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31. Kapitel.
Der alte Hurtig beginnt die Erzählung seiner Lebensgeschichte.

Da noch vom Hausbaue her eine Menge Blätter und Zweige zerstreut auf der Erde umherlagen, so hatte Herr Seagrave mit William bald ein hinreichendes Bündel davon gesammelt, und band es auf den Karren., um mit seinem Sohn zur Bucht hinab zu fahren. Bei ihrer Ankunft fanden sie den alten Hurtig bereits vor. Er hatte das Boot schon an's Ufer geschafft und die Walzen zurecht gelegt, auf welchen es höher an den Strand hinauf gezogen werden sollte. Sie griffen Beide tüchtig mit an und entfernten es etwa zehn Klafter weit vom Meeresstrande. Hier hielten sie es für völlig gesichert und unterhöhlten nun den Boden unter dem Fahrzeuge, bis es ziemlich zur Hälfte in den Sand hineingesunken war. Hierauf umgaben sie es ringsum bis an den Bord mit Haufen Sandes, drückten dieselben fest an und bedeckten dann das Boot selbst mit Zweigen und Blättern, die hoch mit Sande überschüttet wurden, damit sie der Wind nicht hinweg wehen konnte.

»Warum thut Ihr das, Hurtig?« fragte William. »Der Regen kann doch dem Boote keinen Schaden thun.«

»Der Regen nicht, lieber Junge,« erwiederte Robinson, »wohl aber die Sonne, wenn sie darauf brennt. Bei heiterem Himmel besitzen ihre Strahlen eine furchtbare Kraft und würden unfehlbar den Planken des Bootes so tiefe Risse beibringen, daß es nachher in Stücke zerfallen würde.«

»Richtig!« rief William. »Daran habe ich nicht gedacht. Aber was machen wir nun?«

»Wir haben noch zwei Stunden Zeit bis zum Mittagsessen,« entgegnete Hurtig. »Die könnten wir benutzen, Fische zu fangen. Spring' hin, William, und hole die Angeln.«

»Aber wir haben nur zwei,« warf Herr Seagrave ein, »und mit denen können wir unmöglich alle drei fischen.«

»Das wollen wir auch nicht, lieber Herr Seagrave,« entgegnete Robinson lächelnd. »Aber da William schon recht gut Bescheid weiß, so sollen Sie mit ihm hier bleiben, während ich, damit es uns nicht an Feuerung fehle, ein bischen Holz und Spähne für Juno sammeln will. Heute Morgen war das arme Mädchen übel dran, weil alles Holz so naß war; aber es trocknet bald, wenn es ein Weilchen, vor dem Regen gesichert, aufgeschichtet liegt. Sein Sie nur ein wenig vorsichtig beim Angeln, Herr Seagrave, und halten Sie die Schnur nicht zu fest mit der Hand, damit Sie nicht in's Wasser gerissen werden. Den William habe ich zwar schon einmal deßwegen gewarnt, aber es kann doch nicht schaden, wenn Sie auch auf ihn ein wachsames Auge haben. Der kleine Schelm ist noch so jung und so ungeduldig.«

Im Weggehen traf Robinson mit William, der mit den Angeln zurückkehrte, zusammen, schärfte ihm noch einmal Vorsicht ein, indem er ihn an die früher überstandene Gefahr erinnerte, und begab sich dann an seine Arbeit.

Herr Seagrave und William warfen indeß die Angeln aus und wurden sehr vom Glücke begünstigt. Ehe noch zwei Stunden vergangen waren, hatten sie acht große Fische gefangen und trugen sie, gleich einer Fahne an einem Bootshaken befestigt, nach Hause. Als Tommy sie erblickte, brach er in ein lautes, jubelndes Geschrei aus und verlangte stürmisch einige zum Mittagsessen. Man gab seinem Wunsche nach und beschloß, die Tafelstunde zu verschieben, bis ein Theil des Fanges abgekocht sein würde. Er war ja reichlich genug ausgefallen, und es zogen ja doch auch alle Uebrigen die Fische dem eingesalzenen Fleische vor, woraus nun so lange beinahe ihr einziges Nahrungsmittel bestanden hatte.

