de Laclos, Choderlos
Gefährliche Liebschaften
de Laclos, Choderlos

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Hundertundfünfzigster Brief

Frau von Volanges an Frau von Rosemonde.

Ich hoffte gestern den ganzen Tag, meine würdige Freundin, ich würde Ihnen heute bessere Nachrichten über das Befinden unserer teuren Kranken geben können: aber seit gestern abend ist diese Hoffnung vernichtet, und es bleibt mir nur das Bedauern, daß ich sie verlor. Ein Vorfall, scheinbar ganz gleichgültig, aber sehr schlimm in seinen Folgen, hat den Zustand der Kranken so beeinflußt, daß er ebenso ist wie vorher, wenn nicht gar ärger.

Ich hätte nichts von dieser plötzlichen Wendung verstanden, wenn nicht gestern unsere unglückliche Kranke sich mir ganz anvertraut hätte. Da sie mir sagte, daß auch Sie von all ihrem Unglück unterrichtet sind, kann ich zu Ihnen ohne Rückhalt über ihre traurige Lage sprechen.

Gestern morgen, als ich ins Kloster kam, sagte man mir, daß die Kranke schon seit mehr als drei Stunden schlafe; und ihr Schlaf war so tief und ruhig, daß ich einen Augenblick bange war, er möchte lethargisch sein. Einige Zeit darauf wachte sie auf und öffnete selbst die Bettvorhänge. Sie sah uns alle überrascht an; und wie ich aufstand, um zu ihr zu gehen, erkannte sie mich, nannte mich beim Namen und bat mich, näherzutreten. Sie ließ mir keine Zeit, irgendwelche Fragen zu tun, sondern erkundigte sich, wo sie wäre, was wir da täten, ob sie krank sei und warum sie nicht zu Hause sei. Ich glaubte erst, es wäre ein neuer Fieberanfall, nur etwas ruhiger als der vorhergehende; ich bemerkte aber, daß sie ganz richtig verstand, was ich antwortete. Sie hatte wirklich ihren Kopf wieder, nicht aber ihr Gedächtnis.

Sie fragte mich in allen Einzelheiten aus, über alles, was sich zugetragen hat, Seitdem sie im Kloster ist. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hergekommen war. Ich gab genaue Antwort auf alles und ließ nur das weg, was sie hätte zu sehr aufregen können. Als ich sie dann meinerseits fragte, wie sie sich befände, antwortete sie, daß sie augenblicklich nicht leide, aber im Schlaf sehr gequält gewesen sei und sich müde fühle. Ich sagte ihr, sie möge sich beruhigen und wenig sprechen. Hierauf schloß ich den Vorhang, ließ ihn aber etwas auf und setzte mich zu ihr ans Bett. Man brachte ihr eine Tasse Fleischbrühe, die sie trank und gut fand.

So blieb sie ungefähr eine halbe Stunde, während welcher sie nur sprach, um mir für die Pflege zu danken, die ich ihr erwiesen hätte, und sie legte in diesen Dank alle die Anmut, die Sie an ihr kennen. Nachher blieb sie eine ganze Weile lang völlig still und brach das Schweigen nur, um zu sagen: »Ach ja, ich erinnere mich wieder, wie ich hierhergekommen bin.« Einen Augenblick später rief sie schmerzlich: »Liebe Freundin, o meine liebe Freundin, bedauern Sie mich, mein ganzes Unglück fällt mir wieder ein.« Als ich mich zu ihr beugte, nahm sie meine Hand und stützte ihren Kopf darauf. »Großer Gott«, klagte sie, »kann ich denn nicht sterben?« Wie sie das sagte, wirkte noch stärker auf mich als das, was sie sagte, und rührte mich zu Tränen. Sie merkte es an meiner Stimme und sagte: »Sie bedauern mich? Ach, wenn Sie wüßten – –.« Dann nach einer Weile: »Sorgen Sie dafür, daß man uns allein läßt, ich will Ihnen alles sagen.«

