Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Es ist eine der verwünschtesten Sachen. Oft rezensiert die Jugend das Alter, noch öfter das Alter die Jugend, eine Rektors-Schlafhaube kämpfet gegen eine Jünglings-Sturmhaube –

Wie Kochbücher arbeiten sie für den Geschmack, ohne ihn zu haben –

Solchen Sekanten, Kosekanten, Tangenten, Kotangenten kommt alles exzentrisch vor, besonders das Zentrum; der Kurzsichtige findet nach LambertLamberts Beiträge zur Mathematik III. B. p. 236. den Kometenschwanz viel länger als der Weitsichtige –

Sie wollen den Schiffskiel des Autors lenken, nämlich den ordentlichen Schreib-Kiel, sie wollen den Autor mit ihrem Richterstabe, wie Minerva mit ihrem Zauber-Stabe den Ulysses, in einen Bettler und Greis verkehren –

Sie wollen die erbärmlichsten Dinge bei Gott« – (Des Notars Gesicht zog sich dabei sichtlich ins lange, weil er wie jeder, der nur gelehrte Zeitungen hält, aber nicht macht und kennt, von einer gewissen Achtung für sie, vielleicht gar einer hoffenden, nicht frei war.)

»Indes jeder Mensch« – fuhr jener fort – »sei billig; denn ich darf nicht übersehen, daß es mit Büchern ist wie mit Pökelfleisch, von welchem Huxham dartat, daß es zwar durch mäßiges Salz sich lange halte, aber auch durch zu vieles sogleich faule und stinke – Notarius, ich machte das Buch zu gut, mithin zu schlecht.« –

»Du wimmelst von Einfällen« – (versetzte Walt) »scherzhaft zu reden, hast du so viele Windungen und Köpfe wie die lernäische Schlange.«

»Ich bin nicht ohne Witz,« erwiderte Vult in vergeblicher Absicht, daß der Bruder lache –, »aber du reißest mich aus dem Zusammenhang. – Was kann ich nun dabei machen? Ich allein nichts; aber mit dir viel, nämlich ein Werk; ein Paar Zwillinge müssen, als ihr eigenes Widerspiel, zusammen einen Einling, ein Buch zeugen, einen trefflichen Doppel-Roman. Ich lache darin, du weinst dabei oder fliegst doch – du bist der Evangelist, ich das Vieh darhinter – jeder hebt den andern – alle Parteien werden befriedigt, Mann und Weib, Hof und Haus, ich und du. – Wirt, mehr Krätzer, aber aufrichtigen! – Und was sagst du nun zu diesem Projekt und Mühlengang – wodurch wir beide herrlich den Mahlgästen Himmelsbrot verschaffen können, und uns Erdenbrot, was sagst du zu dieser Musenroß-Mühle?« –

Aber der Notar konnte nichts sagen, er fuhr bloß mit einer Umhalsung an den Projektmacher. Nichts erschüttert den Menschen mehr – zumal den belesenen – als der erste Gedanke seines Drucks. Alte tiefe Wünsche der Brust standen auf einmal aufgewachsen in Walten da und blühten voll; wie in einem südlichen Klima fuhr in ihm jedes nordische Strauchwerk zum Palmenhain auf; er sah sich bereichert und berühmt und wochenlang auf dem poetischen Geburtsstuhl. Er zweifelte in der Entzückung an nichts als an der Möglichkeit und fragte, wie zwei Menschen schreiben könnten, und woher ein romantischer Plan zu nehmen sei.

»Geschichten, Walt, hab' ich auf meinen Reisen an 1001 erlebt, nicht einmal gehört; diese werden sämtlich genommen, sehr gut verschnitten und verkleidet. Wie Zwillinge in ein Dintenfaß tunken? Beaumont und Fletcher, sich hundsfremd, nähten an einem gemeinschaftlichen Schneider-Tische Schauspiele, nach deren Naht und Suturen noch bis heute die Kritiker fühlen und tasten. Bei den spanischen Dichtern hatte oft ein Kind an neun Väter, nämlich eine Komödie, nämlich Autoren. Und im 1sten Buch Mosis kannst du es am allerersten lesen, wenn du den Professor Eichhorn dazu liesest, der allein in der Sündflut drei Autoren annimmt, außer dem vierten im Himmel. Es gibt in jedem epischen Werke Kapitel, worüber der Mensch lachen muß, Ausschweifungen, die das Leben des Helden unterbrechen; diese kann, denk' ich, der Bruder machen und liefern, der die Flöte bläset. Freilich Parität, wie in Reichsstädten, muß sein, die eine Partei muß so viele Zensoren, Büttel, Nachtwächter haben als die andere. Geschieht nun das mit Verstand, so mag wohl ein Werk zu hecken sein, ein Ledas-Ei, das sich sogar vom Wolfischen Homer unterscheidet, an dem so viele Homeriden schrieben und vielleicht Homer selber.« –

