Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Jetzt, besonders jetzt. Der Kindheit werf' ich nichts vor als zuweilen – Eltern. Wir stiegen also beide die langen Turmtreppen herunter« –

– »und im elterlichen Hause wurden wir durch die reinlich-geordnete Mittags-Welt erfreuet an der Stelle der trüben Morgenstube; überall Sonnenschein und Aufordnung. Da aber der Vater in der Stadt war und also das Mittagsbrot schlechter und später: so ließ ich mir es bis nach der Schule aufheben, weil ich nicht zu spät in diese kommen wollte, und weil mir jetzt aus der Ferne durchs Fenster schon Kameraden und Lehrer wieder neu erschienen.

In der Schulstube grüßte man die unveränderten Bänke als neu, weil man selber verändert ist. Ein Schul-Nachmittag ist, glaub' ich, häuslicher, auch wegen der Aussicht, abends zu Hause und noch häuslicher zu bleiben. Ich freute mich auf das ungewöhnliche Allein-Essen und auf den Vater mit seinen Sachen aus der Stadt. Ein ganzer Wolkenhimmel von Schneeflocken wirbelte herunter, und wir Schüler sahen es gern, daß wir kaum mehr die kleine Bibel lesen konnten in der ohnehin dunkeln traulichen Schulstube.

Draußen nun sprang jeder in neu gefallnen Schnee sehr lustig mit den lange müßigen Gliedmaßen. Du warfst deine Bücher ins Haus und bliebst weg bis zum Gebetläuten; denn die Mutter erlaubte dir das Austoben am meisten in Absein des Vaters. Ich folgte dir selten. Der Himmel weiß, warum ich stets kindischer, ausgelassener, hüpfender, unbeholfen-eckiger war als du – ich machte meine Kinds- oder Narrenstreiche allein, du machtest deine als Befehlshaber fremder mit.«

»Ich war zum Geschäftsmann geboren, Walt!«

»Aber in der Vesper las ich lieber. Ich hatte erstlich meinen orbis pictus, der, wie eine Iliade, das Menschen-Treiben auseinanderblätterte. Ich hatte auf dem Gesimse auch viele Beschreibungen, teils vom Nordpol, teils von alter Norden-Zeit, z.B. die frühesten Kriege der Skandinavier usw., und je grimmig-kälter ich alles in den geographischen Büchern fand oder je wilder in den historischen: desto häuslicher und bequemer wurde mir. Noch kommt mir die altnordische Geschichte wie meine Kindheit vor, aber die griechische, indische, römische mehr wie eine Zukunft.

In der Dämmerung verflatterte das Schneegestöber, und aus dem reinen Himmel blitzte der Mond durch das Blumengebüsch der gefrierenden Fenster – Hell klang draußen in der strengen Luft das Abendläuten unter den aufgebäumten Rauchsäulen – Unsere Leute kamen Hände-reibend aus dem Garten, wo sie die Bäume und Bienenstöcke in Stroh eingebauet hatten – Die Hühner wurden in die Stube getrieben, weil sie im Rauche mehr Eier legen – Das Licht wurde gespart, weil man ängstlich auf den Vater harrete – Ich und du standen auf den Hand- oder Fußhaben der Wiege unserer sel. Schwester, und unter dem heftigsten Schaukeln hörten wir dem Wiegenlied von grünen Wäldern zu, und der kleinen Seele taten sich tauschimmernde Räume auf – Endlich schritt der geplagte Mann über den Steg, bereift und beladen, und eh' er noch den Quersack abgehoben, stand sein dickes Licht auf dem Tisch, kein dünnes. Welche herrliche Nachrichten, Gelder und Sachen bracht' er mit und seine eigne Freude!«

»Wer bezweifelt seine Entzückung weniger als ich, den er darin allemal ausprügelte, bloß weil ich auch mit entzückt sein wollte und dadurch, springend und tanzend, den Lärm erregte, den er in stiller Lust am meisten verfluchte; so wie ein Hund sich nie mehr kratzen muß, als wenn er freudig an seinem Herrn aufspringt.«

