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8. Kapitel.
Robinson Hurtig beruhigt und tröstet.

Alles ist gut, Sir,« sagte Robinson zu Herrn Seagrave. »Lassen Sie uns denn dem Vater droben danken für seine gnädige Führung.«

Der alte Mann kniete unter freiem Himmel auf dem Verdecke nieder, entblößte ehrfürchtig sein graues Haupt und sandte ein stummes, aber inniges und tief gefühltes Gebet zum Throne des Ewigen empor. Herr Seagrave, und selbst Juno und die Kinder, welche anfangs mit großen Augen das Beginnen des alten Seemanns angestaunt hatten, folgten sofort seinem Beispiele, knieten an der Seite des Vaters nieder und beteten mit ihm. Eine tiefe, feierliche Stille herrschte auf dem verwüsteten Wrack, eine lautlose, aber innige Rührung hatte sich Aller Herzen bemächtigt und sprach sichtlich aus den thränenfeuchten Blicken und den bewegten Zügen aller Versammelten.

Als sie sich von den Knien erhoben und wieder aufstanden, kam eben William auf das Verdeck und meldete seinem Vater, daß die Mutter erwacht sei und ihn zu sprechen wünsche. Sofort begab sich Herr Seagrave in die Kajüte.

»Ein seltsames Krachen und Brechen hat mich aus dem Schlafe geweckt und mich sehr erschreckt,« sagte Madame Seagrave ängstlich zu ihrem Gatten. »Ich bitte dich, sage mir, was geschehen ist?«

»Beruhige dich, liebes Weib,« erwiederte Herr Seagrave sanft, »die Gefahr ist glücklich überstanden, und wir befinden uns, wie ich zu Gott hoffe, Alle in Sicherheit. Aber wie geht es dir? Fühlst du dich jetzt besser, als bevor du einschliefest?« setzte er ablenkend hinzu.

»Gewiß, viel besser und kräftiger,« erwiederte Madame Seagrave. »Aber bitte, sage mir, was vorgefallen ist; denn irgend etwas Außergewöhnliches muß geschehen sein, ich kann nicht ruhig werden, ehe ich nicht von Allem unterrichtet worden bin.«

Da Herr Seagrave seine Gattin so kräftig sah, und sie nicht länger ihrer unnöthigen Besorgniß überlassen wollte, so beschloß er, sie ohne Weiteres mit den verschiedenen Neuigkeiten bekannt zu machen.

»Es ist gar Mancherlei geschehen, was dir bisher verborgen bleiben mußte,« sagte er daher so ruhig wie möglich. Wenn du dich hinreichend wohl befindest, so wollen wir recht bald an das Land gehen, wo du Alles erfahren sollst.«

»An das Land gehen, lieber Mann?« fragte Madame Seagrave verwundert.

»Ja, an's Land, mein Kind,« antwortete Herr Seagrave. »Höre mich nur an; denn wenn du es wünschest, will ich dir auch sogleich ausführlich erzählen, was uns Alles, während du im ruhigen Schlafe lagest, begegnet ist.«

Madame Seagrave lauschte schweigend und gespannt, und erfuhr nun ohne Rückhalt die sämmtlichen Begebnisse der letzten Stunden. Sie wurde heftig davon erschüttert, warf sich ihrem Mann in die Arme und brach in einen Strom der bittersten Thränen aus. Herr Seagrave tröstete und beruhigte sie nur mit Mühe, und wich nicht von ihrer Seite, bis Juno, da es schon ziemlich spät geworden war, mit den Kindern herabkam. Jetzt erst verließ er sie und begab sich zu Robinson Hurtig auf das Verdeck, um mit ihm über die ferner vorzunehmenden Geschäfte Rath zu halten.

