Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 63: Titan-Schörl

Larven-Tanz

»Nachts werden wir uns sehen«, sagte Vult zu Walt am Morgen der Redoute – und ging mit diesem Vorgruße wie mit dem Entschleiern eines Schleiers davon. In der Einsamkeit brannte dem Notar der Tag zu hell für die schöne Nacht, woraus und wozu dieser Tag bestand. Unter dem Essen sehnte er sich nach dem Bruder, dessen leeres Gehäuse noch leerer wurde, weil er ihn abends antreffen sollte, ohne doch zu wissen in welcher Gestalt.

Walt ging in eine Larven-Bude und suchte lange nach einer Larve, welche einen Apollo oder Jupiter darstellte; er begreife nicht, sagte er, warum man fast nur häßliche vorstecke. Da Vult ihm geraten, erst um 11 Uhr in den vollen Saal zu kommen: so holte er im gemächlichen Anputzen sich aus jedem Kleidungsstück wie aus Blumenkelchen feinen Traum-Honig. – Das Ankleiden gerade in der Zeit des Auskleidens und das allgemeine späte Wachen und Lärmen der Stadt so wie des Hauses färbte ihm die Nachtwelt mit romantischem Scheine, besonders der Punkt, daß er eine Rolle in diesem großen Fastnachtsspiele hatte. Wie anders klingt das Rollen der Wagen, wenn man weiß, man kommt ihnen nach, als wenn man es hört, mit der Nachtmütze vor dem Bett-Brett stehend! –

Da er aus dem Stübchen trat, bat er Gott, daß er es froh wieder finden möge; es war ihm wie einem ruhmdurstigen Helden, der in seine erste Schlacht auszieht. Mit häuslichem Gefühle, in der Doppelmaske des Bergknappen und Fuhrmanns gleichsam zu Hause zu sein und nur wie aus zwei Mansardenfenstern zu gucken, trug er sich wie eine Sänfte über die Gasse und konnte es kaum glauben, daß er so herrlich ungesehen und zweigehäusig mit allen Seelen-Rädern überall vorbeigehe, wie eine Uhr in einer Tasche. Durch einen Irrweg, der sein Leben verfolgte, trat er zuerst in das Punschzimmer ein, das er für den Tanzsaal hielt, worein Musik aus schicklicher Ferne schön-gedämpft eindringe. Ihn wunderte nichts so sehr, als daß er seine Bergkappe, einfahrend in die schimmernde Baumannshöhle voll Figuren, nicht abzog. Als er sich kühn aus der Maske mit den Augen ans Fenster legte, fand er umhersehend nicht ohne Verwunderung viele nackte Angesichter, mit der abgeschundenen Maske in der einen Hand, in der andern mit einem Glas. Das allgemeine Schöpfen aus dem Gesundbrunnen oder Ordensbecher rechnete er zu den Ballgesetzen und verlangte sogleich sein Glas und darauf – weil eine Admiralsmaske sein Flügelmann und Muster war – noch eines. Wina sah er nicht, auch keinen Schein von Vult. Eine Ritterin vom Orden der Sklavinnen der Tugend ging gewandt umher und sah ihm sehr in die Augenhöhlen hinein. Endlich faßte sie seine Hand, machte sie auf und zeichnete ein H darein; da er aber von dieser Fern- oder Naheschreibekunst nichts wußte, drückte er ihre Hand mäßig, anstatt solche zu beschreiben.

Endlich geriet er, da er das hereinströmende Nebenzimmer prüfen wollte, in den wahren schallenden brennenden Saal voll wallender Gestalten und Hüte im Zauberrauch hinaus. Welch ein gebärender Nordschein-Himmel voll widereinander fahrender zickzackiger Gestalten! Er wurde dichterisch erhoben, da er, wie bei einer auferstehenden Erdkugel am jüngsten Tage, Wilde, alte Ritter, Geistliche, Göttinnen, Mohren, Juden, Nonnen, Tyroler und Soldaten durcheinander sah. Er folgte lange einem Juden nach, der mit herausgeschnittenen Schuldforderungen aus dem Reichs-Anzeiger behangen war, und las ihn durch, dergleichen einen andern, welcher die Warnungstafeln des fürstlichen Gartens, an passende Gliedmaßen verteilt, umhatte. Von einer ungeheuren Perücke voll Papillotten, welche der Träger abwickelte und austeilte, nahm er auch seine an und fand nichts darin als einen gemeinen Lobspruch auf seine bezaubernden Augen.

