de Laclos, Choderlos
Gefährliche Liebschaften
de Laclos, Choderlos

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Hundertundachtundvierzigster Brief

Frau von Volanges an Frau von Rosemonde.

Sie werden gewiß so betrübt sein wie ich, meine würdige Freundin, wenn Sie von dem Zustand hören, in dem sich Frau von Tourvel befindet. Sie ist seit gestern krank. – Ihre Krankheit setzte so heftig ein und zeigt so erregte Symptome, daß ich wirklich ganz erschrocken darüber bin.

Ein hitziges Fieber, heftige und andauernde Delirien, ein unstillbarer Durst, das ist alles, was man wahrnimmt. Die Ärzte sagen, daß man noch nichts sagen kann; und die Behandlung wird um so schwieriger, als die Kranke alle Mittel von sich weist; das geht so weit, daß man sie mit Gewalt hat halten müssen, um sie zur Ader zu lassen. Und die Anwendung von Gewalt war noch zweimal nötig, um ihr die Binde wieder anzulegen, die sie in der Aufregung immer wieder abreißen will.

Sie, die sie wie ich so schwach, so schüchtern und sanft gekannt haben, begreifen Sie es, daß sie vier Personen kaum halten können, und daß sie, wenn man ihr die geringste Vorstellung macht, in unaussagbare Wut gerät? Ich fürchte, daß dies mehr als Delirien sind und daß sie wirklich geisteskrank ist.

Meine Furcht in dieser Hinsicht wird vermehrt durch das, was sich vorgestern zugetragen hat. An dem Tag erschien sie um elf Uhr morgens mit ihrer Kammerfrau im Kloster der Karmeliterinnen. Da sie in diesem Hause erzogen worden ist, und die Gewohnheit hatte, manchmal dorthin zu kommen, wurde sie wie gewöhnlich empfangen, und schien allen ruhig und munter zu sein. Etwa zwei Stunden später erkundigte sie sich, ob das Zimmer, das sie als Pensionärin bewohnt hatte, frei sei, und auf die bejahende Antwort verlangte sie, es wiederzusehen. Die Priorin begleitete sie mit einigen andern Nonnen hin. Da erklärte sie nun, sie wolle wieder das Zimmer bewohnen, das sie, wie sie sagte, nie hätte verlassen sollen; und sie setzte hinzu, sie würde erst wieder, »wenn sie tot sei« ausziehen. So waren ihre Worte.

Erst wußte man nicht, was sagen; als aber das erste Erstaunen vorüber war, stellte man ihr vor, daß man sie als verheiratete Frau nicht ohne bestimmte Erlaubnis aufnehmen könne. Aber weder dieser Grund, noch tausend andere taten eine Wirkung; und von dem Augenblick an blieb sie dabei, nicht nur das Kloster, sondern sogar ihr Zimmer nicht mehr zu verlassen. Des Redens müde, ließ man es um sieben Uhr abends zu, daß sie die Nacht über da verbringe. Man schickte den Wagen und ihre Leute heim und verschob es bis zum nächsten Tag, eine Entschließung zu treffen.

Man versichert, daß den ganzen Abend hindurch weder ihr Gesicht noch ihre Haltung irgend etwas Irres gehabt hätten, das eine wie das andere seien ruhig und besonnen gewesen. Nur vier- oder fünfmal sei sie in so tiefes Sinnen versunken, daß man sie durch nichts daraus wecken konnte; und jedesmal, wenn sie daraus erwachte, habe sie ihre Hände an die Stirne geführt und diese scheinbar mit Gewalt gepreßt; als daraufhin sie eine der Nonnen fragte, ob sie Kopfschmerzen habe, starrte sie sie erst lange an und sagte schließlich: »Nicht da sitzt das Übel.« Einen Augenblick später bat sie, man möge sie allein lassen und in Zukunft keine Fragen mehr an sie richten.

Alle zogen sich zurück bis auf ihre Kammerfrau, die, weil sonst kein Platz war, glücklicherweise in demselben Zimmer schlafen sollte.