»Lieber Herr,« sagte der alte wackere Bootsmann, »ich habe fleißig ausgeschaut, und denke, daß wir alle Ursache haben, dem lieben Gott für seinen Beistand dankbar zu sein. Unser Wrack sitzt unerschütterlich fest und kann sich nicht von der Stelle rühren, wenn es nicht etwa ein heftiger Sturm in Trümmer zerschlägt. Dergleichen ist jedoch für's Erste nicht zu befürchten; denn das bischen Wind, das jetzt weht, legt sich bereits, und morgen früh werden wir vermuthlich völlige Windstille haben.«

»Gern will ich zugeben, daß uns für den Augenblick keine Gefahr bedroht,« erwiederte Herr Seagrave. »Aber auf welche Weise können wir an's Ufer gelangen, und wie wird es uns ergehen, wenn wir auch glücklich und unversehrt drüben angekommen sind.«

»Lassen Sie nur mich machen,« sagte Hurtig. »Ich bedarf weiter nichts, als Ihrer und Williams Hilfe, um das kleine Boot dort vom Stern hierher zu bringen, damit ich es ein wenig ausbessern kann. Es ist freilich ganz zerschlagen und mitgenommen, aber ich verstehe genug von der Zimmermannskunst, um es mit Hilfe eines Stückes gut betheerter Leinwand wenigstens so weit wasserdicht zu machen, daß es uns hinüber bis an das Ufer trägt. Späterhin wollen wir es dann besser wieder zurecht flicken; jetzt müssen wir aber, sobald der morgende Tag grauet, an's Land.«

»Und was dann, wenn wir am Ufer sind?« fragte Herr Seagrave bekümmert.

»Tragen Sie keine Sorge,« entgegnete Hurtig wohlgemuth. »Wo so viele Kokosbäume wachsen, da hat es keine Noth um's Sattessen, selbst wenn wir keine Lebensmittel mehr auf dem Wracke hätten. Davor bangt mir nicht, aber vor dem Wassermangel bangt mir, weil die Insel so niedrig, so ungemein niedrig ist. Aber gleichviel! Wir können nicht erwarten, in unserer Lage Alles auf's Schönste und Beste zu finden, und mögen Gott danken, daß wir vor der Hand wenigstens gerettet sind.«

»Ja, ich danke Gott von ganzem Herzen für unsere Rettung, guter Hurtig,« erwiederte Herr Seagrave. »Dennoch aber beschweren noch immer düstere und bittere Gedanken mein Herz, die ich trotz aller Anstrengung nicht zu unterdrücken vermag. Seht, lieber Freund, wir sind da nun an eine unbewohnte, öde Insel geworfen worden, der sich, wie es allen Anschein hat, selten oder nie ein Schiff nähern wird. Wie sollen wir nun jemals wieder von dem Eilande befreit werden? Keine Hoffnung auf einstige Erlösung kann uns beglücken, und unser Schicksal wird sein, hier, fern von Allem, was wir kennen und lieben, leben und sterben zu müssen. Unsere Kinder werden heranwachsen; sie werden alt und grau werden; sie werden Vater und Mutter und Euch und Juno begraben, um endlich auch selber, unbeweint und vergessen, in ein trauriges Grab zu sinken. Alle Hoffnungen, die ich auf meine, auf ihre Zukunft baute, sind zusammen gestürzt, alle Aussichten auf ein glückliches, sorgenfreies Leben sind vernichtet und in trübes Dunkel gehüllt – sagt selbst, wo soll ich die Freudigkeit hernehmen, ein so trauriges und grausames Loos mit Fassung zu ertragen?«

