unsere Freunde feierten auf solche Weise nicht nur einen Rasttag, sondern verwandelten ihn zugleich in ein Fest.

Während Robinson der Negerin die Schildkröte zerlegen half, ging Herr Seagrave mit der Mutter und den Kindern an die Bucht hinab, zeigte ihnen auf dem Spaziergange das neue Magazin, und ließ zugleich die Ziegen mit den vier kleinen Zicklein dort, da man sie nun nicht mehr im Hause gegen das Wetter zu schützen brauchte.

Der Tag schaute so lächelnd und wunderschön vom Himmel nieder, daß unsere Freunde beschlossen, auch den Garten zu besuchen. Sie kamen hin, fanden aber, daß die Sämereien, trotz des vielen Regens, noch immer nicht aufgegangen waren.

»Das wundert mich,« sagte Madame Seagrave; »ich habe geglaubt, der Regen würde die Pflanzen hervortreiben.«

»Nein, liebe Frau,« entgegnete Herr Seagrave, »die zarten Keime, die jetzt noch in der schwarzen Erde ruhen, bedürfen mehr des Sonnenscheins als des Regens. Sobald die nasse Jahreszeit, die nicht gar zu lange mehr dauern wird, vorüber ist, sprossen sie gewiß frisch und grün und erfreulich in die Höhe.«

Sie schritten weiter, und gelangten auf einen kleinen Hügel, dessen Gipfel bereits ganz trocken erschien. Hier setzten sie sich nieder. Madame Seagrave ergriff ihres Gatten Hand, drückte sie freundlich in der ihrigen, und sprach weiter: »Nimmermehr hätte ich geglaubt, daß ich mich jemals auf einer verlassenen Insel so glücklich fühlen könnte. Wie schnell flieht uns die Zeit dahin! Früherhin würde ich den Verlust von guten Büchern sehr schmerzlich empfunden haben, jetzt aber denke ich kaum daran, weil es uns in der That an Zeit fehlen würde, uns mit ihrem Inhalte vertraut zu machen.«

»Beschäftigung und zweckmäßige Anwendung der Zeit ist die reine und nie getrübte Quelle alles Glückes,« erwiederte Herr Seagrave. »Ein thätiger, fleißiger Mensch, vorausgesetzt, daß er nicht zu schwere, seine Kräfte übersteigende Arbeit verrichten muß, wird immer zufrieden sein, und in der Arbeit selbst eines Unglückes vergessen können. Ja, ich behaupte, daß sogar überhäufte Geschäfte dem Nichtsthun vorzuziehen sind, da ein fauler Mensch nimmer den Frieden und die Ruhe der Seele zu erlangen vermag.«

»Aber, lieber Vater,« sagte William, »wir werden nicht immer so viel zu thun haben, wie jetzt.«

»Nein, mit der Zeit allerdings nicht,« erwiederte Herr Seagrave. »Dann aber werden wir unsere Bücher haben, von denen jedenfalls einige Kisten voll gerettet sind, und sie werden uns eine reichlich sprudelnde Quelle von Belehrung und Unterhaltung bieten. Ich sehne mich wirklich nach einem Gange auf die andere Seite der Insel, um zu erfahren, was uns geblieben, was uns verloren gegangen ist. Doch muß dieser Wunsch unterdrückt werden, bis die Regenzeit vorüber ist und wir das Boot wieder gebrauchen können. Aber, Tommy, was thust du da?«

»Ich mache kleine Käfer todt,« erwiederte Tommy; »sieh' nur, ich habe schon eine ganze Menge umgebracht.«

»Aber warum tödtest du sie? Sie thun dir ja nichts, Tommy!«

»Ich kann die Käfer nicht leiden, Vater!«

»Das ist kein Grund, Tommy, die armen Geschöpfe ihres Lebens zu berauben. Ein anderes wär' es, wenn sie dich bissen oder stächen! dann dürftest du sie tödten, nicht aber aus bloßem Muthwillen. Sage mir, Tommy, wer hat diese Käfer gemacht? Wer hat Alles, was du siehst, erschaffen?«

»Der liebe Gott,« erwiederte der Knabe nach kurzem Bedenken.

»Ja, Gott erschuf sie, damit sie sich ihres Lebens freuen mögten, er erschuf Alles, was da lebt und athmet, und gab die Thiere und Pflanzen in unsere Gewalt zu unserem Gebrauch. Nicht aber gab er sie uns, daß wir seine Güte mißbrauchen, und sie aus bloßem Uebermuth tödten sollen. Hast du mich verstanden, Tommy?«

»Ja, aber Juno bringt doch die Fliegen um, wo sie nur welche fangen kann,« erwiederte der Knabe.