Kaum hatten sich unsere Freunde zu ihrer Mahlzeit niedergesetzt, als wie gestern der Regen plätschernd auf das Dach des Hauses niederschlug, und zugleich ein so gewaltig brausender Sturm, von Blitzen und Donnerschlägen begleitet, losraste, daß sogleich für heute alle Hoffnung auf Arbeit außer dem Hause aufgegeben werden mußte. So gingen also Madame Seagrave und Juno wieder an ihr Geschäft mit Nadel und Faden, und Hurtig suchte auch für die Uebrigen Arbeit herbei zu schaffen. Herr Seagrave und William bekamen ein dickes Tau auseinander zu zupfen, aus dessen Fäden Robinson dünnere Stricke, die ihnen in der jetzigen Lage brauchbarer waren, drehen wollte; Tommy mußte einen in einander verschlungenen Bindfadenknäuel entwirren, und Hurtig selber beschäftigte sich damit, in verschiedene leinene Vorhänge, welche er in aller Geschwindigkeit zugeschnitten hatte, Nestellöcher zu nähen, damit man sie nach Gefallen auf- und zuziehen könne. Als er damit fertig war, und die Gardinen aufgezogen hatte, nahm er ein großes Bündel unter dem Divan hervor, und sagte, indem er es aufband:

»Nun will ich die Bettstelle unserer guten Madame Seagrave ein wenig ausschmücken; denn sie muß nothwendiger Weise ein bischen schöner werden, als die unsrigen.«

Er langte aus dem Bündel die zwei großen Flaggen vom Pacific heraus, und breitete sie auseinander. Die eine war von schöner rother Farbe, die andere gelb und mit dem Namen des Schiffes versehen, der mit großen schwarzen Buchstaben darauf gemalt war. Diese Flaggen nahm Hurtig, und schmückte damit die Bettstelle so zierlich und geschmackvoll aus, daß nicht nur diese ein äußerst gefälliges und freundliches Aussehen bekam, sondern sogar auch die ganze rauhe Wand des Gemaches vortrefflich verdeckt wurde.

»Ich muß gestehen, Hurtig,« sagte Madame Seagrave, als Robinson fertig war, »daß Ihr mich durch diesen Schmuck unseres Zimmers sehr erfreut und überrascht habt. Er nimmt sich wirklich ganz wunderhübsch aus, und die Flaggen reichen auch gerade für diesen Zweck prächtig hin.«

»Es ist der beste Gebrauch, den wir vor der Hand davon machen können, liebe Madame Seagrave,« erwiederte der alte Mann freundlich.

»Ja, ja, das ist wohl wahr,« sagte Herr Seagrave gedankenvoll; »aber das betrübt mich eben, und macht mir das Herz schwer.«

»Robinson,« sagte William, als man die Kerzen angezündet hatte, »Robinson, Ihr habt mir vor einiger Zeit das Versprechen gegeben, uns Eure Lebensgeschichte zu erzählen, und ich mögte wohl, daß Ihr heute Abend damit anfinget. Es ist so recht die schönste Zeit dazu.«

»Ja, William, ich sagte es, und will auch mein Versprechen halten,« erwiederte Hurtig. »Wenn Ihr die Geschichte angehört habt, so werdet Ihr, und dieß mit vollem Rechte sagen, daß ich zu meiner Zeit ein recht thörichter Mensch gewesen bin. Aber das soll mich nicht abhalten, sie zum Besten zu geben; denn ich denke, sie mag jedenfalls Euch Kindern zur Warnung dienen, und auf diese Weise von einigem Nutzen sein. So hört mir denn geduldig zu.«

Alle setzten sich zurecht und lauschten aufmerksam. Der alte Hurtig aber sann ein paar Minuten nach, und begann darauf seine Erzählung, wie folgt.

Geschichte des alten Robinson.

»Vor allen Dingen, liebe Kinder, werdet Ihr gern erfahren wollen, wer meine Eltern waren; und das ist bald genug erzählt. Mein Vater war Kapitän eines guten Kauffahrteischiffes, das alljährlich regelmäßige Fahrten von South Shields nach Hamburg machte, und meine Mutter, die Gott segnen möge, war die Tochter eines Infanteriehauptmanns auf halbem Sold, der etwa zwei Monate nach ihrer Verheirathung starb. Das kleine Vermögen, welches der alte wackere Mann meiner Mutter hinterließ, schlug mein Vater zu dem seinigen, und betheiligte sich mit der ganzen Summe als Mitbesitzer an demselben Kauffahrer, den er seither kommandirt hatte. Ein Drittel davon gehörte nun ihm selbst, die andern zwei Drittel aber einem reichen Schiffsbaumeister, Namens Robinson.

