de Laclos, Choderlos
Gefährliche Liebschaften
de Laclos, Choderlos

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Hundertundneunzehnter Brief

Der Chevalier Danceny an die Marquise von Merteuil.

Wenn ich meinem Kalender glauben soll, so sind es, angebetete Freundin, erst zwei Tage, daß Sie fort sind; wenn ich aber meinem Herzen glaube, sind es zwei Jahrhunderte. Nun habe ich es von Ihnen selbst, daß es das Herz ist, dem man glauben muß; es ist danach hohe Zeit, daß Sie zurückkehren, und alle Ihre Geschäfte dürften jetzt mehr als beendet sein. Wie wollen Sie denn, daß ich mich für Ihren Prozeß interessiere, wenn ich, ob Sie ihn gewinnen oder verlieren, jedenfalls die Kosten tragen muß mit dem Kummer, den mir Ihre Abwesenheit bereitet? O, wie habe ich Lust Streit anzufangen! Und wie ist es traurig, mit einem so schönen Anlaß zu schlechter Laune kein Recht zu haben, sie zu zeigen!

Ist es aber nicht eine wirkliche Untreue, ein notorischer Verrat, Ihren Freund allein zu lassen, nachdem Sie ihn so gewöhnt haben, daß er ohne Ihre Gegenwart nicht mehr sein kann? Sie können immer Ihre Advokaten befragen, sie werden Ihnen keine Rechtfertigung für dieses schlechte Vorgehen ausfindig machen; und dann haben diese Leute nur Gründe, und Gründe genügen nicht als Antwort auf Gefühle.

Mir haben Sie so oft gesagt, daß Vernunftgründe diese Reise notwendig machen, daß Sie mich ganz mit dieser Vernunft verfeindet haben. Ich will sie schon überhaupt nicht mehr anhören, nicht einmal, wenn sie mir sagt, daß ich Sie vergessen soll. Und doch wäre das sehr vernünftig, und im Grunde nicht so schwer, als Sie glauben könnten. Es genügt schon, die Gewohnheit zu verlieren, immer an Sie zu denken, und nichts würde mir Sie hier, ich versichere Sie, ins Gedächtnis zurückrufen.

Unsere schönsten Frauen, die man die liebenswürdigsten nennt, sind noch so weit fern von Ihnen, daß sie nur eine ganz schwache Vorstellung von Ihnen geben können. Ich glaube sogar, daß, wer mit geübteren Augen anfangs glaubte, daß sie Ihnen glichen, desto größer nachher den Unterschied findet: sie mögen tun was sie wollen, alles zeigen was sie können, es fehlt ihnen immer noch, daß sie Sie sind, und gerade darin liegt der Reiz. Unglücklicherweise baut man, wenn die Tage so lang sind und man nichts zu tun hat, träumerisch Luftschlösser, erschafft sich eine Schimäre; nach und nach versteigt sich die Phantasie; man will sein Werk verschönern, sammelt alles was gefallen kann und bringt es endlich zur Vollendung; und wie das erreicht ist, ruft einem das Porträt wieder das Modell ins Gedächtnis, und man sieht ganz erstaunt, daß man nur immer an Sie gedacht hat.

Selbst in diesem Augenblick düpiert mich wieder ein ähnlicher Irrtum. Sie glauben vielleicht, um mich mit Ihnen zu beschäftigen, habe ich mich hingesetzt, um Ihnen zu schreiben, aber das ist's gar nicht; es ist vielmehr, um mich von Ihnen abzulenken. Ich hatte Ihnen tausend Dinge zu sagen, deren Gegenstand nicht Sie sind, und die, wie Sie wissen, mich sehr lebhaft beschäftigen; und doch bin ich von diesen abgelenkt. Seit wann aber lenkt denn der Zauber der Freundschaft von dem der Liebe ab? Ach, wenn ich das ganz genau bedenke, hätte ich mir vielleicht sogar einen leisen Vorwurf zu machen! Aber kein Wort! Vergessen wir diesen leichten Fehler, sonst könnten wir ihn wieder begehen; und nicht einmal meine Freundin soll davon wissen.

Aber warum sind Sie auch nicht da, um mir zu antworten, um mich zurückzuführen, wenn ich mich verirre, um mir von meiner Cécile zu sprechen, um womöglich das Glück noch zu erhöhen, das ich empfinde, sie zu lieben, durch den so süßen Gedanken, daß die, die ich liebe, Ihre Freundin ist? Ja, ich bekenne es, die Liebe, die sie mir einflößt, ist mir noch kostbarer geworden, seitdem Sie das Geständnis davon entgegennahmen. Ich öffne Ihnen mein Herz so gern, beschäftige das Ihrige so gern mit meinen Gefühlen, lege sie ohne Rückhalt darin nieder! Mir scheint, daß Sie mir um so lieber werden in dem Maße, als Sie sie bei sich aufzunehmen würdigen; und dann sehe ich Sie an und sage mir: »In ihr liegt mein Glück beschlossen.«

Über meine Lage habe ich Ihnen nichts Neues zu melden. Der letzte Brief, den ich von ihr erhalten habe, vermehrt und sichert meine Hoffnung, schiebt sie aber hinaus. Doch sind ihre Motive so zärtlich und ehrbar, daß ich ihr weder Vorwürfe machen noch mich beklagen kann. Vielleicht verstehen Sie nicht ganz, was ich Ihnen da sagen will; aber warum sind Sie nicht hier? Wenn man auch seiner Freundin alles sagt, schreiben kann man ihr nicht alles. Zumal die Geheimnisse der Liebe sind von so zarter Natur, daß man sie nicht so auf gut Glauben hinausgeben kann. Wenn man es schon einmal tut, so darf man sie wenigstens nicht aus dem Gesicht verlieren; man muß sie ihr neues Asyl gewissermaßen betreten sehen. Ach! kommen Sie doch zurück, anbetungswürdige Freundin, Sie sehen doch, wie nötig Ihre Rückkunft ist. Vergessen Sie endlich die »tausend Gründe«, die Sie zurückhalten wo Sie sind, oder lehren Sie mich da zu leben, wo Sie nicht sind.

Ich habe die Ehre zu sein usw.

Paris, den 19. Oktober 17...


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