de Laclos, Choderlos
Gefährliche Liebschaften
de Laclos, Choderlos

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Hundertundzwanzigster Brief

Frau von Rosemonde an Frau von Tourvel.

Obschon ich, meine liebe schöne Frau, noch sehr leide, versuche ich doch, Ihnen selbst zu schreiben, damit ich mit Ihnen von dem sprechen kann, was Sie interessiert. Mein Neffe verharrt noch immer in seiner Menschenscheu. Er läßt sich ganz regelmäßig jeden Tag nach meinem Befinden erkundigen, aber er kam kein einziges Mal persönlich nachfragen, obwohl ich ihn habe darum bitten lassen; so sehe ich ihn so wenig, als wenn er in Paris wäre. Ich bin ihm jedoch heute morgen dort begegnet, wo ich ihn bestimmt nicht erwartete, nämlich in meiner Kapelle, in die ich zum ersten Male seit meinem schmerzlichen Unfall wieder kam. Heute hörte ich, daß er seit vier Tagen täglich da ist und die Messe hört. Wollte Gott, es hält vor.

Als ich eintrat, kam er auf mich zu und hat mich zu meinem besseren Befinden lieb beglückwünscht. Da die Messe gerade anfing, kürzte ich die Unterhaltung ab, die ich nachher wieder aufnehmen wollte; aber er war verschwunden, bevor ich ihn einholen konnte. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß ich ihn einigermaßen verändert fand. Aber, meine liebe Schöne, lassen Sie mich nicht durch allzu große Beunruhigung dieses Vertrauen bereuen, das ich in Ihre Vernünftigkeit setze, und seien Sie insbesondere gewiß, daß ich Sie immer noch lieber betrüben als betrügen würde.

Wenn mein Neffe mich noch lange so behandelt, so bin ich entschlossen, sobald ich mich wieder besser fühle, ihn in seinem Zimmer aufzusuchen, und will dann versuchen, hinter die Ursachen dieser sonderbaren Manie zu kommen, in der Sie, wie ich ganz gewiß glaube, eine Rolle spielen. Ich werde Ihnen schreiben, was ich erfahren habe. Jetzt verlasse ich Sie, denn ich kann die Finger nicht mehr bewegen; und dann, wenn Adélaïde wüßte, daß ich selber geschrieben habe, würde sie mich den ganzen Abend über ausschelten. Adieu, meine liebe Schöne.

Schloß . . ., den 20. Oktober 17...


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