Mein Vater stand sich bei diesem Geschäfte anfänglich sehr gut. Er hatte sein Drittheil Gewinn von dem Ertrage der Schiffsladungen, und bezog dabei immerwährend seinen Gehalt als Kapitän des Fahrzeuges fort.

Der erwähnte Herr Robinson, der große Stücke auf meinen Vater hielt, da er durch dessen redliche Bemühungen und gute Leitung des Schiffes viel Geld verdient hatte, war bei der Hochzeit meiner Eltern zugegen gewesen, und hatte sich sogar ein Jahr später, als ich zur Welt gekommen war, freiwillig zu meinem Taufzeugen angeboten. Alle Welt glaubte, dieser Umstand könne mir einst in späteren Jahren sehr zum Vortheile gereichen, und viele Leute wünschten meinen Eltern Glück dazu.

Herr Robinson nämlich war ein alter, beinahe sechszigjähriger Junggesell, hatte nach seinem Tode für keine nähere Verwandte zu sorgen, und konnte, so sehr er auch sein vieles Geld liebte, dasselbe doch auf keinen Fall mit in's Grab nehmen, wenn er einmal gestorben war. So hielt man mich denn für seinen Erben, und glaubte mich zu einem glücklichen und sorgenfreien Leben ausersehen.

Aber es dauerte nicht lange, so wurde allen diesen weltlichen Hoffnungen ein Ende gemacht.

Ich war kaum ein Jahr alt, da strandete das Schiff meines Vaters an den Sandbänken des Texel, und ging unter mit Mann und Maus. Mein armer Vater selber ertrank in den Wellen, und ließ seine junge Frau mit ihrem kaum entwöhnten kleinen Kinde als eine trostlose und unglückliche Wittwe zurück.

Man bedauerte ihr Schicksal allgemein, glaubte aber, daß sie keine Noth zu leiden haben würde, da das Schiff zu zwei Drittel seines Werthes versichert gewesen war. Zu allgemeinem Erstaunen jedoch wußte Herr Robinson zu beweisen, daß gerade nur sein Eigenthum, d. h. seine zwei Drittel am Schiffe vor der Abfahrt versichert worden seien, und daß meine Mutter daher von der Versicherungs-Summe nicht einen Schilling für sich ansprechen könne.«

»Was versteht man unter Versichern und Versicherung, Vater?« unterbrach William den alten Robinson.

»Es bestehen jetzt in vielen Ländern Assekuranz- oder Versicherungs-Anstalten, mein Sohn,« erwiederte Herr Seagrave. »Will Jemand sein Schiff versichern, so bezahlt er an die Assekuranten eine gewisse Abgabe, welche nach der muthmaßlichen Gefahr, der das Schiff bei seiner Reise ausgesetzt ist, festgesetzt wird. In Kriegszeiten z. B. bezahlt man zehn Procent von der Ladung, d. h. von hundert Thalern oder Gulden, zehn Thaler oder Gulden. Nehmen wir an, es versichert Jemand sein Schiff mit hunderttausend Thalern, so muß er zehntausend an die Assekuranz-Gesellschaft bezahlen, und empfängt dafür einen Schein. Geht nun aber das Schiff unter, so erhält er auch seine ganze Versicherungs-Summe von hunderttausend Thalern durch die Gesellschaft bei Heller und Pfennig ausbezahlt, und hat auf diese Weise verhältnißmäßig nur einen unbedeutenden Schaden erlitten. Verstehst du das?«

»O ja, lieber Vater,« entgegnete William. »Doch ist mir unbegreiflich, wie die Assekuranten bei diesem Geschäfte bestehen können.«

»Das erklärt sich von selbst, William, wenn du bedenkst, daß von fünfzig, hundert und mehr Schiffen kaum eines zu Grunde geht, dessen Werth ersetzt zu werden braucht, wohingegen alle glücklich durchgekommenen Schiffe ihre Abgabe bezahlen müssen. Doch ich bitte um Verzeihung, Hurtig, daß ich Eure Erzählung unterbrach.«

»Oh, das hat nichts zu sagen, Herr Seagrave,« sagte Hurtig. »Wir dürfen keine Gelegenheit vorübergehen lassen, die Knaben zu belehren, und überdies; gestehe ich, daß Sie mir selber erst jetzt das Wesen der Assekuranzen recht deutlich gemacht haben. Ich war bisher nicht so ganz im Reinen damit. Aber nun wollen wir in unserer Geschichte weiter fortfahren.

