Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Jetzt weckte ihn Walt, der noch traumtrunken und in berauschter Vergessenheit der vorigen Szenen ihm aus dem Bette folgenden Traum aufdrang:

»Ich weiß kaum recht, wie oder wo der Traum eigentlich anging, wie ein Chaos wollte die unsichtbare Welt auf einmal alles gebären, eine Gestalt keimte auf der andern, aus Blumen wuchsen Bäume, daraus Wolkensäulen, aus welchen oben Gesichter und Blumen brachen. Dann sah ich ein weites leeres Meer, auf ihm schwamm bloß das kleine graue fleckige Welt-Ei und zuckte stark. Es wurde mir im Traum alles genannt, ich weiß aber nicht von wem. Dann fuhr ein Strom mit der Leiche der Venus durchs Meer; er stand fest, das Meer floß wieder an ihm hin. Darauf schneiete es helle Sterne hinein, der Himmel wurde leer, aber an der Mittagsstelle der Sonne entglomm eine Morgenröte; das Meer höhlte sich unter ihr aus und türmte in ungeheuren bleiernen Schlangen-Wülsten am Horizont sich auf sich selber auf, den Himmel zuwölbend – und unten aus dem Meeres-Grund stiegen aus unzähligen Bergwerken traurige Menschen wie Tote auf und wurden geboren. Eine dicke Gruben-Nacht quoll ihnen nach. Aber ein Sturm schlug sich auf den Dampf und zerquetschte ihn zu einem Meer. Gewaltig fuhr er auf und ab und schüttelte alle Wellen, hoch oben im stillen Blau flog langsam eine goldene Biene leise singend einem Sternchen zu und sog an dessen weißen Blüten, und rund um den Horizont standen Türme heiter mit leuchtenden Gewitterspitzen, bis wieder ungeheure Wolken, als reißende Tiere gestaltet, ankamen und am Himmel fraßen.

Da hörte ich einen Seufzer, alles war verschwunden. Ich sah nichts als ein glattes stilles Meer, aus diesem brach die böse Feindin, ohne eine Welle zu machen, wie Licht durch Glas: ›Seit der Ewigkeit‹, fing sie an, ›ist das Wasser öl-glatt, das bedeutet eben den großen Sturm. Ich soll dir, sagt man, das älteste Märchen erzählen; bist du aber vorüber?‹ Sie sah seltsam aus, sie war in Meergrün und Meerblüten gekleidet, kleine Floßfedern zuckten an ihrem Rücken, ihr Gesicht war meergrau und doch jung, aber voll kämpfender Farben. Ehe ich antwortete, fuhr die böse Feindin fort: ›Es war einmal ein ewiges Märchen, alt, grau, taub, blind, und das Märchen sehnte sich oft. Dort tief in der letzten Welt-Ecke wohnt es noch, und Gott besucht es zuweilen, um zu sehen, ob es noch flattert und sich sehnt. – Bist du denn vorüber? So schaue die Tiere am Ufer an!‹ – Am glatten Meere hinauf lag es voll reißender Tiere, welche schliefen, aber im Schlafe sprachen und einander einen uralten Heißhunger und Blutdurst erzählten.

Ehe ich antwortete, versetzte die böse Feindin: ›Vernimm das alte Widerhallen; noch kein Wesen hat den Ton gehört, den es nachspricht. Wenn aber einst der Widerhall aufhört, so ist die Zeit vorbei, und die Ewigkeit kommt zurück und bringt den Ton; sobald alles sehr still ist, so werd' ich die drei Stummen hören, ja den Urstummen, der das älteste Märchen sich selber erzählt; aber er ist, was er sich sagt. Hölle, du erschrickst wie ein Sterblicher, bist du denn nicht vorüber, Tor?‹

Noch eh' ich antwortete, wuchsen ihr die Floßfederchen zu hohen zackigen Schwingen aus, womit sie mich unverdient und grimmig schlug; da verschwand alles, nur das schöne Tönen blieb. Es war mir, als sänk' ich in geflügelte Wogen eines wolkenhohen Meeres. Wie ein Pfeil schnitt ich durch seine weltenlange Wüste; aber ich konnte durch die gläserne Fläche nicht hindurch, sondern hing im dunkeln Wasser und schaute hindurch. Da sah ich draußen, nah oder fern, ich weiß es nicht, das rechte Land liegen, ausgedehnt, glänzend-dämmernd. Die Sonne schien als Ephemere in ihren eignen Strahlen zu spielen, und die Strahlen hörten auf. Nur die leisen Töne des rechten Landes flogen noch um mein Ohr. Goldgrüne Wölkchen regneten heiß übers Land, und flüssiges Licht tropfte überquellend aus Rosen- und Lilien-Kelchen. Ein Strahl aus einem Tautropfen schnitt herüber durch mein düsteres Meer und durchstach glühend das Herz und sog darin, aber das Tönen erfrischte es, daß es nicht welkte. Ich sagte laut: ›Es regnet drüben heiße Freudentränen; nur die Liebe ist eine warme Träne, der Haß eine kalte.‹ – Tief hinten im Lande stiegen Welten, wie Dunstkügelchen, unter einem weit umhüllten Sonnenkörper auf. In der Mitte drehte sich ein Spinnrad um, die Sterne waren mit tausend Silberfäden daran gereihet, und es spann sie immer näher und enger vom Himmel hernieder. – An einer Lilie hing ein Bienenschwarm. Eine Rose spielte mit einer Biene, beide neckten sich mit ihren Stacheln und ihrem Honig. Eine schwarze Nachtblume wuchs gierig gen Himmel und bog sich immer heftiger über, je heller es wurde; eine Spinne lief und wob ämsig im Blumenkelche, um mit Fäden die Nacht festzuhalten, ja den Leichenschleier der Welt zu spinnen; aber alle Fäden wurden betaut und schimmerten, und der ewige Schnee des Lichts lag auf den Höhen.

