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63. Kapitel.
Nächtlicher Angriff.

Das Jammern und Wehklagen der Kinder wurde bald nach einbrechender Dunkelheit von dem Geheule der Wilden übertönt, welche, wie Hurtig vermuthet hatte, zu einem nächtlichen Angriffe heran rückten.

Zu gleicher Zeit wurden alle vier Seiten der Pallisaden bestürmt, und die Wilden bemühten sich aus allen Kräften, sie zu übersteigen und in den Hofraum einzudringen. Nur wenige Spieße durchpfiffen die Luft, und augenscheinlich lag es am Tage, daß die Indianer das Eindringen durch ihre große Uebermacht erzwingen wollten. Jetzt bewährte sich aber die Vorsicht Hurtigs, die Pallisaden durch die angenagelten Planken um ein Ansehnliches zu erhöhen, auf das Trefflichste; denn ohne diese Vorrichtung würde es dießmal den Wilden unfehlbar gelungen sein, ihren Zweck zu erreichen. Ehe noch das Feuer, das Juno auf Hurtigs Befehl anzündete, hinreichendes Licht verbreitete, waren schon drei oder vier Wilde an den Pallisaden empor geklettert, wurden aber ohne Barmherzigkeit von William und Herrn Seagrave herunter geschossen, sobald sie nur den obern Rand der Planken erreicht hatten.

Als vollends erst das Feuer recht hell brannte und die Nacht mit Tageshelle erleuchtete, konnten die draußen stehenden Indianer um so sicherer auf's Korn genommen werden, und eine große Menge mußte den Versuch, die Pallisaden zu übersteigen, mit dem sicheren Tode büßen. Dennoch dauerte der Angriff länger als eine Stunde; die Wilden zogen sich erst, als sie von der Nutzlosigkeit jedes Sturmes auf das Blutigste überzeugt worden waren, langsam und heulend zurück, und schleppten, wie das erste Mal, alle ihre Todten und Verwundeten mit sich fort.

»Jetzt hoffe ich zuversichtlich, daß sie sich wieder einschiffen und die Insel verlassen werden!« sagte Herr Seagrave zu Hurtig, indem er den Schweiß von seiner Stirn wischte, und sich tief athmend auf den Lauf seiner Flinte stützte.

»Ich wünsche das nicht weniger, als Sie, und halte es auch nicht für unmöglich,« erwiederte Hurtig, während ein Lächeln der Hoffnung seine pulvergeschwärzten Züge erhellte. »Doch läßt sich noch immer nichts Bestimmtes darüber sagen, und ich denke, es wäre gut, wenn wir uns so eine Art von Lug' in's Land einrichteten, um die Bewegungen und Handlungen der Indianer in Sicherheit beobachten zu können.«

»Die Kokospalme da,« fuhr er fort, indem er auf einen der Bäume deutete, an welchen die Pallisaden befestigt waren, »ist schlanker gewachsen, als die übrigen, und ließe sich deßhalb leicht zu diesem Zwecke benutzen. Wir brauchen nur, in gleichen Zwischenräumen von etwa einem Fuß, lange und starke Nägel hinein zu schlagen, und könnten sie dann immer schnell und mit Leichtigkeit besteigen. Von ihrer Krone aus gewinnen wir eine Uebersicht über die ganze Gegend und die Bay, und wissen dann jederzeit, wie wir mit den Wilden daran sind.«

»Ja, das ist wahr!« erwiederte Herr Seagrave. »Aber wird nicht jeder Hinaufklimmende den Speeren der Wilden zu sehr ausgesetzt sein?«

»O nein, lieber Herr!« entgegnete Hurtig. »Sehen Sie, die Bäume rings um die Pallisaden her sind bis in solche Entfernung niedergehauen, daß kein Wilder nahe kommen kann, ohne bei Zeiten gesehen zu werden. Man wird immer Zeit genug haben, herab zu steigen, ehe der Feind im Stande ist, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.«

»Ihr habt Recht, Hurtig!« stimmte Herr Seagrave bei. »Doch würde ich die Einrichtung keinesfalls vor Anbruch des Tages treffen, da immer noch einige von den Wilden unter den Pallisaden auf der Lauer liegen könnten.«

»Das wäre allerdings möglich, Herr Seagrave, und deßwegen wollen wir bis zum nächsten Morgen warten. Es freut mich nur, daß wir noch eine hinreichende Menge solcher großen Nägel im Vorrathe haben!«

Herr Seagrave begab sich jetzt in das Haus, und Hurtig redete auch seinem Lieblinge William zu, daß er sich ein paar Stunden niederlegen und schlafen mögte. Er selber wolle indessen Wache halten, und erst des Morgens, wenn Herr Seagrave wieder herauskäme, ebenfalls eines kurzen Schlummers genießen.«

