Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 58: Giftkuttel

Erinnerungen

Der Notarius erwartete am Morgen nichts Geringeres und Gewisseres als einen Bedienten außer Atem, der ihn eilig vor das Schreibepult des Generals bestellte. Nichts kam. Der Mittelmann glaubt, die Obermänner stehen darum auf den höhern Sprossen der Staatsleiter, um besser die Nachsteiger zu überschauen; indes er selber das Auge weniger auf den Kopf seines Nachsteigers als auf den Hintern seines Vorsteigers heftet; und so alle auf und ab. Die mittlern Stände haben den höhern keine andere Vergeßlichkeit schuldzugeben als die, welche die niedern wieder ihnen vorwerfen.

Die Dämmerung konnte Vult kaum erwarten, um ein Dämmerungsfalter zu werden und auszuflattern; Walt zählte ebenso stark darauf, um ein Dämmerungs-, ein Nacht- und ein Tagfalter zugleich zu sein, aber nur geistig und nur daheim.

Himmel! er wurd' es so sehr! Denn als Vult ganz spät und nicht in bester Laune nach Hause kam, fand er Walten hingegen darin, nämlich in bester – feurig schreitend – fast verjüngt, ja verkindlicht – so daß er ihn fragte: »Du hast, ich schwöre, heute Gesellschaft gehabt oder gesehen, und zwar die angenehmste, nur weiß ich nicht welche.« (Er meinte heimlich Raphaela.) »Oder hat der Magister Dyk gut geschrieben?«

»Ich erinnerte mich«, versetzte Walt, »den ganzen Abend fort, und zwar der Kindheit; denn sonst hatt' ich noch nichts.« – »Lehre mich diese Gedächtniskunst«, sagte Vult. – »Das Schulmeisterlein Wutz von J.P. macht' es wie ich, so wunderbar errät ein Dichter das Geheimste. Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Dir offenbar' ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z.B. Engel, ordentlich weniger selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht keinem Wesen irgendeine Kindheits- oder Vergißmeinnichts-Zeit mag abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur flüchtig hin?«

»Früh- Regen und alter Weiber Tänze und so weiter – nämlich junge Not und alte Lust und so weiter. Fall' ich noch in den Zeitpunkt deiner versus memoriales?« sagte Vult.

»Wahrlich, stets hob ich in Leipzig und hier nur Tage dazu heraus, wo du noch nicht mit dem Musikus entlaufen warst.«

»So erinnere dich deines heutigen Erinnerns wieder vor mir«, bat Vult; – »ich stehe dir mit neuen Zügen bei.«

»Ein neuer Zug aus der Kindheit ist ein goldnes Geschenk«, sagte Walt – »nur wirst du manches zu kindisch finden.« (»Kindisch bloß«, sagte Vult.) »Ich nahm heute zwei Tage, nahe am kürzesten und längsten.

Der erste Tag fiel in die Adventszeit. Schon dieser Name und der andere »Adventsvogel« umfliegt mich wie ein Lüftchen. Im Winter ist ein Dorf schön, man kann es mehr überschauen, weil man mehr darin beisammen bleibt. Nimm nur den Montag. Schon den ganzen Sonntag freuete ich mich auf die Schule am Montag. Jedes Kind mußte um 7 Uhr bei Sternenschein mit seinem Lichtchen kommen; ich und du hatten schön bemalte von Wachs. Vielleicht mit zu großem Stolze trug ich einen Quartband, einige Oktavbände und ein Sedez-Werkchen unter dem Arm.«

»Ich weiß,« sagte Vult, »du holtest der Mutter noch Semmel aus dem Wirtshause, als du schon den Markus und seinen Ochsen griechisch exponiertest.«

»Dann fing die schöne Welt des Singens und Lehrens in der süßen Schulstubenwärme an. Wir großen Schüler waren hoch über die kleinen erhoben; dafür hatten die Abc-Zwerge das Recht – und es war ihnen zu gönnen –, daß sie den Kandidaten laut anreden und ohne Anstand ein wenig aufstehen und herumgehen durften.

Wenn er nun entweder die Spezialkarte aufhing und wir am meisten froh waren, daß Haßlau und Elterlein und die umliegenden Dorfschaften daraufstanden – oder wenn er von den Sternen sprach und sie bevölkerte und ich voraussah, daß ich abends den Eltern und Knechten dasselbe erweisen würde – oder wenn er uns laut vorlesen hieß: –«

»Du weißt,« fiel Vult ein, »daß ich dann das Wort Sakrament, er mochte sagen, was er wollte, immer mit einem Akzent herlas, als ob ich fluchte, desgleichen Donnerwetter. Auch war ich der einzige, der ins laute gemeinschaftliche Abbeten eine Art 3/8 Takt zu bringen versuchte.«

»Ich hätte dem arbeitsamen Manne so gern Entzückungen gegeben, wenn ich sie gehabt hätte. Ich betete oft ein leises Vaterunser, damit Gott ihn einen Finken, wenn er hinter seinem Kloben lauerte, darauf fangen ließe; und du wirst dich erinnern, daß ich stets die Schlachtschüssel mit Fleisch (du aber nur den Suppentopf) zu ihm trug. Wie ich mich auf das nächste Wiedersehen in der Schule freuete!«