»Genug, genug«, rief Walt. »Betrachte lieber den himmlischen Abend um uns her!« In der Tat blühten Lust und Lebens-Lob in allen Augen. Mehrere Gäste, die schon abgegessen, tranken ihren Krug im Freien, alle Stände standen untereinander, die Autoren mitten im tiers-état. Die Fledermäuse schossen als Tropikvögel eines schönen Morgens um die Köpfe. An einer Rosen-Staude krochen die Funken der Johanniswürmlein. Die fernen Dorfglocken riefen wie schöne verhallende Zeiten herüber und ins dunkle Hirtengeschrei auf den Feldern hinein. Man brauchte so spät auf allen Wegen, nicht einmal in dem Gehölze, Lichter, und man konnte bei dem Schein der Abendröte die hellen Köpfe deutlich durch das hohe Getreide waten sehen. Die Dämmerung lagerte sich weit und breit nach Westen hinein, mit der scharfen Mond-Krone von Silber auf dem Kopfe; nur hinter dem Hause schlich sich, aber ungesehen, die große hohle Nacht aus Osten heran. In Mitternacht glomm es leise wie Apfelblüte an, und liebliche Blitze aus Morgen spielten herüber in das junge Rot. Die nahen Birken dufteten zu den Brüdern hinab, die Heu-Berge unten dufteten hinauf. Mancher Stern half sich heraus in die Dämmerung und wurde eine Flug-Maschine der Seele.

Vult vergabs dem Notar, daß er kaum zu bleiben wußte. Er hatte so viele Dinge und unter ihnen den Krätzer im Kopfe; denn in diesem entsetzlichen Weine, wahrem Weinbergs-Unkraut für Vult, hatte sich der arme Teufel – dem Wein so hoch klang wie Äther – immer tiefer in seine Jahre zurückgetrunken, ins 20te, 18te und letztlich ins 15te.

Auf Reisen trifft man Leute an, die darauf zurückschwimmen bis ins 1te Jahr, bis an die Quelle. Vormittags predigen es die Äbte in ihren Visitationspredigten: werdet wie die Kinder! Und abends werden sie es samt dem Kloster, und beide lallen kindlich.

»Warum siehst du mich so an, geliebter Vult?« sagte Walt. – »Ich denke an die vergangenen Zeiten,« versetzte jener, »wo wir uns so oft geprügelt haben; wie Familienstücke hängen die Bataillenstücke in meiner Brust – ich ärgerte mich damals, daß ich stärker und zorniger war und du mich doch durch deine elastische wütige Schnelle aller Glieder häufig unter bekamst. Die unschuldigen Kinderfreuden kommen nie wieder, Walt!«

Aber der Notar hörte und sah nichts als Apollos flammenden Sonnenwagen in sich rollen, worauf schon die Gestalten seines künftigen Doppelromans kolossalisch standen und kamen; unwillkürlich macht' er große Stücke vom Buche fertig und konnte sie dem verwunderten Bruder zuwerfen. Dieser wollte endlich davon aufhören, aber der Notar drang noch auf den Titel ihres Buchs. Vult schlug Flegeljahre vor; der Notar sagte offen heraus, wie ihm ein Titel widerstehe, der teils so auffallend sei, teils so wild. »Gut, so mag denn die Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor tut, etwan: Hoppelpoppel oder das Herz.« Bei diesem Titel mußte es bleiben.

Beide mengten sich wieder in die Gegenwart ein.

Der Notar nahm ein Glas und drehte sich von der Gesellschaft ab und sagte mit tropfenden Augen zu Vult: »Auf das Glück unserer Eltern und auch der armen Goldine! Sie sitzen jetzt gewiß ohne Licht in der Stube und reden von uns.« – Hierauf zog der Flötenist sein Instrument hervor und blies der Gesellschaft einige gemeine Schleifer vor. Der lange Wirt tanzte darnach langsam und zerrend mit dem schläfrigen Knaben; manche Gäste regten den Takt-Schenkel; der Notarius weinte dazu selig und sah ins Abendrot. »Ich möchte wohl« – sagt' er dem Bruder ins Ohr – »die armen Fuhrleute sämtlich in Bier freihalten.« – »Wahrscheinlich,« sagte Vult, »würfen sie dich dann aus point d'honneur den Hügel hinunter. Himmel! sie sind ja Krösi gegen uns und sehen herab.« Vult ließ den Wirt plötzlich, statt zu tanzen, servieren; so ungern der Notarius in seine Entzückung hinein essen und käuen wollte.