»Allerdings thut sie das,« sagte Herr Seagrave, »aber nur, weil es zuweilen nothwendig ist, nicht aber, weil sie sonst nichts zu thun hätte. Merke dir das, Tommy, und du, William, erinnere dich stets, daß alle Thiere Gottes Geschöpfe sind. Sieh' nur einmal das kleine Insekt, das auf meinem Finger hinkriecht – welch' eine Menge Füße es hat!«

»Ich habe solche Thierchen schon abgebildet gesehen,« erwiederte William. »Wie wunderbar rasch es mit seinen haarfeinen Füßchen dahin läuft! Es ist wirklich wundervoll!«

»Wie Alles in der Schöpfung!« entgegnete Herr Seagrave. »Schaue umher, wo du willst, überall wirst du erstaunen, und Stoff zur Betrachtung finden. Nichts kann uns einen besseren Begriff von der unergründlichen Allmacht und Größe Gottes verleihen, als die erschöpfende Sorgfalt, die er auch für das kleinste und unbedeutendste Wesen in der Welt beweist. Dieß unansehnliche Thierchen hier, ist es nicht mit derselben Sorgfalt erschaffen, als alle übrigen lebenden Wesen? Diese haarfeinen Füßchen, die man kaum sehen kann, haben sie nicht ihre Muskeln und Sehnen, ist nicht jeder andere Theil seines Körperchens eben so vollkommen und wundervoll eingerichtet, als unser eigener Organismus? Sein Wille rief es in's Leben, und wir selber müssen uns klein und machtlos erscheinen, wie ein Insekt, wenn wir uns mit der Größe und Allmacht des liebevollen Gottes vergleichen.«

»Betrachte auch, William,« fuhr der Vater fort, »die unendliche Mannigfaltigkeit von Gottes Schöpferkraft, welche du selbst bei Gegenständen gleicher Art, gleicher Form und Gestalt tausendfältig wahrnimmst. Millionen von Menschen sind von Urbeginn der Welt an geboren und gestorben; sah man jemals zwei Gesichter, zwei Gestalten, die vollkommen gleich und ähnlich gewesen wären? Sieh' die Tausende von Blättern auf ein und demselben Baume an; findest du je zwei Blätter von völlig übereinstimmender Form und Beschaffenheit? Nimmer, und wenn du hundert Jahre mit hundert Augen suchtest.«

»Das ist wahr,« sagte William. »Aber doch gibt es einzelne Thiergattungen, die sich so sehr ähneln, daß ich keine Verschiedenheit unter ihnen wahrnehmen kann. Schafe zum Beispiel.«

»Ganz recht,« erwiederte der Vater. »Du findest keinen Unterschied, weil du die Thiere nicht genau untersucht hast. Frage aber einmal den Schäfer. Er wird dir jedes einzelne Schaf mit Namen nennen, und sein Eigenthum unter tausend Heerden herauszufinden wissen; denn in Allem, was Gott schuf, findet man eine gränzenlose Mannigfaltigkeit. Merke noch darauf, mein Sohn, wie wenig die Werke des menschlichen Fleißes sich an Vollkommenheit mit den einfachsten Schöpfungen Gottes vergleichen können. Sieh' diese kleine Blume an, betrachte die Schönheit, den Glanz ihrer Farbe, ihre Form, und sieh' umher, in welcher verschwenderischen Fülle Myriaden dieser Blumen der Erde entsprießen, um ihre Oberfläche zu schmücken. Trotz ihrer Menge sind sie Alle vollkommen und ohne Makel. Wie schön spricht Christus und wie wahr, wenn er ausruft: ›Siehe die Lilien des Feldes, sie weben nicht und spinnen nicht, und dennoch sage ich Euch, daß selbst Salomo in all' seiner Herrlichkeit nicht so prächtig geschmückt war, wie eine von diesen!‹«

»Ja, William,« sagte der alte Hurtig, der mittlerweile sich zur Familie gesellt hatte, »ja, ich habe das Alles, was dein Vater sagt, schon in meiner Unwissenheit dunkel gefühlt, und mir oft die Worte Hiobs in's Gedächtniß gerufen, wo er spricht: ›Wenn ich nachdenke und betrachte, so erfüllet mich Ehrfurcht!‹«

»Das Merkwürdigste in der ganzen Schöpfung aber,« fuhr Seagrave fort, »das ist ihre unwandelbare und unverrückte Ordnung. Ueberall und in jedem Dinge, mein Sohn, mögen wir unsere Augen zum Himmel erheben, oder tief in die Klüfte der Erde hinab dringen, überall herrscht Ordnung, und Alles wird von bestimmten Gesetzen regiert, denen nimmer zuwider gehandelt werden kann. Ordnung herrscht in dem regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten, in Ebbe und Fluth, im Laufe der Sonne und Sterne, in den Fähigkeiten der Thiere, in der Lebensdauer aller Geschöpfe, vom Elephanten an, der da hundert Jahre und drüber lebt, bis zur Eintagsfliege, die geboren wird und wenige Stunden nachher ihr kurzes Dasein wieder beschließt.

