Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 15: Riesenmuschel

Die Stadt – chambre garnie

Walt stand mit einem Kopfe voll Morgenrot auf und suchte den brüderlichen, als er seinen Vater, der sich schon um 1 Uhr auf seine langen Beine gemacht, mit weiten Schritten und reisebleich durch den Hof laufen sah. Er hielt ihn an. Er mußte lange gegen den Strafprediger seine Gegenwart durch die ausgebrochene Mauer herunter verteidigen. Darauf bat er den müden Vater, zu reiten, indes er zu Fuße neben ihm laufe. Lukas nahm es ohne Dank an. Sehnsüchtig nach dem Bruder, der sich nicht zeigen durfte, verließ Walt die Bühne eines so holden Spielabends.

Auf dem waagrechten Wege, der keinen Wassertropfen rollen ließ, bewegte sich das Pferd ohne Tadel und hielt Schritt mit dem tauben Sohne, dem der Vater von der Sattel-Kanzel unzählige Rechts- und Lebensregeln herabwarf. Was konnte Gottwalt hören? Er sah nur in und außer sich glänzende Morgenwiesen des Jugendlebens, ferner die Landschaft auf beiden Seiten der Chaussée, ferner die dunklen Blumengärten der Liebe, den hohen hellen Musenberg und endlich die Türme und Rauchsäulen der ausgebreiteten Stadt. Jetzt saß der Vater mit dem Befehle an den Notarius ab, durchs Tor zum Fleischer zu reiten, in sein Logis, und um 10 Uhr in den weichen Krebs zu gehen, wo man auf ihn warten wolle, um mit ihm gehörig vor dem Magistrate zu erscheinen.

Walt saß auf und flog wie ein Cherub durch den Himmel. Die Zeit war so anmutig; an den Häuser-Reihen glänzte weißer Tag, in den grünen tauigen Gärten bunter Morgen, selber sein Vieh wurde poetisch und trabte ungeheißen, weil es seinem Stall nahe und aus dem herrnhutischen hungrig kam. – Der Notarius sang laut im Fluge des Schimmels. Im ganzen Fürstentum stand kein Ich auf einem so hohen Gehirnhügel als sein eigenes, welches davon herab wie von einem Ätna in ein so weites Leben voll morganischer Feen hineinsah, daß die blitzenden Säulen, die umgekehrten Städte und Schiffe den ganzen Tag hängen blieben in der Spiegelluft.

Unter dem Tore befragte man ihn: woher? »Von Haßlau«, versetzte er entzückt, bis er den lächerlichen Irrtum eilig umbesserte und sagte: »Nach Haßlau.« Das Pferd regierte wie ein Weiser sich selber und brachte ihn leicht durch die bevölkerten Gassen an den Stall, wo er mit Dank und in Eile abstieg, um sofort seine »chambre garnie« zu beziehen. Auf den hellen Gassen voll Feldgeschrei, gleichsam Kompagniegassen eines Lustlagers, sah ers gern, daß er seinen Hausherrn, den Hofagent Neupeter, kaum finden konnte. Er gewann damit die Zeit, die verschüttete Gottes-Stadt der Kindheit auszuscharren und den Schutt wegzufahren, so daß zuletzt völlig dieselben Gassen ans Sonnenlicht kamen, ebenso prächtig, so breit und voll Paläste und Damen, wie die waren, durch welche er einmal als Kind gegangen. Ganz wie zum erstenmale faßte ihn die Pracht des ewigen Getöses, die schnellen Wagen, die hohen Häuser mit ihren Statuen darauf und die flitternen Opern- und Galakleider mancher Person. Er konnte kaum annehmen, daß es in einer Stadt einen Mittwoch, einen Sonnabend und andere platte Bauerntage gebe, und nicht jede Woche ein hohes Fest von sieben Feiertagen. Auch sehr sauer wurd' es ihm, zu glauben – sehen mußt' ers freilich –, daß so gemeine Leute wie Schuhflicker, Schneidermeister, Schmidte und andere Ackerpferde des Staats, die auf die Dörfer gehörten, mitten unter den feinsten Leuten wohnten und gingen.

Er erstaunte über jeden Werkeltagshabit, weil er selber mitten in der Woche den Sonntag anhabend – den Nanking – gekommen war; alle große Häuser füllte er mit geputzten Gästen und sehr artigen Herren und Damen an, die jene liebewinkend bewirteten, und er sah nach ihnen an alle Balkons und Erker hinauf. Er warf helle Augen auf jeden vorübergehenden lackierten Wagen und auf jeden roten Schaul, auf jeden Friseur, der sogar werkeltags arbeitete und tafelfähig machte, und auf den Kopfsalat, der im Springbrunnen schon vormittags gewaschen wurde, anstatt in Elterlein nur Sonntagsabends.