»Ich denke roher,« sagte Vult, »ich respektiere alles, was zum Magen gehört, diese Montgolfiere des Menschen-Zentaurs; der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus. – Aber oft geh' ich weit und mache in mir edle Seelen, z. B. weibliche, zum Teil lächerlich, indem ich sie essen und als Selbst-Futterbänke ihre untern Kinnbacken so bewegen lasse, daß sie dem Tier vorschneiden.«

Walt unterdrückte sein Mißfallen an der Rede. Beglückt aßen sie oben vor der ausgebrochenen Wand; die Abendröte war das Tafellicht. Auf einmal rauschte mit verlornem Donnern eine frische Frühlingswolke auf Laub und Gräser herunter, der helle goldne Abendsaum blickte durch die herabtropfende Nacht, die Natur wurde eine einzige Blume und duftete herein, und die erquickte gebadete Nachtigall zog wie einen langen Strahl einen heißen langen Schlag durch die kühle Luft. »Vermissest du jetzt sonderlich«, fragte Vult, »die Park-Bäume, den Paruckenbaum, den Gerberbaum – oder hier oben die Bedienten, die Servicen, den Goldteller mit seinem Spiegel, damit darauf die Portion mit falschen Farben schwimme?« – »Wahrlich nicht«, sagte Walt; »sieh, die schönsten Edelsteine setzt die Natur auf den Ring unseres Bundes« – und meinte die Blitze. Die Luftschlösser seiner Zukunft waren golden erleuchtet. Er wollte wieder vom Doppel-Romane und dem Stoff dazu anfangen – und sagte, er habe hinter der Schäferei heute drei hineinpassende Streckverse gemacht. Aber der Flötenist, einer und derselben Materie bald überdrüssig und nach Rührungen ordentlich des Spaßes bedürftig, fragte ihn: warum er zu Pferde gegangen? »Ich und der Vater«, sagte Walt ernst, »dachten, eh wir von der Erbschaft wußten, ich würde dadurch der Stadt und den Kunden bekannter, weil man unter dem Tore, wie du weißt, nur die Reiter ins Intelligenzblatt setzt.« Da brachte der Flötenist wieder den alten Reiterscherz auf die Bahn und sagte: »der Schimmel gehe, wie nach Winckelmann die großen Griechen, stets langsam und gesetzt – er habe nicht den Fehler der Uhren, die immer schneller gehen, je älter sie werden – ja vielleicht sei er nicht älter als Walt, wiewohl ein Pferd stets etwas jünger sein sollte als der Reiter, so wie die Frau jünger als der Mann – ein schönes römisches Sta Viator, Steh', Weg-Machender! bleibe der Gaul für den, so darauf sitze«...

»O lieber Bruder,« – sagte Walt sanft, aber mit der Röte der Empfindlichkeit und Vults Laune noch wenig fassend und belachend – »zieh mich damit nicht mehr auf, was kann ich dafür?« – »Nu, nu, warmer Aschgraukopf,« – sagte Vult und fuhr mit der Hand über den Tisch und unter alle seine weiche Locken, streichelnd Haar und Stirn – »lies mir denn deine drei Polymeter vor, die du hinter der Schäferei gelammet.«

Er las folgende:

Das offene Auge des Toten

Blick' mich nicht an, kaltes, starres, blindes Auge, du bist ein Toter, ja der Tod. O drücket das Auge zu, ihr Freunde, dann ist es nur Schlummer.
 

»Warst du so trübe gestimmt an einem so schönen Tage?« fragte Vult. »Selig war ich wie jetzt«, sagte Walt. Da drückte ihm Vult die Hand und sagte bedeutend: »Dann gefällts mir, das ist der Dichter. Weiter!«

Der Kinderball

Wie lächelt, wie hüpfet ihr, blumige Genien, kaum von der Wolke gestiegen! Der Kunst-Tanz und der Wahn schleppt euch nicht, und ihr hüpfet über die Regel hinweg. – Wie, es tritt die Zeit herein und berührt sie? Große Männer und Frauen stehen da? Der kleine Tanz ist erstarrt, sie heben sich zum Gang und schauen einander ernst ins schwere Gesicht? Nein, nein, spielet ihr Kinder, gaukelt nur fort in eurem Traum, es war nur einer von mir.

Die Sonnenblume und die Nachtviole

Am Tage sprach die volle Sonnenblume: »Apollo strahlt, und ich breite mich aus, er wandelt über die Welt, und ich folge ihm nach.« In der Nacht sagte die Viole: »Niedrig steh' ich und verborgen – und blühe in kurzer Nacht; zuweilen schimmert Phöbus milde Schwester auf mich, da werd' ich gesehen und gebrochen und sterbe an der Brust.«
 

»Die Nachtviole bleibe die letzte Blume im heutigen Kranz!« sagte Vult gerührt, weil die Kunst gerade so leicht mit ihm spielen konnte als er mit der Natur, und er schied mit einer Umarmung. In Walts Nacht wurden lange Violenbeete gesäet – an das Kopfkissen kamen durch die offne Wand die Düfte der erquickten Landschaft heran und die hellen Morgentöne der Lerche – sooft er das Auge auftat, fiel es in den blauen vollgestirnten Westen, an welchem die späten Sternbilder nacheinander hinunterzogen als Vorläufer des schönen Morgens.


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