»Ich kann nicht schlafen, Hurtig!« erwiederte William. »Der Durst martert mich zu sehr.«

»Armer Junge, das ist freilich eine große Qual!« sagte Hurtig mitleidsvoll. »Ich selber schmachte nach einem Tropfen Wasser, und wie erst werden die armen Kinder leiden müssen! Sie dauern mich am allermeisten!«

»Mich dauert meine Mutter am meisten,« entgegnete William, »Zeuge von der schrecklichen Qual ihrer Kinder sein zu müssen, ohne auf irgend eine Weise helfen zu können, das muß ein marterndes Gefühl für ein Mutterherz sein.«

»Ja, William, da hast du Recht, es ist wirklich gräßlich!« erwiederte Robinson. »Aber nur Geduld! Morgen schon sind vielleicht die Wilden fort, und dann werden wir leicht alle unsere Entbehrungen vergessen.«

»Ich will zu Gott hoffen, daß es so kommen mag,« antwortete William. »Aber ich glaube nicht daran, da es wirklich scheint, als ob diese Kannibalen fest entschlossen wären, uns zu ermorden.«

»Freilich, Eisen gilt dem Indianer so viel, als dem Europäer das Gold!« sagte Hurtig. »Wir müssen ruhig abwarten, wie die Geschichte abläuft! Jedenfalls aber, William, lege dich jetzt nieder und ruhe ein wenig aus, selbst wenn du nicht schlafen könntest.«

Mittlerweile war Herr Seagrave in's Haus getreten, und kam da zu einer traurigen Scene. Die Kinder schrieen und riefen nach Wasser, Madame Seagrave suchte sie, aber ohne allen Erfolg, auf jede Weise zu trösten und zu beschwichtigen, und beugte sich endlich, als gar nichts helfen wollte, weinend und fast verzweifelnd über den kleinen Albert hinweg, ohne sich mehr um irgend Etwas zu kümmern.

Juno war in der schwachen Hoffnung hinausgegangen, vielleicht unter der Erde Wasser zu finden. Aber so tief sie auch grub, es blieb vergeblich, und traurig und trostlos kehrte sie endlich zurück.

Hier war keine Hilfe mehr möglich, als einzig und allein Geduld! Aber wer konnte von so kleinen Kindern solche heroische Geduld erwarten? Nur die kleine Karoline hielt sich standhaft; sie ließ schweigend ihr Köpfchen hängen und klagte nicht.

Zwei volle Stunden verweilte Herr Seagrave bei seiner Gattin, unterstützte sie bei dem Beruhigen der Kinder, und strengte sich mit fast übermenschlicher Kraft an, ihr Gemüth aufzurichten, und ihr neue Hoffnung, neue Zuversicht auf Gottes Hilfe einzuflößen. Als ihm dieß Bestreben endlich einigermaßen gelungen war, begab er sich wieder hinaus, und fand den alten Hurtig auf der Wache.

»Hurtig,« sagte er, »hundert Mal lieber mögte ich von den Wilden angegriffen werden und auf Tod und Leben kämpfen, als drinnen im Hause nur fünf Minuten den Jammer meiner armen Frau und Kinder mit anschauen. Es ist wirklich eine wahre Pein, sie leiden zu sehen!«

»Ja, ja, das glaube ich gern, lieber Herr,« versetzte Robinson. »Aber richten Sie Ihr Gemüth auf und hoffen das Beste! Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die Wilden nach dieser zweiten Niederlage die Insel verlassen werden.«

»Ach, Hurtig, wenn wir das hoffen dürften, das würde mich glücklich machen!« erwiederte Herr Seagrave. »Aber ich wage es kaum, daran zu glauben; es wäre zu viel Glück! Uebrigens will ich Euch jetzt bei der Wache ablösen, alter Freund! Wollt Ihr nicht ein paar Stunden schlafen?«

»Ja, das will ich, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Seagrave. In zwei Stunden rufen Sie mich wieder. Es ist dann Tag, ich kann die Palme zum Lug in's Land zurecht machen, und Sie selber können dann auch ein wenig Ruhe genießen.«

»Nein, Hurtig, ich glaube nicht, daß ich werde schlafen können; mein Herz ist zu sehr beängstigt.«

»Das lassen Sie nur gut sein, lieber Herr! William sagte auch, er wäre zu durstig zum Schlafen, und jetzt schlummert er so fest, wie ein Ratz, der arme Bursch.«

»Wenn uns nur der Knabe erhalten wird, Hurtig!«

»Wir wollen's hoffen, Herr Seagrave, denn er ist wahrlich ein gar wackerer und braver Junge. Der Allmächtige möge ihn beschützen! Gute Nacht, lieber Herr!«

»Gute Nacht, Hurtig! Schlaft süß!«

Herr Seagrave kletterte auf das Plankengerüst, und überließ sich seinen Betrachtungen, die nicht eben, wie man sich leicht vorstellen kann, erheiternder Art waren. Bei alledem beugte er sich demüthig unter den Willen des Himmels und murrte nicht wider den Allmächtigen; denn durch die Schule des Unglücks, die er hatte durchlaufen müssen, war sein Gemüth gestählt und gekräftigt worden.