›Es schläft alles im rechten Lande,‹ sagt' ich, ›aber die Liebe träumt.‹ Ein Morgenstern kam und küßte eine weiße Rosenknospe und blühte mit ihr weiter – ein Zephyr hing sich küssend an einen Eichengipfel – einer der leisesten Töne kam und küßte eine Maiblume, und ihr Glöckchen wurde heftig empor geweht – tausend warme Wolken kamen und hingen sich brünstig an Himmel und Erde zugleich – Turteltauben wiegten sich dufttrunken auf Nachtviolen und warfen girrend sich die Küsse auf Blumenblättern zu.

Auf einmal quoll am Himmel ein scharf blitzendes Sternchen heraus – es hieß die Aurora – wie vor Lust riß sich einen Augenblick mein Meer auf. – Statt der dämmernden Ebene lag ein fester breiter Blitz vor mir. Aber es schlug sich wieder zu, das verdämmerte Land erwachte, und alles wurde verändert; denn die Blumen, die Sterne, die Töne, die Tauben waren nur schlummernde Kinder gewesen. Nun umarmte jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang unzählig darein. Die hohe Bildsäule des Donnergottes stand in der Landes-Mitte. Ein Kind um das andere flog auf den Stein-Arm und setzte einen Schmetterling auf den lebendigen Adler, der den Gott umkreiset. Dann flatterte das Kind wie leichtsinnig auf die nächste Wolke und sah herab nach seinem andern, das liebende Arme aufhob. Ach, so wird schon Gott, vor dem wir ja alle Kinder sind, unser Lieben nehmen! Darauf spielten die Kinder untereinander »Liebens«. ›Sei meine rote Tulpe‹, sagte das eine, und das andere war sie und ließ sich an die Brust stecken. ›Sei mein liebes Sternchen oben‹, und es war es und wurde – an die Brust gesteckt. ›Sei mein Gott‹ – ›und du meiner‹, aber dann verwandelten sich beide nicht, sondern sahen sich lange an voll zu großer Liebe und verschwanden wie sterbend dahin. – ›Bleibe bei mir, mein Kind, wenn du von mir gehst‹, sagte das bleibende; da wurde das scheidende in der Ferne ein kleines Abendrot, dann ein Abendsternchen, dann tiefer ins Land hinein nur ein Mondschimmer ohne Mond, und endlich verlor es sich ferner und ferner in einen Flöten- oder Philomelenton.

Aber der Morgenröte gegenüber stand eine Morgenröte auf; immer herzerhebender rauschten beide wie zwei Chöre einander entgegen, mit Tönen statt Farben, gleichsam als wenn unbekannte selige Wesen hinter der Erde ihre Freudenlieder heraufsingen. Die schwarze Blume mit der Spinne bog sich krampfhaft bis zum Knicken nieder. Zu einem Lilienkranze waren vom Rade die Sterne vom Himmel herabgesponnen und er nun hellblau gemacht. Der Allklang hatte die Blumen zu Bäumen gereift. Die Kinder waren dem Auge zu Menschen gewachsen und standen endlich als Götter und Göttinnen da und sahen sehr ernst nach Morgen und Abend.

Die Chöre der Morgenröten schlugen jetzt wie Donner einander entgegen, und jeder Schlag zündete einen gewaltigern an. Zwei Sonnen sollten aufsteigen, unter dem Klingen des Morgens. Siehe, als sie kommen wollten, wurde es leiser und dann überall still. Amor flog in Osten, Psyche flog in Westen auf, und sie fanden sich oben mitten im Himmel, und die beiden Sonnen gingen auf – es waren nur zwei leise Töne, zwei an einander sterbende und erwachende; sie tönten vielleicht: ›du und ich‹; zwei heilige, aber furchtbare, fast aus der tiefsten Brust und Ewigkeit gezogne Laute, als sage sich Gott das erste Wort und antworte sich das erste. Der Sterbliche durfte sie nicht hören, ohne zu sterben. Ich schlief in den Schlaf hinunter, doch schlaf- und todestrunken, war mir, als verhülle und vergifte mich der Blumenduft eines vorbeifliegenden Paradieses – –

Da fand ich mich plötzlich am alten ersten Ufer wieder, die böse Feindin stand wieder im Wasser; aber sie zitterte wie vor Frost und zeigte ängstlich auf das glatte Meer hinter ihr, mit den Worten: ›Die Ewigkeit ist vorbei, der Sturm kommt, denn das Meer wird geregt.‹ Ich sah hin, und die Unermeßlichkeit gor zu unzähligen Hügeln auf und zum himmelhohen Sturme; doch tief im Horizont wallete hinter den Zacken ein sanftes Morgenlicht empor. Aber ich erwachte; was sagst du, Bruder, zu diesem künstlich-fügenden Traume?«

»Du sollst es sogleich hören in dein Bett hinein«, versetzte Vult, nahm die Flöte und ging, sie blasend, aus dem Zimmer – die Treppe hinab – aus dem Hause davon und dem Posthause zu. Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die entfliehenden Töne reden, denn er merkte nicht, daß mit ihnen sein Bruder entfliehe.

Ende des vierten Bändchens


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