Am meisten zog ihn und seine Bewunderung ein herumrutschender Riesenstiefel an, der sich selber anhatte und trug, bis ein altväterischer Schulmeister mit dem Bakel ihn so kopfschüttelnd ernst und zurechtweisend ansah, daß er ganz irre wurde und sich selber an sich und an seinem Fuhrmanns-Hemde nach einem Verstoße umsah. Als der Schulmann dieses merkte, winkte und rügte er noch heftiger, bis der Notar, der ihm erschrocken in die dräuenden Augen geblickt, sich in die Menge einsteckte. Es war ihm etwas Fürchterliches, in die dunkle unbekannte Augenhöhle wie in die offne Mündung eines Geschosses hineinzuschauen und lebendige Blicke eines Unbekannten zu empfangen.

Noch hatte er weder Vult noch Wina gesehen; und ihm wurde am Ende bange, ob er auch in diesem Meere sie wie Perlen oder Inseln finde.

Auf einmal stellte sich eine Jungfrau mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe vor ihn; aus dem Munde der Maske hing ein Zettel des Inhalts: »Ich bin die personifizierte Hoffnung oder Spes, die mit einem Blumenkranz auf dem Kopfe und einer Lilie in der rechten Hand abgebildet wird; mit dem linken Arm stützt sie sich auf einen Anker oder eine starke Säule. S. Damms Mythologie, neue Auflage von Levezow §. 454.« Walt, der anfangs in jeder Sache mit den dümmsten Gedanken geplagt war, wollte innerlich auf Wina raten, wäre die Gestalt nur feiner und weniger groß gewesen. Die Hoffnung drehte sich schnell um; eine verlarvte Schäferin kam und eine einfache Nonne mit einer Halbmaske und einem duftenden Aurikelstrauß. Die Schäferin nahm seine Hand und schrieb ein H hinein; er drückte die ihrige nach seiner Gewohnheit und schüttelte den Kopf, weil er glaubte, sie habe sich mit einem H unterzeichnen wollen. Plötzlich sah er die Halbmaske, nämlich das Halbgesicht der Nonne recht an, an der feinen, aber kecken Linie der Rosenlippen und am Kinn voll Entschiedenheit erkannte er plötzlich Wina, welche bloß aus dem Dunkel mit sanften Augen-Sternen blickte. Er war mit der Hand schon auf dem Wege nach der Bergkappe, bis er sie nahe daran wieder in Maskenfreiheit setzte. »O wie selig!« (sagt' er leise) »Und Sie sind die Mademoiselle Raphaela?« Beide nickten. »O was begehrt man denn noch in solcher geistertrunkenen Zeit, wenn man sich, verhüllt wie Geister ohne Körper, in elysischen Feldern wieder erkennt?«

Ein Läufer tanzte daher und nahm Raphaela zum Tanzen davon: »Glück auf, Herr Bergknappe!« sagt' er entfliegend, daß Walt den Elsasser erkannte. Jetzt stand er eine Sekunde allein neben der ruhigen Jungfrau – die Menge war einen Augenblick lang seine Maske – Neu, reizend drang aus der Halb-Larve wie aus der Blüten-Scheide einer gesenkten Knospe die halbe Rose und Lilie ihres Gesichtes hervor. – Wie ausländische Geister aus zwei fernen Weltabenden sahen sie einander hinter den dunkeln Larven an, gleichsam die Sterne in einer Sonnenfinsternis, und jede Seele sah die andre weit entfernt und wollte darum deutlicher sein.