Er betete, betete heiß und inbrünstig zu Gott, und flehte ihn an, daß er alle Gefahr und alles Leid, womit sie bedrohet würden, von ihrem Haupte abwenden möge. Das Gebet machte ihn ruhiger und verlieh seiner Seele Kraft und Stärke. Mogte auch das Schlimmste zum Schlimmen kommen: er vertraute auf den Schutz und die Fürsorge dessen, der die Sterne aufrollt, wie ein Gewand, und Alles ordnet, wie es am Besten ist.

Mit Tagesanbruch erwachte Hurtig, begab sich wieder zu Herrn Seagrave, und löste ihn ab. Herr Seagrave ging jedoch nicht in das Haus hinein, sondern warf sich auf die Kokoszweige nieder, wo Hurtig an William's Seite gelegen hatte.

Als Hurtig Hammer und Nägel hervorgesucht hatte, rief er William zu seinem Beistande herbei, bat ihn, Wache zu halten und auf die Annäherung der Wilden zu achten, während er die Nägel in den Baum einschlüge, und machte sich dann ohne Zögern an die Arbeit. In weniger als einer Stunde hatte er den Wipfel des Baumes erreicht, und genoß nun, dicht unter der blätterreichen Krone, eine vollständige Uebersicht über die Bay und das Innere des Landes. William klimmte nach ihm hinauf, überblickte die ganze Gegend und kehrte dann zu Hurtig zurück.

»Ich habe Alles gesehen, Hurtig!« sagte er. »Die Wilden haben das alte Haus niedergerissen, und liegen nun, mit ihren Kriegsgewändern bedeckt, jenseits desselben an der Erde umher. Die Kanoe's halten noch am Ufer, und einige Frauen laufen in ihrer Nähe am Strande herum.«

»Sie haben ohne Zweifel das Haus nur niedergerissen, um die eisernen Nägel zu bekommen,« versetzte Hurtig. »Hast du nichts von ihren Todten gesehen?«

»Nein, ich habe nicht danach ausgeschaut, will aber gleich noch einmal auf die Palme hinauf. In ein paar Minuten bin ich oben! Aber, Hurtig, meine Lippen brennen, sie sind aufgeschwollen, und ihre Haut schält sich ab. Ich hatte früher wirklich nicht einen Begriff davon, wie schrecklich der Mangel an Wasser sein kann. Tommy ist gewiß schon mehr als genug für seinen Lichtsinn bestraft.«

»Ein Kind denkt nicht an die Folgen seiner Thorheiten, William, und wir Uebrigen konnten nicht voraus sehen, daß er durch die Vergeudung des Wassers solches Elend über uns bringen würde. Es war eben ein unbesonnener Jugendstreich von Tommy, und was auch die Folgen davon sein mögen – wir dürfen es nicht anders betrachten und müssen Tommy verzeihen.«

»Ich dachte ein paar Kokosnüsse auf dem Baume zu finden,« sagte William; »aber es sind keine da.«

»Sie würden dir auch nichts geholfen haben, lieber Junge, da sie in jetziger Jahreszeit keine Milch mehr enthalten. Wenn übrigens die Wilden nicht heute noch absegeln, so muß irgend Etwas gethan werden. Bitte, klettere noch einmal auf den Baum, und sieh zu, was sie machen.«

William stieg hinaus, blickte einige Minuten aufmerksam umher, und klimmte dann wieder hinab.

»Sie sind Alle aufgestanden, und schwärmen umher wie die Bienen,« sagte er. »Ich zählte über zweihundert Mann im Kriegsgewande und dem Kopfputze von Federn. Die Frauen laufen nach der Quelle hin und zurück, und tragen Wasser. Bei den Kanoe's sah ich nur acht oder zehn Weiber, die sich die Köpfe zerschlugen und ihr Haar ausrauften. Wenigstens schien es mir so, obgleich ich es nicht genau zu erkennen vermogte.«

»Ja, ja, ich weiß schon, was sie machen, William. Sie schneiden sich mit Messern oder scharfen Steinen, und wehklagen über die Todten, welche sie in die Kanoe's gelegt haben. Das ist so Sitte bei diesen wilden Völkerschaften. Vielleicht gehen sie nun, da die Todten in den Kanoe's liegen, wieder fort; doch läßt sich freilich nichts Gewisses darüber sagen.«

*


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