Niemand wußte und konnte beurtheilen, in wie weit die Behauptung meines Pathen, des Herrn Robinson, richtig war oder nicht. Doch erfuhr ich später, daß alle Welt Schande und Schmach über ihn schrie, und daß man ihm von vielen Seiten mit großer Verachtung begegnete. Jedermann meinte, daß er einst viel zu verantworten haben würde, wenn er in der That die arme und hilflose Wittwe betrogen habe, und vielfach wendete man die Worte der heiligen Schrift auf ihn an, die da sagt: Nur der ist ein frommer und gottesfürchtiger Mann, der da die Wittwen und Waisen unterstützt, und seinen Namen rein und unbefleckt erhält vor den Augen Gottes und der Menschen.

Mein Pathe kümmerte sich um all' das nicht. Er zog sein Geld ein, und ließ meine arme Mutter, die nun fast gänzlich der Mittel zu ihrem Lebensunterhalte beraubt war, im Elende schmachten. Zum Glücke fanden sich andere Freunde, die sie unterstützten. Dazu war sie fleißig, arbeitete Stickereien, die sie zu guten Preisen verkaufte, und brachte sich auf diese Weise ehrlich und rechtschaffen durch die Welt, bis ich mein achtes oder neuntes Jahr erreicht hatte.«

»Aber that denn Euer Pathe Robinson gar nichts für Eure Mutter, Hurtig?« fragte Herr Seagrave.

»Nein, lieber Herr, gar in der Welt nichts,« erwiederte Hurtig. »Mag sein, daß ihm die Schmähungen der Leute, welche viel darüber sprachen, zu Ohren gekommen sind, und er vielleicht deßhalb meine Mutter nicht unterstützte, weil er sie fälschlicher Weise für die Quelle jener Schmähungen ansah; mag sein auch, daß ihn sein böses Gewissen davon abhielt, sich wohlthätig gegen sie zu beweisen. Wie Sie wissen, meiden und schmähen wir lieber Alle, die wir beleidigt haben, anstatt daß wir mit unserem eigenen Herzen rechten und zanken sollten.«

»Ja, ja, das ist leider eine alte und traurige Wahrheit,« sagte Herr Seagrave. »Bei alledem aber wundert es mich doch, daß er so ganz und gar nichts für Euch that.«

»Es wunderte damals noch mehr Leute, und blieb nicht ungerügt, lieber Herr,« erwiederte Hurtig. »Doch lassen Sie mich weiter berichten.«

»Ich war mit der Zeit ein starker, rühriger und dreister Bursche geworden, und trieb mich lieber am Meeresstrande und am Bord von Schiffen umher, als daß ich die Schule besucht und den Ermahnungen meiner Mutter Gehör gegeben hätte. Alles, was zum Seewesen gehörte, hatte für mich eine ganz besondere Anziehungskraft, und im Sommer brachte ich oft halbe Tage im Wasser zu, um mich im Schwimmen zu üben und zu vervollkommnen. Meine Mutter bemerkte diese Neigung gar bald, und versuchte alles Mögliche, ihr eine andere Richtung zu geben. Sie erzählte mir unzählige Geschichten von unglücklichen Seefahrern, beschrieb mir die Gefahren von Sturm und Klippen mit den lebhaftesten Farben, und endete immer mit dem Tode meines Vaters und einer unaufhaltsamen Fluth von Thränen, die über ihre bleichen Wangen herabströmten.

