Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sie sagte, sie gehe, um mir aus dem Schlosse einen Führer zu holen, und ging fort. Ich stand auf und sagte, es brauch' es nicht. Da sie mich forttappen sah, kehrte sie lieber um und befahl mir zu warten; sie wolle mir bis ins Wirtshaus vorausgehen und jeden Anstoß und Eckstein melden. Die Freundliche tats wahrhaftig und ging mit dem ewig nach mir umgebognen Halse, bis sie einem jungen Lehnbauer hinter seinem Pfluge begegnete, dem sie ein Stück Geld und die Bitte gab, mit dem blinden Herrn vor das Wirtshaus zu fahren. Sie sagte liebreich gute Nacht, und die langhaarigen Augenlider nickten zu schnellenmalen über den großen Augen.

Der Satan hole – vergib aber, Notarius, den Fluch – den Grafen von Klothar, wenn er einer so gutmütigen Weiberseele nur die dünneste, leichteste Zähre aus den schönen bräutlichen Augen preßte, dem armen Kinde, das das einzige ist, dem ich noch die freie Reichs-Ritterschaft gegönnt. Denn mit wie viel Gall' und Grimm ich in jedes Adels-Dorf eintrete, worin – wenn bei den Römern ein ganzes Volk für das Geißeln eines Menschen votieren mußte – umgekehrt nur ein stimmender Mensch zum Prügeln eines Volks erfordert wird, das kennst du; aber in Winas Elterlein dacht' ich ganz sanft.

Wie überall, besonders im Brautstand gegen den Ehestand: so halten die Menschen, wie in der Musik, den Vorschlag länger und stärker als die Hauptnote; und Klothar konnte doch schon im Vorschlag fehlen? –

Einen schwachen Streckvers in deiner Manier fertigte ich im Wirtshaus auf sie:

Bist du Philomele?

Nein; denn du hast zwar ihre Stimme; aber du bist unvergleichlich schön!

So wirst du schon früher nachgeahmet als gedruckt. – Nachher, nach dem Speisen zog ich im Dorf herum. Ich dachte an einen dir bekannten ersten und zweiten Abend so sehr, daß mir vorkam – schreib' es auf Rechnung einer und der andern Liebe –, als sei manches von der Vergangenheit nachher vergangen. Eiligst, wenn du diesen Brief erhältst – was genau nachmittags gegen 3 Uhr sein muß, weil ichs bei der Botenfrau auf diese Weise und Stunde bestellt habe –, läufst du mir entgegen. – Bei Gott, ich denke oft an vieles. – Und was ist denn das Leben als der ewige Ci-devant? – Werden denn nicht die reinsten Trommeten der Lust krumm gebogen und mit Wasser gefüllt durch bloßes Blasen? – Muß man denn nicht die längsten Himmelsleitern – die freilich kürzer sind als die Höllenleitern –, bloß damit sie stehen, unten auf Dreck aufsetzen, ob man sie gleich oben an Sternbilder und Polarsterne anlegt? Ganz verdrüßlich macht mich dergleichen, sonst nichts. Inzwischen seh' ich sehr auf Antwort, auf mündliche nämlich, womit du sogleich entgegengehst dem Wirtshaus zum Wirtshaus und dem dir sehr bekannten oder was Gott will.

Quoddeus etc.