Endlich stieß er auf die lackierte Türe mit dem goldgelben Titelblatt »Material-Handlung von Peter Neupeter et Compagnie« und ging durch die Ladentüre ein. Im Gewölbe wartete er es ab, bis die hin- und herspringenden Ladenschürzen alle Welt abgefertigt hätten. Zuletzt, da endlich nach der Ancienneté der Mahlgäste auch seine Reihe kam, fragte ihn ein freundliches Pürschchen, was ihm beliebe. »Nichts« – versetzte er so sanft, als es seine Stimme nur vermochte – »ich bekomme hier eine chambre garnie und wünsche dem Herrn Hofagenten mich zu zeigen.« – Man wies ihn an die Glastüre der Schreibstube. Der Agent – mehr Seide im Schlafrock tragend als die Gerichtsmännin im Sonntagsputz – schrieb den Brief-Perioden gar aus und empfing mit einem Apfel-roten und -runden Gesichte den Mietsmann.

Der Notarius gedachte wahrscheinlich, mit seinem Roßgeruch und seiner Spießgerte zu imponieren als Reiter; aber für den Agenten – den wöchentlichen Lieferanten der größten Leute und den jährlichen Gläubiger derselben – war ein Schock berittener Notarien von keiner sonderlichen Importanz.

Er rief ganz kurz einem Laden-Pagen herrisch zu, den Herrn anzuweisen. Der Page rief wieder auf der ersten Treppe ein bildschönes nettes, sehr verdrüßliches Mädchen heraus, damit sie den Herrn mit der Spießgerte bis zur vierten brächte. Die Treppen waren breit und glänzend, die Geländer figurierte Eisen-Guirlanden, alles froh erhellt, die Tür-Schlösser und Leisten schienen vergoldet, an den Schwellen lagen lange bunte Teppiche. Unterwegs suchte er die Stumme dadurch zu erfreuen und zu belohnen, daß er sanft ihren Namen zu wissen wünschte. Flora heißet der Name, womit das schöne mürrische Ding auf die Nachwelt übergeht.

Die chambre garnie ging auf. – Freilich nicht für jeden wäre sie gewesen, ausgenommen als chambre ardente; mancher, der im roten Hause zu Frankfurt oder im Egalitäts-Palaste geschlafen, hätte an diesem langen Menschen-Koben voll Ururur-Möbeln, die man vor dem glänzenden Hause hier zu verstecken suchte, vieles freimütig ausgesetzt. Aber ein Polymetriker im Göttermonat der Jugend, ein ewig entzückter Mensch, der das harte Leben stets, wie Kenner die harten Cartons von Raffael, bloß im (poetischen) Spiegel beschauet und mildert – der an einer Fischer-, Hunds- und jeder Hütte ein Fenster aufmacht und ruft: ist das nicht prächtig draußen? – der überall, er sei im Eskurial, das wie ein Rost, oder in Karlsruh, das wie ein Fächer, oder in Meinungen, das wie eine Harfe, oder in einem Seewurm-Gehäuse, das wie eine Pfeife gebauet ist, die Sommerseite findet und dem Roste Feuerung abgewinnet, dem Fächer Kühlung, der Harfen Töne, der See-Pfeife desfalls – ich meine überhaupt, ein Mensch wie der Notarius, der mit einem solchen Kopfe voll Aussichten über die weite Bienenflora seiner Zukunft hin in den Bienenkorb einfliegt und einen flüchtigen Überschlag des Honigs macht, den er darein aus tausend Blumen tragen wird, ein solcher Mensch darf uns weiter nicht sehr in Verwunderung setzen, wenn er sogleich ans Abend-Fenster schreitet, es aufreißet und vor Floren entzückt ausruft: »Göttliche Aussicht! Da unten der Park – ein Abschnitt Marktplatz – dort die zwei Kirchtürme – drüben die Berge – Wahrlich sehr schön!« – Denn dem Mädchen wollt' er auch eine kleine Freude zuwenden durch die Zeichen der seinigen.

