Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 25: Smaragdfluß

Musik der Musik

Die Einlaßkarte fest drückend, langte er in der langen Prozession mit an, die seine Flügelmännin und Wegweiserin war. Das Einrauschen des glänzenden Stroms, der hohe Saal, das Stimmen der Instrumente, das Schicksal seines Bruders machten ihn zu einem Betrunkenen, der Herzklopfen hat. Dem Lauf des goldführenden Stroms sah er mit Freude über die Goldwäsche seines Bruders zu, er hätte die Wellen zählen mögen. Vergeblich sah er nach ihm sich um. Auch Wina sucht' er, aber wie sollt' er einen Juwel in einer Ebene voll Tau-Glanz ausfinden? Nach seiner Schätzung und Vermessung mochten unter den ihm zugekehrten Mädchen an 47 wahre Anadyomenen, Uranien, Cytheren und Charitinnen sitzen in Pracht; unter den abgewandten Rücken konnten sie sich noch höher belaufen.

Er legte sich die Frage vor: wenn diese ganze Kette von 47 Paradiesvögeln aufstiege und er sich einen darunter herabschießen sollte mit dem Amors-Pfeil, welchen er wohl nähme? – – Er brachte keine andere Antwort aus sich heraus als die: jede, die mir die Hand recht drückte und etwas bei der Natur für mich empfände. Da nun unter diesem schönen Hondekoetersein großer Vögelmaler. fliegenden Corps unzählige Raubvögel, Harpyen und dergleichen gewiß steckten: so ermesse doch aus diesem Selbstgespräch ein ganz junger Mensch, der seine erste Liebe zur ersten Ehe machen will, in was er rennen könne.

Eben stellte sich der Buchhändler Paßvogel grüßend neben den Notar, als Haydn die Streitrosse seiner unbändigen Töne losfahren ließ in die enharmonische Schlacht seiner Kräfte. Ein Sturm wehte in den andern, dann fuhren warme nasse Sonnenblicke dazwischen, dann schleppte er wieder hinter sich einen schweren Wolken-Himmel nach und riß ihn plötzlich hinweg wie einen Schleier, und ein einziger Ton weinte in einem Frühling, wie eine schöne Gestalt.

Walt – den schon ein elender Gesang der Kinderwärterinnen wiegte und der zwar wenige Kenntnisse und Augen, aber Kopf und Ohren und Herzohren für die Tonkunst hatte – wurde durch das ihm neue Wechselspiel von Fortissimo und Pianissimo, gleichsam wie von Menschenlust und -weh, von Gebeten und Flüchen in unserer Brust, in einen Strom gestürzt und davongezogen, gehoben, untergetaucht, überhüllt, übertäubt, umschlungen und doch – frei mit allen Gliedern. Als ein Epos strömte das Leben unten vor ihm hin, alle Inseln und Klippen und Abgründe desselben waren eine Fläche – es vergingen an den Tönen die Alter – das Wiegenlied und der Jubelhochzeit-Gesang klangen ineinander, eine Glocke läutete das Leben und das Sterben ein – er regte die Arme, nicht die Füße, zum Fliegen, nicht zum Tanzen – er vergoß Tränen, aber nur feurige, wie wenn er mächtige Taten hörte – und gegen seine Natur war er jetzt ganz wild. Ihn ärgerte, daß man Pst rief, wenn jemand kam, und daß viele Musiker, gleich ihrem Notenpapier, dick waren, und daß sie in Pausen Schnupftücher vorholten, und daß Paßvogel den Takt mit den Zähnen schlug, und daß dieser zu ihm sagte: »Ein wahrer ganzer Ohrenschmaus«; für ihn ein so widriges Bild wie im Fürstentum Krain der Name der Nachtigall: Schlauz.

»Und doch muß nun erst das Adagio und mein Bruder kommen«, sagte sich Walt.

»Den einer dort herführt,« – sagte Paßvogel zu ihm – »das ist der blinde Flautotraversist, und der Führer ist unser blinder Hof-Pauker, der aber das Terrain besser kennt. Das Paar gruppiert sich indes ganz artig.« – Da der schwarzhaarige Vult jetzt langsam kam, das eine Auge unter einem schwarzen Band, mit dem andern starrblickend, den Kopf wie ein Blinder ein wenig hoch und die Flöte am Munde haltend – mehr um sein Lachen zu bedecken –; da er sich vom Pauker verbeugungs-recht stellen ließ – und da alle Schwätzereien stumm wurden und weich: so konnte Walt sich der Tränen gar nicht mehr enthalten, sowohl wegen der vorhergehenden als schon über das bloße Gemälde eines blinden Bruders und über den Gedanken, das Verhängnis könne den Spaßtreiber beim Worte fassen; und zuletzt braucht' er wenig, um mit dem ganzen Saale zu glauben, Vult sei erblindet.

