Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Die Haßlauer mußten lachen, ob sie gleich ihm glaubten; aber die Agentin strich sich mit innerer Hand so rot als einen Postwagen, dessen Stöße Herr Peter Neupeter am besten kannte, an und fragte die Töchter nach Tee. Das Kirwanentee-Kästchen war vergessen. Flitte war froh, sagte, er sitze auf nach dem Kästchen, hoffe es in fünf Minuten aus der Stadt herzureiten, und sollte sein Gaul fallen – d. h. der geborgte, denn sein Zutritt in allen Häusern war auch einer in allen Ställen –, und er denke sogar noch dem Herrn van der Harnisch eine bewährte Starbrille mitzubringen. Vult behandelte, glaubte Walt, das Anerbieten und das Männchen etwas zu stolz.

Wirklich kam Flitte nach 7 Minuten zurückgesprengt, ohne Starbrille – denn er hatte sie nur versprochen –, aber mit dem Neupeterischen Tee-Kästchen von Mahagony, dessen Deckel einen Spiegel mit der Tee-Doublette aufschlug.

Plötzlich fuhr Vult, als aus dem sogenannten Poetengange des Rosentals eine reiche rote Uniform mit rundem Hut heraustrat, auf den spazierenden Notarius los – tat kurzsichtig, als glaub' er ihn zu kennen – fragte ihn unter vielen Komplimenten leise, ob jener rote Bediente des Grafen von Klothar der bewußte sei – entschuldigte sich nach dem Kopfschütteln des bestürzten Notars laut mit seinem Kurzblicke, der jetzt Bekannte und Unbekannte durcheinanderwerfe, und setzte hinzu: »Verzeihen Sie einem Halbblinden, ich hielt Sie für den Herrn Waldherrn Pamsen aus Hamburg, meinen Intimen« – und ließ ihn im Bewußtsein einer Verlegenheit, deren Quelle der redliche Notar nicht in seiner Wahrhaftigkeit suchte, sondern in seinem Mangel an Reisen, die immer das Hölzerne aus den Menschen wegnehmen, wie die Versetzungen das Holzige aus den Kohlrüben.

Jetzt trat nach dem dienerischen Abendrote der Aurora, hinter welcher der Notar seine Lebens-Sonne finden wollte, wirklich der Reiter des Morgens im blauen Überrock, aber mit Federbusch und Ordensstern aus dem dichten Laubholze heraus samt Gesprächen mit einem fremden Herrn. Der Flötenspieler brauchte bloß auf einen brennenden Blick des Notars seinen kalten zu werfen, um fest zu wissen, daß der Morgen-Mann dem Feuer-Herzen des Bruders wieder erschiene, den er nur aus Ironie mit der Verwechslung des roten Bedienten mit dem blauen Herrn geneckt. Walt ging ihm entgegen; in der Nähe erschien diesem der Musengott seiner Gefühle noch länger, blühender, edler. Unwillkürlich nahm er den Hut ab; der vornehme Jüngling dankte stumm fragend und setzte sich ans erste beste Tischchen, ohne durch den sprungfertigen Rot-Rock etwas zu fodern. Der Notar ging auf und ab, um, wie er hoffte, vielleicht unter das Füllhorn der Reden zu kommen, das der schöne Jüngling über den Begleiter goß. »Wenn auch....« (fing der Jüngling an, und der Wind wehte das Hauptwort Bücher weg) »nicht gut oder schlecht machen, besser oder schlechter machen sie doch.« Wie rührend und nur aus dem Innersten in das Innerste dringend klang ihm diese Stimme, welche des schönen wehmütigen Flors um das Angesicht würdig war! – Darauf versetzte der andere Herr: »Die Dichtkunst führt ihre Inhaber zu keinem bestimmten menschlichen Charakter; wie Kunstpferde machen sie Küssen und Totstellen und Komplimentieren und andere fremde Künste nach; sind aber nicht die dauerhaftesten Pferde zum Marsch.« – Das Gespräch war offenbar im Poetengange aufgewachsen.