N. S. Walt, wir könnten Brüder sein, ja Zwillinge! Schon der Stamm-Namen verkittet uns, aber noch weit mehr! –«

*

Walt nahm Flügel, aber sein Herz war schwer oder voll. Alles, was je ein Ritter zu Pferde für leidende Weiber zu tun gelobte, war er zu Fuße zu leisten bereit für jede und dann für Wina noch unzähligemal so viel. Auf dem Wege nach dem Wirtshaus begegneten ihm Neupeters Töchter an Flittes Armen. »Vielleicht wissen Sie es,« – redete ihn Raphaela an und stimmte den Ton so schleunig um, daß man das Hinaufstimmen vernahm – »da Sie beim Generale schreiben und aus Elterlein her sind, was meine unglückliche Wina macht, ob die Teure noch dort ist?« – Vor Schrecken konnt' er kaum auf den Beinen, geschweige auf Vults schlaffem Lügen-Seile stehen: »Sie ist noch da,« sagt' er, »schreibt man mir eben. Ich schreibe noch nicht bei ihr. Ach, warum ist sie denn unglücklich?« – »Es ist jetzt bekannt, daß ihrem Vater, dem General, ein unschuldiger Brief von ihr in die Hände geriet, und daß darauf ihr Bund mit dem Grafen aufgehoben wurde, o die Gute!« versetzte Raphaela und weinte etwas auf der Landstraße. Aber ihre Schwester verdammte, verdrüßlich blickend, die Straßen-Ausstellung hoher Bekanntschaften und Tränen; und der lustige Elsasser drohte ihr aus dem warmen Gewölke oben Regen und schwemmte sie damit davon.

Raphaela hatte Walts verliebte Blicke über der Tafel nicht übersehen mit ihren gerührten; zur Liebe gehören ohnehin wie zur Gärung – sie ist ja selber eine – zwei Bedingungen, Wärme und Nässe; und mit letzterer begann Raphaela gern. Es gibt weibliche Wesen – sie darf sich darunter rechnen –, die nichts so gern haben als Mitleiden mit fremden Leiden, besonders mit weiblichen. Sie wünschen sich ordentlich recht viel mitzuleiden und suchen Freundinnen gerade in der Not am liebsten, ja sie wecken durch Mitteilen fremde Seelen zu gleicher Teilnahme und finden wahren Genuß in fremden Tränen – denn so viel vermag die Tugend durch Übung –, so wie etwa der Zaun-König nie lustiger springt und singt als vor Regenwetter. Mendelssohn, der das Mitleid unter die vermischten Empfindungen bringt, hält eben darum reine für weniger schmackhaft.

Nur den Notar traf die bittere Ausnahme, daß ihn das Doppel-Unglück des Paares glühend durchstach und durchgrub – ob ihn gleich ein guter Engel nicht auf den Argwohn fallen ließ, ob nicht sein an den Vater übergebener Brief das Scheidungsdekret geworden –; indes setzt' er sich mehr an Klothars als an Winas Stelle und stieg in die Brust des Jünglings hinein, um von dort aus recht um die blühende Braut zu trauern und in Klothars Namen an nichts zu denken als an das geliebte Mädchen.

Er kam traurig im Wirtshaus zum Wirtshaus an. Vult war noch nicht da. Die kurze Zeit hatte schon manches wieder mit ihrer Sichel abgemäht – erstlich vom blühenden herrnhutischen Gottesacker das Grummet – zweitens am Wirtshaus ein Vergißmeinnicht und Jelängerjelieber der Erinnerung, nämlich die ausgebrochene Abendwand, wovor er mit dem Bruder gegessen, war zugemauert. Vult kam. Mit Flamme und Rührung flogen beide einander zu. Walt bekannte, wie er geschmachtet nach Vulten, wie er die Geschichte der Abwesenheit verlange, und wie sehr er eines Bruders bedürfe, um das Herz voll vermengter Gefühle in das verwandte zu gießen. Der Flötenspieler wollte seine Geschichte zuletzt berichten, und begehrte die fremde zuerst. Walt tats, erzählte rückwärts, erstlich Raphaelens Erzählung – aber so wie er zweitens den Schenkungsakt des Grafen samt der durch den Brief der Tochter jetzt gut motivierten Unterbrechung, drittens die Glücksfälle bei dem General berichtete und endlich mit den zusammengefaßten Flammen seines Sehnens nach Klothar schloß: so änderte Vult das mitgebrachte Gesicht – brach noch vor dem Wirtshaus auf – schickte den leeren Gaul durch einen außerordentlichen Schlag in Stadt und Stall voraus – und bat Walten, mitzugehen und fortzufahren und nach keinem Regen zu fragen.