Dieser gab wie eine Monatsschrift stets das beste Stück zuerst und führte an, er gehe mit Einsicht von den allmählich steigenden Virtuosen ab, weil die Menschen einander nach der Erstgeburt, und nicht nach der Nachgeburt schätzten und den schlimmen, mithin auch den guten Erstlings-Eindruck festhielten – und weil man den Weibern, die von nichts so leicht taub würden als von langer Musik, das Beste geben müßte, wenn sie noch hörten.

Wie eine Luna ging das Adagio nach dem vorigen Titan auf – die Mondnacht der Flöte zeigte eine blasse schimmernde Welt, die begleitende Musik zog den Mondregenbogen darein. Walt ließ auf seinen Augen die Tropfen stehen, die ihm etwas von der Nacht des Blinden mitteilten. Er hörte das Tönen – dieses ewige Sterben – gar nicht mehr aus der Nähe, sondern aus der Ferne kommen, und der herrnhutische Gottesacker mit seinen Abend-Klängen lag vor ihm in ferner Abendröte. Als er das Auge trocken und hell machte: fiel es auf die glühenden Streifen, welche die sinkende Sonne in die Bogen der Saalfenster zog; – und es war ihm, als seh' er die Sonne auf fernen Gebürgen stehen – und das alte Heimweh in der Menschenbrust vernahm von vaterländischen Alpen ein altes Tönen und Rufen, und weinend flog der Mensch durch heiteres Blau den duftenden Gebürgen zu und flog immer und erreichte die Gebürge nie – – O ihr unbefleckten Töne, wie so heilig ist euere Freude und euer Schmerz! Denn ihr frohlockt und wehklagt nicht über irgendeine Begebenheit, sondern über das Leben und Sein, und eurer Tränen ist nur die Ewigkeit würdig, deren Tantalus der Mensch ist. Wie könntet ihr denn, ihr Reinen, im Menschenbusen, den so lange die erdige Welt besetzte, euch eine heilige Stätte bereiten, oder sie reinigen vom irdischen Leben, wäret ihr nicht früher in uns als der treulose Schall des Lebens und würde uns euer Himmel nicht angeboren vor der Erde!

Wie ein geistiges Blendwerk verschwand jetzt das Adagio, das rohe Klatschen wurde der Leitton zum Presto. Aber für den Notar wurde dieses nur zu einer wildern Fortsetzung des Adagios, das sich selber löset, nicht zu einer englischen Farce hinter dem englischen Trauerspiel. Noch sah er Wina nicht; sie konnte es vielleicht im langen himmelblauen Kleide sein, das neben dem ihm zugewandten Rücken saß, der, nach den Kopffedern und nach der nahen Stimme zu schließen – die in einem fort, unter der Musik, die Musik laut pries –, Raphaelen zukam; aber wer wußt' es? Gottwalt sah bei solcher Mehrheit schöner Welten unter dem Prestissimo an dem weiblichen Sternenkegel hinauf und hinab und drückte mit seinen Augen die meisten ans Herz, vorzüglich die schwarzen Habite, dann die weißen, dann die sonstigen. Unglaublich steigerte die Musik seine Zuneigung zu Unverheirateten, er hörte die Huldigungsmünzen klingen, die er unter die Lieben warf. »Könnt' ich doch dich, gute Blasse,« – dacht' er ohne Scheu – »mit Freudentränen und Himmel schmücken – Mit dir aber, du Rosenglut, möcht' ich tanzen nach diesem Presto – Und du, blaues Auge, solltest, wenn ich könnte, auf der Stelle vor Wonne überfließen, und du müßtest aus den weißen Rosen der Schwermut Honig schöpfen – Dich, Milde, möcht' ich vor den Hesperus stellen und vor den Mond, und dann wollt' ich dich rühren durch mich oder durch sonst wen – Und ihr kleinen helläugigen Spieldinger von 14, 15 Jahren, ein paar Tanzsäle voll Kleiderschränke möcht' ich euch schenken – O ihr sanften, sanften Mädchen, wär ich ein wenig das Geschick, wie wollt' ich euch lieben und laben! Und wie kann die grobe Zeit solche süße Wangen und Äuglein einst peinigen, naß und alt machen und halb auslöschen?« – –

Diesen Text legte Walt dem Prestissimo unter.

Da er schon seit Jahren herzlich gewünscht, in einem schönen weiblichen Auge von Stand und Kleidung einer Träne ansichtig zu werden – – weil er sich ein schöneres Wasser in diesen harten Demanten, einen goldnern Regen oder schönere Vergrößerungslinsen des Herzens nie zu denken vermocht –: so sah er nach diesen fallenden Licht- und Himmelskügelchen, diesen Augen der Augen, unter den Mädchen-Bänken umher; er fand aber – weil Mädchen schwer im Putze weinen – nichts als die ausgehangenen Weinzeichen, die Tücher. Indes für den Notar war ein Schnupftuch schon eine Zähre und er ganz zufrieden.


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