»Wer mich hart gegen den Schulmeister findet,« sagte Vult, »dem halt' ich bloß vor, daß mir der Schulmann einmal eine angerauchte Pfeife abpfändete und sie in derselben Schulstube öffentlich vor meiner Nase gar ausrauchte. Heißt dies exemplarischer Lebenswandel von Schulmeistern? Oder etwa dies, daß sie Fischchen-Fangen und Vögel-Stellen uns Scholaren sprichwörtlich verbieten, wie Fürsten die Wagspiele, sich aber selber erlauben? Darüber möcht' ich einmal Männer in öffentlichen Blättern hören.« –

»O die liebe erste Schulzeit! Mir war alles erwünscht, was gelehrt und geboten wurde, die kleinste Wissenschaft war ja ganz voll Neuigkeiten, indes ihr jetzt in Messen nur einige nachwachsen. Kam nun vollends der Pfarrer mit den großen Augenbraunen im Priesterornat und verdunkelte doch den Kandidaten, wie ein Kaiser oder Papst einen Landesregenten, den er besucht: wie süß-schauerlich! Wie groß fiel jeder Laut seiner Baßstimme! Wie wollte man das Höchste werden! Wie wurde jedes Wort unsers Schomakers dreifach besiegelt durch seines!

Ich glaube, man ist schon darum in der Kindheit glücklicher als im Alter, weil es in ihr leichter wird, einen großen Mann zu finden und zu wähnen; ein geglaubter großer Mensch ist doch der einzige Vorschmack des Himmels.«

»Insofern«, sagte Vult, »möcht' ich ein Kind sein, bloß um zu bewundern, weil man damit sich so gut kitzelt als andere. Ja, ich möchte als ein Fötus mit Spinnenarmen an die Welt treten, um die Wehmutter als eine Juno Ludovisi anzustaunen. Ein Floh findet leicht seinen Elefanten; ist man hingegen älter, so bewundert man am Ende keinen Hund mehr. Doch muß ich dir bekennen, daß ich schon damals unserem knurrenden Pfarrer Gelbköppel aus seiner Kragen-Glorie einige Strahlen ausrupfte. Ich hatte, wie gewöhnlich, ein Buch unter die Schultafel in der Absicht fallen lassen, hinunterzukriechen und drunten die Fruchtschnur von Hängfüßen am Bank-Galgen lächerlich zu finden: als ich auch Gelbköppels Wochen-Stiefel auf dem Boden antraf und durch den aufklaffenden Priesterrock die Hosen, die er bei dem Grummet-Aufladen angehabt, zu Gesicht bekam – weg war seine ganze oben daraufgepelzte Würde – Der Mensch, wenigstens der Apostel, sei aus einem Stück gekleidet, er sei kein halber Aposteltag, Walt!«

»Vult, bist du dergleichen nicht fast in mancher Bemerkung? – Nun kam 11 Uhr heran, wo wir beide auf den Turm zum Läuten und Uhr-Aufziehen gehen durften. Ich weiß noch gut, wie du dich oben auf dem Glockenstuhl an das Seil der ausschwankenden Glocke hingst, um geschwungen zu werden, obgleich viele dir sagten, sie werfe dich durch das Schalloch. Ich hätte selber hindurchfliegen mögen, wenn ich so hinaussah über das ganze kreuzweis gebahnte Dorf voll lärmender Dreschtennen und an die dunkle Bergstraße nach der Stadt und über den weiten Schnee-Glanz auf allen Hügeln und Wiesen und dabei den blauen Himmel darüber her! Doch damals war der Erde der Himmel nicht sehr nötig. – Hinter mir hatt' ich die ernsthafte Glocke mit ihrer eiskalten Zunge und mit ihrem Hammer, und ich dachte mir es schauerlich, wie sie einsam in der frostigen Mitternacht zu mir ins tiefe Haus und warme Bette hinabreden werde. Ihr Summen und Aussummen in dieser Nähe umfloß den Geist mit einem stürmenden Meere, und alle drei Zeiten des Lebens schienen darin untereinander zu wogen.«

»Bei Gott! Hier hast du recht, Walt. Nie hör' ich dieses Tonbrausen ohne Schauder und ohne den Gedanken, daß der Müller erwacht, sobald die rauschende Mühle still steht, unser Leib mit seiner Holz- und Wasser-Welt; indes ergötzt die Betrachtung schlecht für den Augenblick.«

»Nimm nicht dein ernstes Herz so wieder zurück, Bruder! Sollt' ich dein Gleichnis wieder mit einem beantworten, so würd' ich sagen, diese Stille sei die auf dem Gipfel des Gotthardsberges. Alles ist dort stumm, kein Vogel und kein Lüftchen zu hören, jener findet keinen Zweig, dieses kein Blatt; aber eine gewaltige Welt liegt unter dir, und der unendliche Himmel mit allen übrigen Welten umfängt dich rings. – Willst du jetzt weiter gehen in unserer Kindheit, oder lieber morgen?«


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