Unsere Natur ist eine seltsame und verkehrte Natur. Hätte meine Mutter mir nicht unaufhörlich vom Seewesen abgerathen, wär' es mir wahrscheinlich gar nicht eingefallen, wirklich zur See zu gehen. So aber stachelten ihre Ermahnungen meinen Trotz auf, und ich beharrte mit einem wahrhaft kindischen Starrsinne auf meinem Vorhaben. Dazu war ich von Natur sehr wagehalsig und verwegen. Was ein anderer Knabe that, that ich auch, und übertraf ihn wohl sogar durch Wagnisse, die Niemand den Muth hatte, mir nachzuthun. Hundert Mal hätte ich mein Leben dabei verlieren können; daß es nicht geschah, muß ich noch heute für ein Wunder Gottes halten. Meine arme Mutter erfuhr nur zu häufig von den Gefahren, in welche ich tollkühner Bube mich gestürzt hatte, und bat mich oft, besonnen und vernünftig zu werden. Ich aber war damals jung und thöricht, und die Ermahnungen meiner Mutter fruchteten nichts. Das machte ihr vielen Kummer, und häufig sah ich sie über mich weinen und hörte, wie sie in stillem Gebete Gottes Schutz für mich anflehte. Trotzdem blieb ich selbstsüchtig und gefühllos, und bedachte nicht, daß ich böser Bube die einzige Hoffnung und Stütze meiner armen Mutter war. Ich fühlte damals leider nicht, wie sündhaft es ist, seinen Eltern Kummer zu bereiten. In späteren Jahren aber erfüllte es mich mit Scham und mit Reue.«

»Ja, das geht oft so, Hurtig,« sagte Madame Seagrave. »Wenn die Kinder immer wüßten, wie tief und bitter sie ihre Eltern durch unartiges Betragen und bösen Muthwillen kränken, so würden sie sicherlich besser und tugendhafter werden.«

Der alte Hurtig zuckte die Achseln und sagte: »Sie sehen es ein, aber leider gewöhnlich erst dann, wenn es zu spät ist.«

Hierauf erzählte er weiter: »Ich war noch nicht viel über neun Jahr alt, als eines Tages bei stürmischem Wetter ein Schiff von seinem Ankerplatze hinweg geschleudert wurde. Das Tau, an welchem es befestigt war, zerriß, traf einen Mann, der am Rande des Ufers stand, und riß ihn mit sich fort in das Wasser. Ich vernahm sein Angstgeschrei, und sah, wie die Leute auf den Schiffen und am Ufer ihm Taue zuwarfen, damit er sie ergreifen und an's Land gezogen werden könne. Auf den ersten Blick bemerkte ich jedoch, daß der Mann ein schlechter Schwimmer war und zu Grunde gehen mußte, wenn ihm nicht andere Hilfe zu Theil wurde. Die Wellen gingen hoch und die Gefahr war groß. Dennoch warf ich meine Jacke ab, ergriff eins von den Tauen und sprang entschlossen in's Wasser. Wie eine Ente schwamm ich zu dem Verunglückten hinüber, und gab in dem Augenblicke, wo er untergehen wollte, ihm das Tau in die Hand. Er faßte es mit der verzweifelten Kraft eines Ertrinkenden, wurde sofort dem Ufer zu gezogen, und in ein Boot gebracht, das man wenige Augenblicke vorher vom Stern eines der Fahrzeuge herabgelassen hatte. Ich klimmte ihm nach, und wir wurden Beide in ein nahegelegenes Gasthaus und zu Bette geschafft, bis man für trockene Kleider gesorgt hatte. Und nun erkannte ich, daß der Mann, den ich mit Gefahr meines eigenen Lebens gerettet hatte, mein Pathe, Herr Robinson war.

Alle Leute lobten mich aus Leibeskräften, und priesen meine That, die, wie ich ohne Eitelkeit sagen kann, für einen so jungen Knaben wirklich eine kühne That war. Die Matrosen geleiteten mich triumphirend nach Hause in die Arme meiner Mutter, die mir weinend vor Freude um den Hals fiel, und in stammelnden Worten Gott für meine Rettung dankte.«

»Aber tadelte sie Euch nicht um der Gefahr willen, in die Ihr Euch begeben hattet, Hurtig?« fragte William, die Erzählung unterbrechend.