»Ich bin gar nicht in Abrede,« – versetzte der blaue Jüngling ruhig ohne alle Gestus, und Gottwalt ging immer schneller und öfter vorüber, um ihn zu hören –, »sondern vielmehr in der Meinung, daß jede, auch willkürliche Wissenschaft, dergleichen Theologie, Jurisprudenz, Wappenkunde und andere sind, eine ganz neue, aber feste Seite an den Menschen oder der Menschheit nicht nur zeige, auch wirklich hervorbringe. Aber desto besser! Der Staat macht den Menschen nur einseitig und folglich einförmig. Der Dichter sollte also, wenn er könnte, alle Wissenschaften, d.h. alle Einseitigkeiten in sich senden; alle sind dann Vielseitigkeit; denn er allein ist ja der einzige im Staat, der die Einseitigkeiten unter einen Gesichtspunkt zu fassen Ruf und Kräfte hat und sie höher verknüpfen und durch loses Schweben alles überblicken kann.«

»Ganz evident«, sagte der Fremde, »ist mir das nicht.« – »Ich will ein Beispiel geben«, versetzte der Graf Klothar. »Im ganzen mineralogischen, atomistischen oder toten Reiche der Krystallisation herrschet nur die gerade Linie, der scharfe Winkel, das Eck; hingegen im dynamischen Reiche von den Pflanzen bis zu den Menschen regiert der Zirkel, die Kugel, die Walze, die Schönheitswelle! Der Staat, Sir, und die positive Wissenschaft wollen nur, daß sein Arsenik, seine Salze, sein Demant, sein Uranmetall in platten Tafeln, Prismen, langrautigen Parallelepipedis usw. anschießen, um leichter eingemauert zu werden. Hingegen die organisierende Kraft, eben darum die isolierende, will das nicht, das ganze Wesen will kein Stück sein; es lebt von sich und von der ganzen Welt. So ist die Kunst; sie sucht die beweglichste und vollste Form und ist, wie sonst Gott, nur wie ein Zirkel oder ein Augapfel abzubilden.«

Aber der Notar zwang ihn aufzuhören. – Er hatte sich darüber Skrupel gemacht, daß er so im Auf- und Abschleichen die obwohl lauten Meinungen des edeln Jünglings heimlich weghorche; daher lehnt' er sich aus Gewissen an einen Baum und sah unter dem Hören dem Blaurock deutlich ins Gesicht, um ihm anzuzeigen, daß er aufpasse. Aber den Jüngling verdroß es, und er verließ den Tisch.

Herzlich wünschte der nachgehende Notar den Flötenisten herbei, um durch ihn mehr hinter den Donnergott zu kommen. Zum Glücke teilte und durchschritt der Graf einen bunten Menschen-Klumpen, der sich um ein Kunstwerk ansetzte. Es war ein knabenhohes und -langes Kauffahrteischiff, womit ein armer Kerl auf der Achse zu Lande ging, um mit diesem Weberschiffchen die Fäden seines hungrigen Lebens zu durchschießen und zusammenzuhalten. Als der Notar sah, daß der Jüngling sich ans Fahrzeug und Notruder des Menschen stellte, drang er ihm nach, um dicht neben ihm zu halten. Der Schiffspatron sang sein altes Lied von den Schiffsteilen, den Masten, Stengen, Reen, Segel- und Touw-Werk ab. »Das muß ihm hundslangweilig werden, es täglich wiederholen«, sagte der Herr zum Grafen.