Nach den Aussagen dieses Mädchens ist ihre Herrin bis elf Uhr abends ziemlich ruhig gewesen. Um die Zeit hat sie verlangt, zu Bett gebracht zu werden. Aber ehe sie ganz entkleidet war, begann sie lebhaft und mit heftigen Gesten im Zimmer auf und ab zu gehen. Julie, die tagsüber Zeuge gewesen war von dem, was sich zugetragen hatte, wagte nichts zu sagen und wartete schweigend etwa eine Stunde lang. Endlich rief Frau von Tourvel sie plötzlich zweimal an; sie hatte kaum Zeit herbeizuspringen, als ihre Herrin ihr in die Arme sank und stöhnte: »Ich kann nicht mehr.« Sie ließ sich auf das Bett legen und wollte nichts einnehmen, wollte auch nicht, daß Hilfe gerufen werde. Nur Wasser ließ sie neben sich hinstellen und befahl Julie, sich schlafen zu legen.

Diese versichert, sie habe bis zwei Uhr früh wach gelegen und während dieser Zeit ihre Herrin weder sich bewegen noch klagen gehört. Aber um fünf Uhr, sagt sie, sei sie vom Reden ihrer Herrin geweckt worden, die mit lauter und fester Stimme sprach. Als sie sie fragte, ob sie etwas nötig hätte und keine Antwort darauf bekam, sei sie mit ihrem Licht an das Bett der Frau von Tourvel getreten, die sie nicht erkannte, die aber ihr unzusammenhängendes Reden plötzlich abbrach und laut rief: »Man soll mich allein lassen, ich will im Finstern bleiben, in die Finsternis gehöre ich.« Ich bemerkte selbst gestern, daß diese Wendung immer bei ihr wiederkehrt.

Schließlich benutzte Julie den ihr gewissermaßen erteilten Befehl und ging hinaus, um Leute und Hilfe zu holen. Aber Frau von Tourvel hat eines wie das andere zurückgewiesen mit denselben Wutausbrüchen und Delirien, die sich seitdem so oft wiederholen.

Die Verlegenheit, in die dadurch das ganze Kloster kam, veranlaßte die Oberin, mich gestern um sieben Uhr morgens holen zu lassen. Es war noch nicht Tag. Ich ging sofort. Als man mich Frau von Tourvel meldete, schien sie wieder zum Bewußtsein zu kommen und sagte: »Ach ja, sie soll eintreten.« Als ich aber an ihrem Bett stand, schaute sie mich starr an, nahm lebhaft meine Hand, die sie drückte, und sagte mit starker, trauriger Stimme: »Ich sterbe, weil ich Ihnen nicht geglaubt habe.« Gleich darauf bedeckte sie ihre Augen und wiederholte ihre Worte: »Man soll mich allein lassen usw.«, und verlor völlig die Besinnung.

Diese an mich gerichteten Worte und andere, die ihr im Delirium entschlüpften, lassen mich fürchten, daß diese grausame Krankheit eine noch grausamere Ursache hat. Aber wir wollen die Geheimnisse unserer Freundin achten und uns damit begnügen, ihr Unglück zu beklagen.

Der ganze gestrige Tag war gleich stürmisch; es wechselte schreckliches Phantasieren mit Augenblicken lethargischer Niederschlagenheit, die einzigen, in denen sie sich und den andern etwas Ruhe gönnt. Ich verließ erst um neun Uhr abends meinen Platz an ihrem Bett, und will heute morgen wieder für den ganzen Tag hin. Gewiß werde ich meine unglückliche Freundin nicht im Stich lassen, aber zum verzweifeln ist die Hartnäckigkeit, mit der sie jede Aufmerksamkeit und alle Hilfe ablehnt.

Ich schicke Ihnen das Bulletin von heute nacht, das ich soeben erhalte und das, wie Sie sehen, nichts weniger als tröstlich ist. Ich werde dafür sorgen, Sie Ihnen alle pünktlich zukommen zu lassen.

Gott befohlen, meine würdige Freundin, ich gehe jetzt wieder zu meiner Kranken. Meine Tochter, die zum Glück fast ganz wieder hergestellt ist, grüßt Sie achtungsvoll.

Paris, den 29. November 17..


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