Selbst die leblose Natur ist diesen unabänderlichen Gesetzen unterworfen. Metalle, Felsen, Erden, Alles, was dem Gestein angehört, bildet sich nach den ewigen Grundsätzen der Ordnung, und weicht nimmer von den ihm uranfänglich bestimmten Formen ab. Ordnung herrscht im Entstehen, Ordnung im Vergehen alles Erschaffenen, wohin du auch blicken mögest, und der große erhabene Schöpfer leitet Alles einfach und ohne Mühe. Er, der die Sterne des Himmels schuf und ihnen ihre ewigen und unwandelbaren Bahnen vorschrieb, er herrscht gewaltig über Alles, und seinem Winke folgen die Welten und was darinnen ist.«

»Vater,« sagte William, »noch nie habe ich die funkelnden Sterne der Nacht erblickt, ohne ein stilles Gebet zu Gott empor zu senden, denn sie leuchten herrlich und wunderbar – aber geordnet stehen sie nicht.«

»So scheint es, mein Sohn,« erwiederte Herr Seagrave. »Wir vermögen ihre Ordnung nicht zu enträthseln, weil sie nicht in gleichen Zwischenräumen am Himmel stehen. Aber bedenke ihre verschiedene Entfernung von unserer Erde, und über welchen endlosen Raum sie zerstreuet sind. Bedenke, daß unsere kleine Erde nur ein Theil, ein Atom des ganzen Weltalls ist, und daß die Sterne unverrückt und unveränderlich immer und ewig die gleichen Bahnen durchlaufen. Dem Seemanne helfen Sie das pfadlose Meer zu durchkreuzen, dem Astronomen die Jahreszeiten zu bestimmen. Meinst du, dieß wäre möglich, wenn nicht auch das Sternenheer in unverrückter Ordnung dahin wandelte?«

»Vater,« fragte William, »du sagtest eben, unsere Erde sei nur ein Theil des Weltalls; wie meinst du das?«

»William, unsere geringen Kenntnisse sind nur auf unsere Erde beschränkt; doch wissen wir so viel, daß sie Einer von den zahlreichen Planeten ist, welche unsere Sonne umkreisen. Ich sage, unsere Sonne, weil tiefe und ernste Forschungen annehmen lassen, daß alle die Fixsterne und Myriaden Sternchen, die wir zum Theil gar nicht mit bloßen Augen sehen können, Sonnen sind, die eben so hell und prächtig leuchten, wie die unsrige, und eben so, wie sie, andern uns nicht sichtbaren Planeten Licht und Wärme verleihen. Gibt dir dieß nicht eine Ahnung von der unendlichen Macht und Herrlichkeit Gottes?«

»Es schwindelt einem bei diesen Betrachtungen, wenn man sich lange in sie vertieft,« sagte Madame Seagrave.

»Ja, liebe Frau,« erwiederte der Vater; »doch muß ich noch erwähnen, daß einige weise Männer, deren Herzen von der Größe und Herrlichkeit des erhabenen Baumeisters der Welten ganz durchdrungen waren, muthmaßten: es müsse in dem Raume, den diese Sonnen durchkreisen, die wir so scheinbar unordentlich am Himmel zerstreut sehen, einen Mittelpunkt geben, von welchem aus man sie Alle symmetrisch in wunderbarer Schönheit und Pracht geordnet schauen könne. In tönenden Kreisen sehe man sie dort ihre harmonischen Bahnen ziehen, in wundervoller und gewaltiger Einheit und Ordnung. Und wo anders mag dieser Mittelpunkt sein, als in dem Himmel, in dessen verklärten Räumen wir einst aufgenommen zu werden hoffen?«

Nachdenklich schwiegen auf diese Worte Alle ein wenig still. Endlich sprach William: »Ich hörte einmal, Vater, daß es Leute gäbe, welche nicht an das Dasein der Gottheit glauben. Wie ist das möglich? Wenn sie nur um sich schauen, und die Werke Gottes zu erforschen suchen, so müssen sie ja Christen werden.«

»Das nicht, mein Kind,« erwiederte Herr Seagrave. »Die Erforschung der Werke Gottes wird sie wohl zu guten und frommen Menschen, nicht aber gerade zu Christen machen. Und das laß' uns nicht Kümmerniß bereiten; denn auch unter Juden, unter Türken und Heiden findest du gute Menschen, denen die Liebe Gottes nicht mangelt. Alle Menschen sind seine Kinder, und Alle liebt er und läßt sie eingehen zu seiner Herrlichkeit, wenn sie seinen Willen thun und seine Gebote befolgen in Tugend und Frömmigkeit.«

Hiemit endigte das Gespräch, und Alle kehrten nachdenklich und mit Herzen voll Liebe zu Gott in das Haus zurück.

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