»Nein William,« erwiederte Robinson. »Sie wußte, daß ich nur meine Pflicht erfüllte, indem ich das Leben eines Nebenmenschen rettete, und freute sich auch wohl still im Innersten ihres Herzens, daß ich Böses mit Gutem vergolten hatte, obgleich sie dieß nicht aussprach. – Genug, am nächsten Tage sprach mein Herr Pathe Robinson bei uns vor, und schaute ein wenig verwirrt und verlegen drein, als er sein Pathchen, das er so lange vernachlässigt hatte, zum ersten Male nach vielen Jahren wieder begrüßte. Meine Mutter, in Betracht, daß er mir nützen könne, begrüßte ihn freundlich; in mir aber war durch so Vieles, was ich über ihn und seine Handlungsweise gegen meine Eltern erfahren hatte, eine so große Abneigung wider ihn rege geworden, daß ich ihn nur mit der eisigsten Kälte aufnehmen und behandeln konnte. Ich freute mich zwar darüber, ihm das Leben gerettet zu haben; doch muß ich zugleich zu meiner Schande bekennen, daß es nicht die reine Freude über eine gute That war, sondern einzig und allein das süße Rachegefühl, einem Manne, der mich so übel behandelt hatte, Verpflichtungen der Dankbarkeit auferlegt zu haben. Du magst daraus schließen, William, daß mit diesem Gefühle das Verdienst meiner That dahin war, indem ich das Aufwallen meines stolzen Bewußtseins als ein guter Christ und bescheidener Mensch hätte unterdrücken und verdammen, nicht aber ihm mit Wonne und Triumph nachhängen sollen.

Herr Robinson las vielleicht auf meinem Gesichte, was in meiner Seele vorging, und kürzte daher seinen Besuch so viel wie möglich ab. Doch versprach er meiner Mutter, in der Zukunft für mich zu sorgen, und mich in seinem Geschäfte zu einem tüchtigen Schiffsbaumeister auszubilden, sobald ich die Schule verlassen haben würde. Einstweilen aber wolle er alle Kosten meines Unterhaltes und Unterrichtes bezahlen.

Meine Mutter war ihm für seine Versprechungen sehr dankbar, und schloß mich, als Herr Robinson sich entfernt hatte, mit Freudenthränen in ihre Arme. ›Nun bin ich glücklich!‹ rief sie aus; ›denn du wirst nun nicht, wie ich fürchtete, das sichere Land verlassen, um dich den trügerischen Wellen des Oceans anzuvertrauen, da dein Geschäft dich für immer an's Ufer fesseln wird!‹

Ich war vergnügt, weil ich sie fröhlich sah, und dachte über ihre Worte weiter nicht nach. Herr Robinson aber hielt Wort, wie ich, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erwähnen muß. Er schickte meiner Mutter von Zeit zu Zeit eine Summe Geldes, und verbesserte auf diese Weise ihre häusliche Lage. Sie empfing Glückwünsche von ihren Bekannten, war fortwährend recht heiter und vergnügt, und behandelte mich, den sie für den Urheber ihres Glückes ansah, mit der größten mütterlichen Liebe und Zärtlichkeit.«

»Nun, das muß Euch doch herzlich gefreut haben, Hurtig!« sagte William.

»Ja, es erfreute mich, machte mich aber auch zugleich übermäßig stolz und hochmüthig,« erwiederte Hurtig. »Nimmer vermogte ich es über mich, gegen Herrn Robinson freundlich und zuvorkommend zu sein. Meine Abneigung wider ihn war schon zu tief eingewurzelt, und der Gedanke, daß meine Mutter Wohlthaten von ihm annahm, daß er Schulgeld und dergleichen für mich bezahlte, peinigte mich unerträglich. So jung ich war, steigerte sich doch von Tage zu Tage mein lächerlicher Hochmuth immer mehr, und, obgleich meine Mutter fortwährend glücklich war, fühlte doch ich selbst mich sehr bald unglücklich und unbehaglich. Dazu kam, daß ich in eine bessere Erziehungs-Anstalt versetzt wurde, und daselbst in Gesellschaft von andern Knaben den ganzen Tag zubringen mußte. Alle meine früheren Belustigungen waren mir entzogen worden. Ich durfte nicht mehr auf den Werften und Stapelplätzen umherschweifen, nicht mehr an Bord eines Schiffes gehen, nicht mehr meine Glieder im Kampfe mit den Wellen des Meeres erfrischen und stärken. Jetzt freilich sehe ich ein, daß dieß zu meinem Besten gereichte; damals aber war ich weit entfernt davon, dergleichen vernünftige Betrachtungen anzustellen. Ich wurde unzufrieden und fühlte mich elend, blos weil ich gezwungen ward, auf meine Lectionen Acht zu geben, anstatt wie bisher meinen eigenen Weg gehen zu können.