Er warf jetzt sein gelbes Röckchen ab, um als Selbstquartiermeister in Hemdärmeln alles so zu ordnen, daß, wenn er von der verdrüßlichen Erscheinung vor dem Stadtrate nach Hause käme, er sogleich ganz wie zu Hause sein könnte und nichts zu machen brauchte als die Fortsetzung seines Himmels und seinen Streckvers und etwas von dem abgekarteten Doppelroman. Den Abhub der Zeit, den Bodensatz der Mode, den der Agent im Zimmer fallen lassen, nahm er für schöne Handelszeichen, womit der Handelsmann eine besondere Sorgfalt für ihn offenbaren wollen. Mit Freuden trug er von zwölf grünen, in Tuch und Kuhhaar gekleideten Sesseln die Hälfte – man konnte sonst vor Sitzen nicht stehen – ins Schlafgemach zu einem lackierten Regenschirm von Wachstuch und einem Ofenschirm mit einem Frauen-Schattenriß. Aus einer Kommode – einem Häuschen im Haus – zog er mit beiden Händen ein Stockwerk nach dem andern aus, um seine nachgefahrne fahrende Habe darein zu schaffen. Auf einem Teetischchen von Zinn konnte alles Kalte und das Heiße getrunken werden, da es beides so kühlte. Er erstaunte über den Überfluß, worin er künftig schwimmen sollte. Denn es war noch eine Paphose da (er wußte gar nicht, was es war) – ein Bücherschrank mit Glastüren, deren Rahmen und Schlösser ihm, weil die Gläser fehlten, ganz unbegreiflich waren, und worein er oben die Bücher schickte, unten die Notariats-Händel – ein blau angestrichener Tisch mit Schubfach, worauf ausgeschnittene bunte Bilder, Jagd-, Blumen- und andere Stücke, zerstreuet aufgepappet waren, und auf welchem er dichten konnte, wenn ers nicht lieber auf einem Arbeitstischchen mit Rehfüßen und einem Einsatz von lackiertem Blech tun wollte – endlich ein Kammerdiener oder eine Servante, die er als Sekretär an den Schreibtisch drehte, um auf ihre Scheiben Papier, eine feine Feder zur Poesie, eine grobe zum Jus zu legen. Das sind vielleicht die wichtigern Pertinenzstücke seiner Stube, wobei man Lappalien, leere Markenkästchen, ein Nähpult, einen schwarzen basaltenen Kaligula, der aus Brust-Mangel nicht mehr stehen konnte, ein Wandschränklein usw., nicht anschlagen wollte.

Nachdem er noch einmal seine Stiftshütte und deren Ordnung vergnügt überschauet und sich zum Fenster hinausgelegt und unten die weißen Kiesgänge und dunkeln vollaubigen Bäume besehen hatte: machte er sich auf den Weg zum Vater und freuete sich auf den Treppen, daß er in einem so kostbaren Hause ein elendes Wohn-Nest besitze. Auf der Treppe wurde er von einem hellblauen Couvert an die Hofagentin festgehalten. Es roch wie ein Garten, so daß er bald auf der Duft-Wolke mitten in die niedlichsten Schreibzimmer der schönsten Königinnen und Herzoginnen und Landgräfinnen hineinschwamm; indes hielt ers für Pflicht, durch das Ladengewölbe zu gehen und das Couvert redlich mit den Worten abzugeben: hier sei etwas an Madame. Hinter seinem Rücken lachte sämtliche Handels-Pagerie ungewöhnlich.

Er traf seinen Vater in historischer Arbeit und Freude an. Dieser stellte ihn als Universalerben sämtlichen Gästen vor. Er schämte sich, als eine Merkwürdigkeit dieser Art lange dem Beschauen bloßzustehen, und beschleunigte die Erscheinung vor dem Stadtrat. Verschämt und bange trat er in die Ratsstube, wo er gegen seine Natur als ein hoher Saitensteg dastehen sollte, auf welchen andere Menschen wie Saiten gespannt waren; er schlug die Augen vor den Akzessit-Erben nieder, die gekommen waren, ihren Brotdieb abzuwägen. Bloß der stolze Neupeter fehlte samt dem Kirchenrat Glanz, der ein viel zu berühmter Prediger auf dem Kanzel- und dem Schreibpulte war, um zur Schau eines ungedruckten Menschen nur drei Schritte zu tun, von dem er die größte Begierde forderte, vielmehr Glanzen aufzusuchen.

Der regierende Bürgermeister und Exekutor Kuhnold wurde mit einem Blick der heimliche Freund des Jünglings, der mit so errötendem Schmerz sich allein, vor den Augen stehender gefräßiger Zuschauer, an die gedeckte Glückstafel setzte. Lukas aber besichtigte jeden sehr scharf.

Das Testament wurde verlesen. Nach dem Ende der 3ten Klausel zeigte Kuhnold auf den Frühprediger Flachs, als den redlichen Finder und Gewinner des Kabelschen Hauses; und Walt warf schnell die Augen auf ihn, und sie standen voll Glückwünsche und Gönnen.

Als er in der 4ten Klausel sich anreden hörte vom toten Wohltäter: so wäre er den Tränen, deren er sich in der Ratsstube schämte, zu nahe gekommen, wenn er nicht über Lob und Tadel wechselnd hätte erröten müssen. Der Lorbeerkranz und die Zärtlichkeit, womit Kabel ihm jenen aufsetzte, begeisterte ihn mit einer ganz andern, heißern Liebe als das Füllhorn, das er über seine Zukunft ausschüttete. – Die darauf folgenden Stellen, welche für den Vorteil der sieben Erben allerlei aussprachen, versetzten dem Schultheiß den Atem, indem sie dem Sohne einen freiern gaben. Nur bei der 14ten Klausel, die seiner unbefleckten Schwanenbrust den Schandfleck einer weiblichen Verführung zutrauete oder verbot, wurde sein Gesicht eine rote Flamme; wie konnte, dachte er, ein sterbender Menschenfreund so oft so unzart schreiben?


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