»Herr Seagrave,« erwiederte Robinson Hurtig, mißbilligend sein graues Haupt schüttelnd, »Herr Seagrave, in Vergleich mit Ihnen bin ich ein alter Mann, und darf mir daher wohl einmal herausnehmen, Ihre Gesinnung ein wenig zu tadeln. Ich muß Ihnen sagen, lieber Herr, daß ich es wirklich nicht recht finde, wenn Sie sich solchen grollenden und mürrischen Gedanken hingeben. Sagt denn nicht schon Hiob: ›Wie? soll ich nur Gutes vom Herrn empfangen und nicht auch das Ueble?‹ Und dann, wissen Sie denn schon, ob nicht vielleicht aus dem jetzigen scheinbaren Uebel das größte Glück für Sie erblühen kann? Vermögen Sie die Zukunft zu durchschauen und vorauszusehen, was aus Ihnen und Ihren Kindern geworden wäre, wenn Sie nun auch wirklich Sidney glücklich erreicht und Ihre weltlichen Pläne ausgeführt hätten? Ja, ja, ich weiß wohl, die Aeltern versprechen sich immer nur Gutes von ihren Kindern, so lange diese noch klein und hilflos sind; aber gehen wohl ihre Hoffnungen immer in Erfüllung? Werden ihre Erwartungen nicht häufig getäuscht? Wer weiß denn, ob nicht gerade diese jetzige Heimsuchung Gottes Ihre Kleinen vor einem größeren Uebel, vielleicht vor einem frühen Tode in der Blüthe ihres Lebens, vor künftiger Entsittlichung, vor bitterem Undanke gegen Sie und Ihre Frau bewahrt hat? Wer weiß das? Wer kann das wissen und darüber urtheilen? Kein Mensch, lieber Herr Seagrave, kein lebendiges, erschaffenes Wesen! Gewiß, ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, wenn ich Sie beleidigt haben sollte, lieber Herr; aber sehen Sie, ich konnte nicht anders, ich mußte einmal von der Leber weg reden, und hoffe, Sie werden es mir nicht übel deuten, da es wahrlich nur gut und ehrlich gemeint ist!«

»Nein, nein, Hurtig,« erwiederte Herr Seagrave ohne alle Empfindlichkeit und reichte dem frommen, schlichten Seemann seine Rechte; »nein, ich sehe ein, daß Eure Vorwürfe gerecht sind und danke Euch dafür. In Zukunft sollt Ihr mich nicht mehr murren hören, und ich will mich bemühen, von Allem, was uns begegnen möge, nur das Beste zu denken.«

»Und auf Ihren Gott zu vertrauen,« fiel Hurtig mit kräftiger Stimme ein. »Auf Ihren Gott, der Sie jederzeit Ihren Freunden und Verwandten zurückgeben und Ihre Heerden und Hirten in's Tausendfache vermehren kann, wenn es sein heiliger Rathschluß für gut befindet.«

»Ei, Ihr gebraucht da, in Betracht, daß alle meine Güter aus Heerden und Hirten bestehen, ein sehr passendes Gleichniß, Robinson,« sagte Herr Seagrave mit lächelnder Miene. »Doch nun genug davon; da wir uns für die Zukunft allen Euern Anordnungen zu fügen und Euern Befehlen zu gehorchen haben, weil Ihr allein bei den jetzigen Umständen rathen und helfen könnt, so sagt mir, ob wir in dieser Nacht noch Etwas thun und vornehmen können.«

»Sie nicht, lieber Herr, aber ich will noch ein wenig arbeiten,« entgegnete der alte Hurtig. »Doch halt! Sie könnten mir diese beiden Sparren nach hinten schaffen helfen. Ich will dann noch ein Paar Spieren auftakeln und fertig machen, damit wir sie gleich aufhissen können, wenn wir morgen früh das Boot in's Wasser bringen. Bei unseren geringen Kräften müssen wir uns schon tüchtig daran halten, Herr Seagrave.«

Die Sparren wurden nach hinten gebracht und auf den erforderlichen Platz gelegt. Dann bat Hurtig Herrn Seagrave hinab zu gehen und den kleinen William zu veranlassen, die Hunde los zu binden und zu füttern, da man die armen Thiere in der Noth und Drangsal ganz vergessen habe.