»Scherze nicht! Und bedenke, was er uns mitbrachte; ich weiß es aber nicht mehr – mir einen für mein Geld gekauften Bogen Konzeptpapier, wovon ich damals nicht denken konnte, daß so etwas Breites, Nettes nicht mehr koste als zwei Pfennige – für die Schwester ein Abc-Buch mit Gold-Buchstaben schon auf der äußern Deckel-Schale und mit frischen saubern Tier-Bildern im Vergleich gegen unsre abgegriffenen alten.«

»Schießpulver als Digestivpulver für das Schwein, wovon die wenigen Körnchen, die ich zusammenkehrte, mir bessere Feuerwerke auf einen Span bescherten als irgendeinem König ein dreißigjähriger Krieg.« –

»Das Beste war wohl der neue Kalender. Es war mir, als hielt' ich die Zukunft in der Hand, wie einen Baum voll Fruchtlage. Mit Lust überlas ich die Namen Lätare, Palmarum, Jubilate, Kantate, wobei mir mein wenig Latein gute Dienste tat. Die Epiphanias waren mir verdrüßlich, besonders zu viele; hingegen je mehrere Trinitatis-Sonntage fielen, desto länger grüne, dacht' ich, die freudenreiche Zeit. Lächerlich kommt es mir vor, daß, eben da ich hinten im Kalender die Haßlauer Postberichte las, die kaiserliche reitende Post im Dorfe ins Horn stieß und ich den guten Menschen bewunderte und bedauerte, der nun, laut dem Berichte, mitten im Winter allein nach ganz Pommern, Preußen, Polen und Rußland ritt; ein Irrtum, den ich erst in Leipzig fahren ließ. Wenn nun darauf der Kandidat Schomaker zum Essen kam und wir vom Vater manche Historien mit Vergnügen zum zehntenmal hörten – wenn du nach dem Essen auf einer Span-Geige aus gewichstem Zwirnfaden kratztest – und ich einen glimmenden Schleußen-Span zu einem Feuerrad umschwang – und ich und du und der lange Knecht, der mir damals, wie den Kindern vielleicht alle gewohnte Gesichter, schön vorkam, spielten und sangen: ›Ringe, ringe Reihe, 's sind der Kinder dreie, Sitzen auf dem Holderbusch, Schreien alle Musch, Musch, Musch! Setzt euch nieder! Es sitzt 'ne Frau im Ringelein, Mit sieben kleinen Kindern. Was essens gern? Fischelein. Was trinkens gern? Roten Wein. Setzt euch nieder!‹ – Innig erfreuet las ich neulich in Gräters Bragur das einfältige Kinderding – Ich muß aber meinen Satz ganz anders angefangen haben.« –

»Nunmehr ist er geschlossen. Das Leben fängt, wie das griechische Drama, mit Possen an. Beginn', eh' du erwachst, deinen versprochenen Sommertag.«

»Ich könnte ihn wohl von der Fasnacht anheben, wo der neu erstandene Frühling lauter Sonnenstrahlen in die Schulstube voll kleiner geputzter Tänzer streuet, so daß es in den Seelen früher blühte als in den Gärten. Schon der alte simple Vers: ›Zur Lichtmeß essen die Herrn am Tag‹, Zur Fasnacht tuns die Bauern auch nach' zog Abendröte und Blütenschatten um den Abendtisch. Gott, wie wehen noch die Namen Marientage, Salatzeit, Kirschenblüte, Rosenblüte die Brust voll Zauberduft! – So denk' ich mir auch die Jugend meines Vaters bloß als einen ununterbrochenen Sommer, besonders in der Fremde; so wie ich meinen Großvater und überhaupt die zurückliegende Zeit vor meiner Geburt immer jung und blühend sehe. Da gabs schöne Menschentage, sagt man sich. Wie frisch und hell springend, gleich Frühlingsbächen, kommen mir die alten Universitäten, Bologna und Padua, vor mit ihren ungemessenen Freiheiten, und ich wünschte mich oft in diese hinein!«