Da aber Walt in dieser Stellung Miene machte, als wollte er einige Jubiläen dieser schönen Minuten feiern und erleben: so fragte ihn Wina, als Spes forschend die Sklavin der Tugend vorüberführte, ob er nie tanzte. Sogleich wurde er in den Tanz-Sturm geweht und half wehen, indem er tanzte wie die Römer, bei welchen nach Böttiger das mimische Tanzen in nichts bestand als in Bewegung der Hände und Arme. Mit den Füßen ging er feurig den Walzer bis zum Rast-Zeichen der Wage, wo der fliegende Schwarm hintereinander sich anlegte als Stand-Herde. Indes glaubt' er, er flöge hinter einem mit Sommervögeln fliegenden Sommer. Wie ein Jüngling die Hand eines berühmten großen Schriftstellers zum erstenmale berührt: so berührte er leise, wie Schmetterlingsflügel, wie Aurikeln-Puder, Winas Rücken und begab sich in die möglichste Entfernung, um ihr lebenatmendes Gesicht anzuschauen. Gibt es einen Ernte-Tanz, der die Ernte ist; gibt es ein Feuerrad der liebenden Entzückung: Walt, der Fuhrmann, hatte beide. Da er aber keinen Fuß bewegen konnte ohne die Zunge: so war der Tanzsaal nur sein größerer Rednerstuhl; und er schilderte ihr unter dem Tanz, »wie da sogar der Körper Musik werde – wie der Mensch fliege, und das Leben stehe – wie zwei Seelen die Menge verlieren und einsam wie Himmelskörper in einem Ätherraum um sich und um die Regel kreisen – wie nur Seelen tanzen sollten, die sich lieben, um in diesem Kunst-Schein harmonischer Bewegung die geistige abzuspiegeln«. Als sie standen und er die Redoute mit ihrem tanzenden Sturmlaufen übersah, so sagte er: »Wie erhaben sehen die Mäntel und großen Hüte der Männer aus, gleichsam die Felsenpartie neben der weiblichen Gartenpartie! Ein Ball en masque ist vielleicht das Höchste, was der spielenden Poesie das Leben nachzuspielen vermag. Wie vor dem Dichter alle Stände und Zeiten gleich sind und alles Äußere nur Kleid ist, alles Innere aber Lust und Klang: so dichten hier die Menschen sich selber und das Leben nach – die älteste Tracht und Sitte wandelt auferstanden neben junger – der fernste Wilde, der feinste wie der roheste Stand, das spottende Zerrbild, alles, was sich sonst nie berührt, selber die verschiedenen Jahreszeiten und Religionen, alles Feindliche und Freundliche wird in einen leichten, frohen Kreis gerundet, und der Kreis wird herrlich wie nach dem Sylbenmaß bewegt, nämlich in der Musik, diesem Lande der Seelen, wie die Masken das Land der Körper sind. – Nur ein Wesen steht ernst, unbedeckt und unverlarvt dort und regelt das heitere Spiel.« – Er meinte den Redoutenmeister, den er mit einem nackten kleinen Gesicht und Kopfe in einem Mantel ziemlich verdrüßlich Acht geben sah.

Wina antwortete leise und eilig: »Ihre Ansicht ist selber Dichtkunst. So mag wohl einem höhern Wesen die Geschichte des Menschengeschlechts nur als eine längere Ball-Verkleidung erscheinen.« – »Wir sind ein Feuerwerk,« versetzte Walt schnell, »das ein mächtiger Geist in verschiedenen Figuren abbrennt« und fuhr in seinen eckigen Walzer hinein. Je länger er ging, bis er stand, je mächtiger pries er die Frühlinge, die im Tanzflug ihm duftend begegneten. »O dürfte ich mich heute für die schönste Seele opfern, dann wär' ich die glücklichste«, sagt' er. Die Hoffnung (Spes) stand ihm überall zur Seite, wenn er sprach. Die Nonne Wina, eine sanfte Taube, noch dazu mit dem Ölblatt im Munde, bemerkte gar nicht, daß er ungestüm spreche, und schien sich aus Kühnheit über Mißdeutung fast so leicht wegzusetzen als er aus Unwissenheit.

Heute erschien sie ihm ganz vollendet, wiewohl er bisher jedes letztemal geglaubt hatte, er überschaue ihren ganzen weiten Wert; wie der Mond schon vorher, eh' er mit vollem Lichte über uns hängt, uns als eine vollendete Scheibe aufzugehen scheint.

Nach dem Ende des deutschen Tanzes ersuchte er sie – da ihm ihre Nachsicht allmählich zu einer Ehrenpforte seiner Kunst aufwuchs – gar um einen englischen, bloß damit er recht oft ihre Hand fassen und recht lange den guten Lippen und Augen gegenüberstehen könnte, ohne aufspringen zu müssen. Sie sagte leise: »Ja!« –


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