Er tats. Vult steckte seine Flöten-Ansätze aneinander und blies zuweilen einen lustigen Griff. Bald hielt er sein Gesicht dem warm tropfenden Abend-Himmel unter und wischte die Tropfen daraus, bald schlug er ein wenig mit der Flöte in die Luft.

»Jetzt weißt du alles, mein guter Mensch, urteile!« sagte endlich Walt. Vult versetzte: »Bester, poetischer Fleu- und Florist – Was soll ich urteilen? Verdammtes Regnen! – Der Himmel könnte auch trockner sein. Ich meine, was ist zu urteilen, wenn du mir über keinen Menschen beitrittst? Hinterher werd' ich dann ganz schamrot, daß ich als ein Mensch, der vielleicht kaum vor ein Paar Stadttore hinaus, und durch ein Paar Flügeltüren hineingekommen – denn ich saß stets –, gegen einen Welt- und Hofmann wie du recht behalten will, der, die Wahrheit zu sagen, überall gewesen, an allen Höfen – in allen Häfen – Glücks- und Unglückshäfen – in allen Kaffee- und Teehäusern Europens – in belle-vue, in laide-vue – in Monplaisir, in Ton-plaisir und Son-plaisir – und so etwas weiter herum; das war ich aber nicht, Walt!«

»Verspottest du ernsthaft meine arme Lage, Bruder?« fragte Walt. »Ernsthaft?« sagte Vult. »Nein, wahrlich mehr spaßhaft. Was den General anlangt, so sag' ich, daß, was du Menschenliebe an ihm nennst, nur Anekdotenliebe ist. Schon im gelehrten Deutschland gelten keine Wasser für tiefe als die flach breiten, vollends aber im geadelten; nur breite lange Geschichte wollte der General von dir aus Langweile, wenn er sie auch schon wußte. Freund, wir Bücher-Menschen – so täglich, so stündlich in Konversation mit den größten belebtesten Männern aus der gedruckten Vorwelt, und zwar wieder über die größten Weltbegebenheiten – wir stellen uns freilich den Hunds-Ennui der Großen nicht vor, die weiter nichts haben, als was sie hören und essen bei Tafel. Gott danken sie auf Knien, wenn sie irgendeine Anekdote erzählen hören, die sie schon erzählen hörten; – aber ich weiß nicht, was du dazu sagst?«

»Über Sachen«, versetzte Walt, »kann man leicht die fremde Meinung borgen und glauben, aber nicht über Personen. Wenn die ganze Welt gegen dich spräche: müßt' ich wohl eher ihr als mir glauben?«

»Natürlich«, sagte Vult. »Was Wina anlangt, so ists mir ganz lieb, daß sie ihre weichen Finger wieder aus den gräflichen Ringen gezogen. So weiß ich auch, daß zwischen dir und dem Grafen die Mißheirat eurer Seelen rückgängig wird.«

Darüber erschrak der Notar ordentlich. Er fragte ängstlich: warum? Vult blies einen Läufer. Er setzte dazu, daß er dem Jüngling seit dem Verluste einer solchen Jungfrau noch heftiger anhänge; und fragte wieder: »Warum, lieber Bruder?« – »Weil du«, versetzte dieser, »nichts bist, gar nichts als ein offener geschworner Notar, der Graf aber ein Graf; du würdest ihm auch nicht größer, wenn du dich nach alter Weise noch einen tabellio nenntest – einen protocollista – einen judex chartularius – scriniarius – exceptor.« – »Unmöglich«, versetzte Walt, »ist in unsern Tagen ein philosophischer Klothar adelstolz; ich hört' ihn selber die Gleichheit und die Revolution loben.«


 << zurück weiter >>