»Ich selber will diese Nacht Wache halten,« fügte er hinzu; »denn ich habe noch alle Hände voll zu thun und gar Mancherlei zu überlegen. Gute Ruhe, Herr Seagrave! Schlafen Sie wohl!«

Herr Seagrave begab sich in die Kajüte, während der alte Hurtig an sein Geschäft ging, die Sparren fest band und das Takelwerk für den nächsten Morgen in Ordnung brachte. Als Alles gut und mit Sorgfalt geschehen war, setzte er sich ruhig hinten auf das Hühnerhaus und war bald in tiefe Gedanken versunken. Endlich aber behaupteten auch bei ihm Alter und, Erschöpfung ihre unabweislichen Rechte, und der alte brave Mann versank in einen ruhigen, erquickenden Schlummer.

Der Tag dämmerte herauf, als er von den Hunden, die ihm Gesicht und Hände beleckten, aus seinem Schlafe gestört wurde. Er erhob sich, klopfte den schwanzwedelnden, munter bellenden Geschöpfen freundlich Kopf und Rücken und sagte: »Ihr fröhlichen Bursche werdet uns wohl noch ganz gute Dienste leisten, wenn ich mich recht auf Euch verstehe. Aber jetzt haltet Euch ruhig und weckt mir die Kinder nicht aus dem Schlafe mit Eurem mörderlichen Gebell. Kusch dich, Vixen! kusch, armer Kerl! Du hast einen guten Herrn verloren, gelt? Ja, ja, thust mir herzlich leid, alter Bursche!«

Die Hunde schwiegen und Hurtig schaute achtsam auf dem Verdecke umher.

»Nun will ich sehen, was es zu thun gibt,« murmelte er vor sich hin. – »Zuerst, dächte ich ... aber halt! Vor allen Dingen will ich das Logbrett und ein bischen Kreide holen und mir Alles, was an's Ufer zu schaffen ist, aufschreiben, weil mein alter Kopf dazu doch kein so gutes Gedächtniß mehr hat, wie in früheren Zeiten wohl.«

Er holte das Logbrett, legte es auf den Hühnerstall und malte mit der Kreide großmächtige Buchstaben darauf, während er von Zeit zu Zeit ein Paar Worte dazwischen murmelte.

Schreibend: »drei Hunde, zwei Ziegen und der junge Bock Billy;« – (murmelnd: »Schweine werden wir wohl fünf haben!«) – Schreibend: »fünf Schweine; eine ganze Menge Hühner; drei oder vier Tauben;« – (murmelnd: »so viel sind ihrer gewiß!«) – schreibend: »die Kuh –« (murmelnd: »das arme Vieh hat sich niedergelegt und will nicht wieder aufstehen; es wäre Jammerschade, wenn wir sie schlachten müßten;«) schreibend: »einige Schafe, die dem Herrn Seagrave gehören; ein ächter Merinowidder; Lebensmittel in Menge;« (murmelnd: »ja, das ist so weit Alles ganz gut; was wir aber zunächst an's Land bringen müssen, wenn wir erst selber drüben sind, das ist eine Spiere und ein Bramsegel, damit wir gleich ein Zelt aufschlagen können; dann ein oder zwei Bündel Stricke, ein Paar Matratzen für die gute kränkliche Frau und die Kinderchen; zwei Aexte, Hammer, Nägel, ein bischen zu essen – ja und auch ein Paar Messer zum Brodschneiden! – So, das wird es für's Erste schon thun, und nun will ich ein Feuerchen anmachen, Wasser aufsetzen, ein Paar Stücke Schweinefleisch und Rindfleisch kochen und ein bischen drüber nachdenken, was wir sonst noch Alles an's Ufer mitnehmen können! Vor allem Andern aber muß ich Herrn Seagrave wecken; denn ich denke mir so, es wird heute ein hartes Tagewerk setzen! Gott gebe seinen Segen dazu!«)

Er stand auf, legte die Kreide bei Seite und ging hurtig, wie immer, an's Geschäft.

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