»Macht' ich weniger aus dir, so müßt' ich bei deinem Wunsche denken, es wäre damals, außer Hauspump, Buxen, Landesvater, auch Gassatim rumoren und Degen wetzen deine Sache gewesen, aber ich weiß gut, du wolltest zu allem nur ruhig sitzen und zusehen als Rector magnificus. – Allein gib nun deinen heutigen Sommertag!«

»Es war das heilige Dreifaltigkeitsfest, und zwar das jener Woche, worin du auf und davon gingest. Nur vorher lasse mich noch bemerken, daß mir deine erwähnten Studenten-Wörter teils neu klingen, teils roh. An diesem heiligen Feste nun, das mit Recht in die schönste Jahreszeit fällt, gingen, wenn du es nicht vergessen, unsere Eltern immer zum heiligen Abendmahl. Gerade an jenem Sonnabend – wie denn überhaupt an jedem Beichtsonnabend – bezeigten die lieben Eltern sich noch gütiger und gesprächiger gegen uns Kinder als sonst; Gott aber schenke ihnen in dieser Stunde die Freude, die mir jetzt in ihrem Angedenken das Herz durchwallt! Die Mutter ließ vieles im Stall durch Leute besorgen und betete aus dem schwarzen Kommunion-Büchlein. Ich stand hinter ihr und betete unbewußt mit herunter, bloß weil ich das Blatt umkehrte, wenn sie es herab hatte. Die Bauernstube war so rein und schmuck aufgeräumt für den Sonntag – wie am heiligen Christabend war es am Beichtabend – aber schöner und höher – dazu hing nun der reich-schwere Frühling herein, und der Blütengeruch zog durch das ganze Haus und jeden Dachziegel – Frühling und Frömmigkeit gehören gewiß recht füreinander – Ich sah nachher, als der Nachtwächter antrat, noch ein wenig aus dem Dachfenster, voll Düfte und Sterne war der Himmel über dem Dorfe – die Generalin ging so spät noch mit ihrem Kinde an der Hand auf dem Schloßwall spazieren, und das ganze Dorf wußte, daß sie morgen kommunizierte und ich und du die Kommunikantentüchlein dabei hielten – Wahrlich, ob ich gleich schon lateinisch sprechen konnte, die weißgekleidete Generalin kam mir als die Mutter Gottes vor, und das Kind als ihr Kind.«

»Hat denn die Generalin einen Sohn?«

Walt sagte verlegen: »Ich stellte mir nämlich ihre damalige Tochter so vor in der Ferne. Ich möchte jetzt noch vor Freude über die Wundernacht weinen, wenn du nicht lachtest....«

»So weine zum Henker! Wer lacht denn, Satan, wenn einmal ein Mensch die Aufrichtigkeit in Person ist?«

»Es erschien denn das heilige Trinitatis-Fest mit einem blauen Morgen voll Lerchen und Birkendüfte; und als ich aus dem Bodenfenster diese Bläue über das ganze Dorf ausgespannt erblickte, wurde mir nicht, wie sonst an schönen Tagen, beklommen, sondern fast wie jauchzend. Unten fand ich die Mutter, die sonst nur in die Nachmittagskirche ging, schon angeputzt, und den Vater im Gottes-Tischrock, wodurch sie mir, zumal da sie unser Sonntags-Warmbier nicht mittranken, sehr ehrwürdig erschienen. Den Vater liebt' ich ohnehin am Sonntag stärker, weil er bloß da rasiert war. Ich und du folgten ihnen in die Kirche; und ich weiß, wie darin die Heiligkeit meiner Eltern gleichsam in mich herüberzog unter der ganzen Predigt; eine fremde wird in einem blutsverwandten Herzen fast eine größere.«


 << zurück weiter >>