Der Schullehrer beklagte sich endlich über mich, und in Folge dessen ließ Herr Robinson mich zu sich bescheiden und schalt mich tüchtig aus. Das machte mich erst recht aufsäßig; ich wurde noch unfolgsamer und unartiger, als bisher und mußte zuletzt, auf den Wunsch des Herrn Robinson, eine körperliche Züchtigung erleiden. Nun war vollends Alles vorbei. Ich haßte Herrn Robinson aus Leibeskräften und beschloß, heimlich auf und davon zu laufen, und ohne Weiteres in See zu gehen.

Du siehst, lieber William,« unterbrach Hurtig seine Erzählung, »daß ich zu jener Zeit übel berathen war, wie alle Knaben, die übermüthig und thöricht sich einbilden, Alles besser zu verstehen, als ihre Erzieher. Laß uns einmal betrachten, was ich durch mein unsinniges Betragen muthmaßlich verscherzte. Ich sage muthmaßlich nur deßhalb, weil Niemand mit Gewißheit Etwas voraussehen und bestimmen kann. Nach vernünftiger Berechnung aber läßt sich annehmen, daß mir eine gute Erziehung zu Theil geworden wäre, daß ich die beste Aussicht hatte, der Nachfolger Herrn Robinsons in seinem Geschäfte zu werden, und daß ich wahrscheinlich, wenn ich mich geziemend betrug, sein ganzes großes Vermögen geerbt haben, und ein reicher, angesehener Mann, umgeben von allen Behaglichkeiten und Genüssen des Lebens, geworden sein würde. Vielleicht wäre ich jetzt ein glücklicher Gatte, ein glücklicher, sorgenfreier Familienvater, anstatt daß ich nun nichts bin, als ein armer, alter, hilfloser, verwitterter Seemann auf einer öden und verlassenen Insel.

Ich setze dir dieß Alles nur auseinander, William, um dir zu zeigen, daß ein einziger verkehrter und thörichter Schritt in der Jugend auf das ganze folgende Leben den unglücklichsten Einfluß ausüben kann, und daß wir oft durch eben diese Thorheit gezwungen werden, gegen die Strudel des Unglücks anzukämpfen, wo wir ganz sanft und ruhig mit dem Sturme des Glückes hätten dahin gleiten können.«

»Und das ist eine gute und praktische Lehre, für die ich Euch herzlich Dank sage, Hurtig,« sprach ernst Herr Seagrave.

»Sie ist gut gemeint zum wenigsten,« erwiederte Hurtig. »Doch will ich mit all' meinem Geplauder nicht sagen, daß ich mit meinem Schöpfer hadere und mich unglücklich fühle, was unrecht und sündlich sein würde; sondern nur, daß ich jetzt meine Irrthümer bereue und zur Genüge einsehe, wie thöricht ich in meiner Jugend gehandelt habe. Es lebt ja ein gnädiger und allmächtiger Gott im Himmel, der über uns verfügt, wie es ihm gut dünkt, und mit aufrichtigem und dankbarem Herzen spreche ich zu ihm: ›Herr, dein Wille und nicht der meinige möge geschehen!‹«

»Für uns wenigstens, Hurtig,« sagte Madame Seagrave gerührt, ist Euer Mißgeschick zu einer unübersehbaren Wohlthat geworden; denn bedenkt, wäret Ihr nicht zur See gegangen, nicht bei uns an Bord des verlassenen Pacific geblieben, was hätte mit uns geschehen, wie hätte unser Schicksal sich wenden mögen?«

»Ja, es liegt ein Trost in dem Gedanken, liebe Madame Seagrave, daß ich alter, in der Welt umhergeschleuderter Seefahrer Ihnen von einigem Nutzen sein konnte,« entgegnete bescheiden Robinson Hurtig und wandte sich dann an Herrn Seagrave, indem er sagte: »Es wird wohl gut sein, für heute meine Erzählung zu schließen und die Fortsetzung auf morgen Abend zu verschieben. Schon ist die Nacht tief herein gebrochen und die Zeit zum Schlafengehen ist gekommen.«

»Ganz wie es Euch gefällt, werther Freund,« erwiederte Herr Seagrave beifällig. »Bringe die Bibel, William.«

Die Bibel wurde geholt und als das Abendgebet gesprochen war, begaben sich alle zur Ruhe und schliefen sanft und fest bis zum folgenden Morgen.

*


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