Wie ich Ihnen bereits gesagt zu haben glaube, argwöhnte ich schon was von dem, was diese vertrauliche Aussprache bringen werde; und da ich befürchtete, das Gespräch würde lang und traurig werden, und dem Zustande unserer unglücklichen Kranken vielleicht schaden, entzog ich mich ihm zuerst, unter dem Vorwand, sie bedürfe der Ruhe. Aber sie bestand darauf, und ich fügte mich ihren Bitten. Sobald wir allein waren, sagte sie mir alles, was Sie bereits von ihr wissen und was ich deshalb nicht wiederhole.

Wie, sie mir zum Schluß erzählte, auf welch grausame Art sie geopfert worden war, fügte sie hinzu: »Ich glaubte, sicher daran zu sterben, und glaubte, auch den Mut dazu zu haben; aber mein Unglück und meine Schande zu überleben, das ist mir unmöglich.« Ich versuchte, diese Mutlosigkeit oder vielmehr diese Verzweiflung mit den Waffen der Religion zu bekämpfen, die bis dahin so viel Macht über sie hatten; aber ich fühlte bald, daß ich nicht genug Kraft zu diesem Amt besitze und beschränkte mich auf den Vorschlag, den Pater Anselm rufen zu lassen, der, wie ich weiß, ihr ganzes Vertrauen hat. Sie willigte ein und schien es sogar sehr zu wünschen. Man schickte also nach ihm, und er kam sofort. Er blieb sehr lange bei der Kranken; als er fortging, sagte er, daß wenn die Ärzte derselben Meinung wären, so könnte man die Zeremonie der letzten Ölung noch aufschieben; er werde andern Tags wiederkommen. Es war ungefähr drei Uhr nachmittags und bis fünf Uhr war unsere Freundin ziemlich ruhig, so daß wir alle wieder Hoffnung schöpften. Zum Unglück brachte man da einen Brief für sie. Wie man ihn ihr geben wollte, sagte sie, daß sie überhaupt keinen annehmen wolle, und niemand bestand weiter darauf. Aber von diesem Augenblick an schien sie aufgeregter. Bald nachher fragte sie, woher der Brief käme. Er war nicht abgestempelt. Wer ihn gebracht habe? Man wußte es nicht. In wessen Auftrag er abgegeben sei? Es war der Pförtnerin nicht gesagt worden. Dann bewahrte sie einige Zeit Schweigen. Darauf fing sie wieder an zu sprechen; aber wie sie sprach, daran merkten wir bald, daß das Delirium wieder da war.

Jedoch kam wieder ein ruhiger Augenblick, bis sie endlich bat, man möge ihr den Brief geben, der für sie gekommen sei. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, rief sie: »Von ihm! Großer Gott!« Und dann mit lauter aber ganz benommener Stimme: »Nehmt ihn weg, nehmt ihn weg!« Sie ließ sofort die Vorhänge schließen und verbot, daß jemand ihr nahe komme. Aber bald nachher waren wir genötigt, wieder zu ihr zurückzukehren. Ihre Aufregung hatte wieder heftiger als je eingesetzt, und die Zuckungen waren entsetzlich. Dies hörte den ganzen Abend nicht mehr auf; und das Bulletin von heute früh meldete mir, daß die Nacht nicht weniger heftig gewesen ist. Kurz, ihr Zustand ist derartig, daß ich staune, wie sie ihm noch nicht erlegen ist; und ich verhehle Ihnen nicht, daß mir nur wenig Hoffnung bleibt.

Ich vermute, dieser unglückliche Brief ist von Herrn von Valmont; aber was kann er ihr noch zu sagen wagen? Verzeihung, meine liebe Freundin, ich entschlage mich jeder Bemerkung, aber es ist sehr traurig, eine Frau so elend umkommen zu sehen, die bis dahin so glücklich war und so wert es zu sein.

Paris, den 2. Dezember 17..


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