»Es folgen sich«, versetzte dieser mit einigem Lehrtone, »in jeder Sache, die man täglich treibt, drei Perioden: in der ersten ist sie neu, in der nächsten alt und langweilig, in der dritten keines von beiden, sondern gewohnt.«

Hier kam Vult. Der Notar gab ihm durch Winke die entbehrliche Nachricht des Funds. »Aber, Patron,« sagte der Graf zum Schiffsherrn, »die Brassen der Fock-Ree müssen ja mitten von dem großen Stag an nach den Schinkel-Blocken laufen, dann sieben oder sechs Fuß tiefer nach dem großen Stag durch die Blocke und so weiter nach dem Verdeck. Und wo habt Ihr denn den Vor-Teckel, die Schoten des Vor-Mars-Segels, die Gy-Touwen des Bezaans-Segels und das Fall von dem Seyn?« – Hier ließ der Graf verachtend den Schiffer, der seinen Mangel durch Bewunderung fremder Kenntnis verkleistern wollte, in einer zweiten, aufrichtigern über eine Geld-Fracht stehen, dergleichen ihm sein Proviantschiff und Brotwagen noch nie aus den beiden Indien des Adels- und des Bürgerstandes zugefahren.

Walt – auch in einem süßen Erstaunen über die nautischen Einsichten bei so viel philosophischen – ließ den blauen stolzen Jüngling schwer durchpassieren und sich von ihm statt an die Brust doch recht an die Seite so lange drücken, daß der Blaurock ziemlich ernsthaft ihn ansah. Vult war verschwunden. Der Jüngling flog bald mit seinem Bedienten auf schönen Pferden davon. Aber der Notarius blieb als ein Seliger in diesem Josaphats-Tal zurück, ein geheimer stiller Bacchant des Herzens. »Das ist ja gerade der Mensch,« sagt' er heftig, »den du feurig wolltest, so jung, so blühend, so edel, so stolz – höchst wahrscheinlich ein Engländer, weil er Philosophie und Schiffsbau und Poesie wie drei Kronen trägt. Lieber Jüngling, wie kannst du nicht geliebt werden, wenn du es verstattest!«

Jetzt verschüttete die Abendsonne unter ihre Rosen das Tal. Die Musikanten schwiegen, von dem Spielteller das Silber speisend, der umgelaufen war. Die Menschen zogen nach Hause. Der Notarius ging noch eilig um vier leere Tische, woran holde Mädchen gesessen, bloß um die Freude einer solchen Tischnachbarschaft mitzunehmen. Er wurde nun im langsamen Strome ein Tropfen, aber ein rosenroter heller, der ein Abendrot und eine Sonne auffaßte und trug. »Bald«, sagt' er sich, als er die drei Stadttürme sah, an welchen das Abendgold herunterschmolz, »erfahr' ich von meinem Vult, wer er ist und wo – und dann wird mir ihn Gott wohl schenken.« Wie liebt' er alle Jünglinge auf dem Wege, bloß des blauen wegen! »Warum liebt man«, sagt' er zu sich, »nur Kinder, nicht Jünglinge, gleichsam als wären diese nicht eben so unschuldig?« – Ungemein gefiel ihm der Sonntag, worin jeder sich schon durch den Anzug poetisch fühlte. Die erhitzten Herren trugen Hüte in Händen und sprachen laut. Die Hunde liefen lustig und ohne scharfe Befehle. Ein Postzug Kinder hatte sich vor eine volle Kinderkutsche gespannt, und Pferde und Passagiere waren sehr gut angezogen. Ein Soldat mit dem Gewehr auf der Achsel führte sein Söhnchen nach Hause. Einer führte seinen Hund an seinem rotseidnen Halstuch. Viele Menschen gingen Hand in Hand, und Walt begriff nicht, wie manche Fußgänger solche Finger-Paare und Liebes-Ketten trennen konnten, um nur gerade zu gehen; denn er ging gern herum. Sehr erfreuet' es ihn, daß sogar gemeine Mägde etwas vom Jahrhundert hatten und ihre Schürzen so weit und griechisch in die Höhe banden, daß ein geringer Unterschied zwischen ihnen und den vornehmsten Herrschaften verblieb. Nahe um die Stadt unter dem ersten Tore rasete die Schuljugend, ja ein gedachtes Mädchen gab der herrischen Schildwache einen Blumenstrauß keck neben das Gewehr – und so schien dem Notar die ganze Welt so tief in die Abendröte geworfen, daß die Rosenwolken herrlich wie Blumen und Wogen in die Welt hineinschlugen.
 

Ende des ersten Bändchens


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